×

Zitiervorschlag

In: Ingeborg Becker-Textor: Kindergarten 2010. Traum - Vision - Realität. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 3. Aufl. 1995, S. 78-88

Alte und neue "Konzepte" - Methodenvielfalt

Ingeborg Becker-Textor

 

Der Kindergarten 2010 wird entstehen aus alten und neuen Konzepten und wird gekennzeichnet sein durch seine Methodenvielfalt. Er muss nicht neu erfunden werden, vielmehr muss er neu geordnet werden; er braucht andere Strukturen, andere Organisationsformen; Flexibilität und Orientierung am Leben von Kindern und Familien werden seine Pädagogik prägen.

Es lohnt sich, die pädagogische Praxis, die Ideen und Erziehungsvorstellungen früherer Pädagogen zu durchforsten. Wir finden dort alles, was wir für den neuen Kindergarten brauchen. Wurde alles vergessen? Die "alten" Pädagogen entwickelten ihre Pädagogik aus den Bedürfnissen der Zeit heraus und ermöglichten Kindern ein ganzheitliches Leben, Lernen und Erfahren. Ein Blick auf einige Vertreter soll "hungrig" machen, in ihren Schriften nach Impulsen für die Zukunft zu suchen. Der Kindergarten 2010 muss nämlich besser sein als unser heutiger Kindergarten.

Jean Paul (Friedrich Richter), 1763 bis 1825

In seinem Buch "Levana oder Erziehungslehre", das 1806 erschienen ist, wendet er sich vorrangig an die Mütter. Aber auch die öffentliche Erziehung erhält Impulse aus seinen Überlegungen. Er tritt insbesondere als Anwalt des Kindes auf und hebt ganz besonders die Bedeutung der frühen Kindheit für die Erziehung hervor. Besonderen Wert legt er auf das kindliche Spiel und den Frohsinn als Grundlage für eine gute Erziehung. Seiner Meinung nach kann nur der ein ganzer Mensch werden, der die Kindheit voll durchlebt hat.

"Was heiter und selig macht und erhält, ist bloß Tätigkeit. Die gewöhnlichen Spiele der Kinder sind - ungleich den unsrigen - nichts als die Äußerung ernster Tätigkeit, aber in den leichtesten Flügelkleidern... Schrieb nun ein Deutscher ein Werkchen über die Kinderspiele... würde er sie sehr scharf und mit Recht - düngt mich - nur in zwei Klassen teilen: Erstens in Spiele oder Anstrengungen der empfangenden, auffassenden, lernenden Kraft; zweitens in Spiele der handelnden, gestaltenden Kraft...

Doch müsste, glaub' ich, ein so wissenschaftlicher Mann noch eine dritte, schon angedeutete Spielklasse errichten, die nämlich, worin das Kind das Spiel nur spielt, nicht treibt, noch fühlt, nämlich die, wo es behaglich Gestalt und Ton nimmt und gibt - z.B. aus dem Fenster schauend, auf dem Grase liegt, die Amme und andere Kinder hört... Sind einmal Menschen für Menschen gemacht, so sind es folglich auch Kinder für Kinder, nur aber viel schöner. In den ersten Jahren sind Kinder einander mehr Ergänzungen der Phantasie über ein Spielding - zwei Phantasien spielen, wie zwei Flammen, neben- und ineinander verknüpft" (Jean Paul, 1963, S. 64ff).

Ideen für die Arbeit in einem Kindergarten 2010?

Friedrich Fröbel, 1782 bis 1852

Friedrich Fröbel, der nicht nur die Kindergartenpädagogik geschaffen und der Welt eine geniale, ganz umfassende Erziehungslehre gegeben hat, fordert den lebendigen, natürlichen Unterricht, der sich auf den ganzen Welt- und Lebenszusammenhang gründen soll. Freie Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung sollen Merkmal des "Unterrichts" sein, damit die urtümlich kindlichen Kräfte sich entfalten können. Wie Jean Paul betont er, dass nur der ganz Mensch werden kann, der zuvor seine Kindheit und Jugend mit all ihren Phasen voll durchlebt hat. 1852 schrieb Fröbel an seine Schülerin Emma unter anderem:

"...durch den Eintritt in den Kindergarten tritt das Kind in ein vielfach neues Lebensverhältnis, und dies soll von der Kindergärtnerin so sorgsam als sinnig betrachtet werden. Indem das Kind in den Kindergarten tritt, tritt es zuerst ins Verhältnis zu einer Mehrheit von Lebensgenossen und diesen einmal als einzelnes einer Vielheit gegenüber; zugleich wird es aber auch Glied dieses Ganzen, und wie es so von dem Ganzen Gewinn oder Vorteil hat, so hat es aber auch gegen dieses Ganze Verpflichtungen. Und hierin liegt zunächst das menschlich bildende des Kindergartens, was sich die Kindergärtnerin leicht klar zu Bewusstsein zu bringen hat, um das Kind selbst recht sorgsam in das neue Verhältnis einzuführen und solches für dasselbe Recht fruchtbar machen... Nehmen Sie noch die Einführung ins Leben selbst, einmal durch die Bewegungsspiele, dann durch die Pflege der Gärtchen und des Gartens der Kinder und das dadurch in dem Kinde geweckte und genährte persönliche Selbst- und Lebensgefühl und die mit der Steigerung derselben zugleich gegebene und geweckte Ahnung eines (väterlichen) Lebensgebers und des Gefühls einer Lebenspflege... (Friedrich Fröbel 1965, S. 155 ff).

Mit seinen Fröbelgaben schaffte er ein Lehr- und Beschäftigungsmaterial an, durch das der kindliche Geist seine Gestaltungskräfte üben, sein Gemüt und seine Erkenntnis bereichern sollte. Ball, Kugel, Würfel, Walze, kleine Würfel und flache Bauklötzchen, Legetäfelchen und -stäbchen, Flechtblätter und Faltarbeiten hielten Einzug in die Kindergärten. Genau an diesen einfachsten und urtümlichsten Formen sollten sich die Gestaltungskräfte des Kindes am besten entfalten können, da sie sie in ihrer Ganzheit ansprechen. Seine Forderung, dass aus jeder Mutter eine echte "Kindergärtnerin" werden soll, entspricht der heutigen Elternarbeit im Kindergarten mit dem Ziel, das Leben der Kinder im Kindergarten für Eltern fassbar, durchschaubar und verständlich zu machen und damit zur Stärkung der Erziehungskraft der Familien beizutragen. Wir brauchen also auch Fröbel'sches Gedankengut in einem Kindergarten der Zukunft.

Ellen Key, 1849 bis 1926

Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key will das Augenmerk wieder auf das Kind lenken. Ihr 1900 erschienenes Buch: "Das Jahrhundert des Kindes" erregte großes Aufsehen. Es wurde vor wenigen Jahren neu aufgelegt, was nicht zuletzt auch heißt, dass die Fachwelt die Bedeutung ihrer Gedanken erkannt hat. Einige ihrer für mich wichtigsten Aussagen und gleichsam auch Wegweiser für einen neu-strukturierten Kindergarten sind u.a.:

"Das Kind hat seine eigene unendliche Welt, um sich darin zurechtzufinden, sie zu erobern, sich hineinzuträumen - aber was erfährt es? Hindernisse, Einengungen, Zurechtweisungen den lieben langen Tag. Das Kind soll immer irgend etwas bleiben lassen, oder etwas anderes tun, etwas anderes finden, etwas anderes wollen, als was es tut oder findet oder will; immer wird es nach einer anderen Richtung geschleift, als nach der sein Sinn weist. Und all dies oft aus purer Zärtlichkeit, aus Wachsamkeit, aus dem Eifer zu richten, zu raten, zu helfen, das kleine Menschenmaterial zu einem vollkommenen Exemplar in der Modellserie 'Musterkinder', zuzuhauen und zu polieren... Der Erzieher will das Kind mit einem Schlage fertig und vollkommen haben; er zwingt ihm eine Ordnung, eine Selbstbeherrschung, eine Pflichttreue, eine Ehrlichkeit auf, die die Erwachsenen sich dann mit staunenswerter Geschwindigkeit abgewöhnen! Wenn es sich um Fehler der Kinder handelt, siebt man im Hause wie in der Schule Mücken, während man täglich Kindern die Kamele der Erwachsenen schlucken lässt. Ein Kind erziehen - das bedeutet, seine Seele in seinen Händen tragen, seinen Fuß auf einen schmalen Pfad setzen. Das bedeutet, sich niemals der Gefahr auszusetzen, im Blick des Kindes der Kälte zu begegnen, die uns ohne Worte sagt, dass das Kind uns unzureichend und unberechenbar findet; das bedeutet, demutsvoll einzusehen, wie der Möglichkeit, dem Kinde zu schaden, unzählige sind, der ihm zu nützen, wenige. Wie selten erinnert sich der Erzieher, dass das Kind schon im Alter von 4, 5 Jahren die Erwachsenen erforscht und durchschaut, mit einem wunderbaren Scharfsinn seine bewussten Wertungen anstellt, mit bebender Sensivität auf jeden Eindruck reagiert! Das leiseste Misstrauen, die geringste Unzartheit, die kleinste Ungerechtigkeit, der flüchtigste Spott können lebenslängliche Brandwunden in der fein besaiteten Seele des Kindes zurücklassen, während andererseits die unerwartete Freundlichkeit, das edle Entgegenkommen, der gerechte Zorn sich ebenso tief in diese Sinne einprägen, die man weich wie Wachs nennt, aber behandelt, als wären sie aus Ochsenleder!" (Ellen Key, 1992, S. 77 ff).

Ein Kommentar erübrigt sich. Vielleicht schaffen wir es, all diese Fehler in einem Kindergarten 2010 nicht mehr zu machen.

Maria Montessori, 1870 bis 1952

Auch sie gehört in die pädagogische Bewegung vom Kinde aus. Sie ist überzeugt, dass das Kind einen Bauplan der Seele in sich trägt und sich selbst zum Menschen emporarbeitet. Die Menschen in seiner Umwelt müssten nur seine Entwicklungsbedürfnisse wahrnehmen und erspüren und demgemäß die Umgebung vorbereiten. Nach ihrer Auffassung führt der Weg vom Chaos zur Ordnung und von den Sinnen zum Inneren. Aus diesem Grunde sind ihr Sinnesschulung - die Isolation der Sinne - und Konzentration ganz besonders wichtig. Der Erzieher muss ihrer Ansicht nach in den Hintergrund treten. Das Kind signalisiert, wenn es Hilfe braucht. Es soll und will seine Arbeit selbst bewältigen und verlangt vom Erzieher nur: "Hilf mir, es selbst zu tun." Der Erzieher darf also nicht - wie heute leider oft im Kindergarten, aber auch die Eltern daheim - zum Animateur für Kinder werden, die nicht mehr wissen, was sie tun sollen, da sie nie gelernt haben, die Anreize in ihrer Umwelt aufzugreifen und sich selbst zu betätigen.

"Die Gegenstände sind die Hauptsache und nicht der Unterricht der Lehrerinnen; da das Kind sie benutzt, ist es selbst das tiefe Wesen und nicht die Lehrerin. Die Lehrerin hat jedoch zahlreiche, nicht leichte Aufgaben: Ihre Mitarbeit ist keineswegs ausgeschaltet, doch sie wird vorsichtig, feinfühlig und vielfältig. Ihre Worte, ihre Energie, ihre Strenge sind nicht erforderlich, doch es bedarf einer Weisheit, die, dem einzelnen Fall oder den Bedürfnissen entsprechend, umsichtig ist bei der Beobachtung, beim Dienen, beim Herbeieilen oder beim Sichzurückziehen, beim Sprechen oder Schweigen... Die Lehrerin soll den Gebrauch des Materials erklären. Sie dient hauptsächlich als Mittler zwischen dem Material (den Gegenständen) und den Kindern. Das ist eine einfache, bescheidene und doch sehr viel diffizilere Aufgabe... Um das Material zu kennen, darf sich die Lehrerin nicht damit begnügen, es gemäß Anleitung aus dem Buch anzusehen, zu untersuchen oder seinen Gebrauch durch die Vorführung zu erlernen. Sie muss sich lange darin üben, umso zu versuchen, durch Erfahrung die Schwierigkeiten oder das Interesse, das jedes Material bieten kann, abzuschätzen und die Eindrücke, die es dem Kind vermitteln kann, wenn auch unvollkommen, zu interpretieren. Hat dann die Lehrerin die erforderliche Geduld, so lange die 'Übungen zu wiederholen' wie ein Kind, dann kann sie an sich selbst die Energie und die Ausdauer ermessen, zu denen das Kind in einem bestimmten Alter fähig ist... Schließlich 'wacht' die Lehrerin darüber, dass ein in seiner Arbeit vertieftes Kind nicht durch ein anderes gestört wird. Dieses Amt eines 'Schutzengels' der Wesen, die sich auf das Bemühen konzentrieren, das sie erhöhen soll, gehört zu den erhabensten Aufgaben der Lehrerinnen" (Maria Montessori, 1969, S. 167 ff).

Solche hier beschriebenen Erzieher (Lehrer) werden wir im Kindergarten 2010 brauchen. Erzieher, die dem Kind wieder kindliche Lebens- und Erfahrungsräume eröffnen und die die Kindertagesstätte zu einer Stätte werden lassen, in der das Kind im Zentrum steht - nicht das überbehütete Kind, sondern das selbsttätige Kind. Nehmen wir also auch Gedanken aus der Montessori-Pädagogik mit in unsere neuen Kindergartenkonzepte. Übrigens, der alleinige Einsatz des Montessori-Materials führt noch lange nicht zu den Grundprinzipien der Montessori-Pädagogik.

Rosa Agazzi, 1866 bis 1951, und Carolina Agazzi, 1870 bis 1945

Die von den Schwestern vertretene Kleinkindpädagogik knüpfte im Elternhaus an und wollte dieses in seiner Erziehungsarbeit unterstützen. Rosa Agazzi vertritt dabei die Methodenfreiheit und will Kindern das Leben lehren in einer sich verändernden Gesellschaft. Sie gab den Kindern Dinge zum Handeln, und aus den Handlungen sollten Gewohnheiten für das Leben werden. Alle Tätigkeiten werden von den Kindern frei gewählt. Die Erzieherin bleibt in der Distanz, beobachtet, lenkt, wo es notwendig ist, oder stellt Angebote zur Verfügung und begleitet in natürlicher Bereitschaft das Tun der Kinder. Die Konzeption der Schwestern Agazzi hat zwei Schwerpunkte:

  • Das Spiel als freie und kindgemäße Aktivität,
  • und die Ordnung, die alles Leben durchdringt.

Ihre Methode breitete sich nur in Italien aus, überzeugte jedoch durch Natürlichkeit und Einfachheit. Alle Tätigkeiten der Kinder, die selbst diese Tiefen ergreifen, definierte sie als Spiel. Die Kinder spielen, proben, üben so lange, bis sie zu einem befriedigenden Ende gekommen sind. Die Erziehung begleitet und hilft, wenn notwendig. Da die Schwestern Agazzi von altersgemischten Gruppen ausgehen, ist eine ihrer wichtigsten Prinzipien, dass die Kinder der verschiedenen Altersstufen voneinander lernen. Die Kinder brauchen Freiheit, damit sie aktiv worden können und spontan mit situativen Ansätzen umgehen lernen. Ordnung hat einen hohen Stellenwert und ersetzt Disziplin. In ihrem Buch "Guida per le educatrici dell' infanzia" beschreibt Rosa Agazzi die Ordnung als Bildung einer uneingeschränkten Freiheit innerhalb einer selbstgeordneten Freiheit, die von den Kindern auch selbst geschaffen wird. Die Umwelt des Kindes wird einbezogen in die Pädagogik. Die Erfahrungswelt der Kinder wird angereichert und ergänzt.

Ein wichtiges Mittel zur Erziehung ist das "didaktische Museum", für das die Kinder selbst Dinge ihres Interesses mitbringen und die dann für das kindliche Lernen erschlossen werden. Sie verwendete ganz gewöhnliche Alltagsmaterialien - all das, was für Kinder besonders reizvoll und interessant war. Kein Ding ist nach Auffassung der Schwestern Agazzi unnütz, wenn man weiß, daraus einen Nutzen zu ziehen. So gehören zu ihrem Konzept richtige Sammlungen, eben das didaktische Museum, lebendig durch wechselnde Inhalte. Von der Erzieherin wird allerdings eine gründliche Kenntnis der Materialien erwartet. Erziehen heißt für Agazzi, leben lassen und zum Leben erwecken, gelehrt wird durch Erziehung - in großer Zuneigung zum Kind.

Janusz Korczak, 1878 bis 1942

Janusz Korczak studierte ursprünglich Medizin und war Militärarzt im russisch-japanischen Krieg, später Arzt in Warschauer Kinderkrankenhäusern. In seiner Freizeit arbeitete er als Erzieher in Ferienkolonien für Kinder, bis er die Leitung eines Waisenhauses übernahm. Mit 200 jüdischen Kindern starb er 1942 im Vernichtungslager Treblinka. Uns ist er heute als großer Pädagoge bekannt durch seine Vielfalt von Veröffentlichungen. Immer steht das Kind im Mittelpunkt seiner Gedanken. Auch er versteht sich als ein Anwalt der Kinder. Er gibt aber in seinen Ausführungen den Erziehern viele Hinweise für einen guten Erziehungsalltag. So endet eine seiner Erzählungen - sie trägt den Titel "Wer kann Erzieher werden?" - mit dem Satz: "Alle Tränen sind salzig, wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, kann sie nicht erziehen."

Korczak verweist auf die Erziehung des Erziehers durch das Kind. Der Erwachsene muss nur gut beobachten, die Reaktionen der Kinder ernst nehmen. Dann kann er viel lernen für die Gestaltung seines Erziehungsalltages.

"Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur; indem er es liest, reift er. Man darf das Kind nicht geringschätzen. Es weiß mehr über sich selbst, als ich über das Kind. Es befasst sich mit sich selber in allen Stunden des Wachseins. Ich kann es nur erraten" (Korczak, 1979, S. 120).

Erinnert dies nicht an Aussagen von Maria Montessori, wenn sie vom neuen Lehrer, vom neuen Erzieher spricht, der sich zurücknehmen muss und das Kind aktiv sein lässt - aber gut beobachtet? Wieder ein Impuls für die Erziehung heute und morgen.

Situationsansatz

Viele Namen wären hier zu nennen, wenn wir alle jene Pädagogen aufzählen wollten, die durch ihr Gedankengut und ihre Anstöße zur Entstehung der situativen Pädagogik beigetragen und den Begriff "Situationsansatz" geprägt haben. Durch die Arbeit nach dem Situationsansatz sollen die Kinder befähigt werden, Situationen zu bewältigen und durch das Erfahrungslernen daraus mögliche Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Kinder lernen in Situationen für zukünftige Situationen. Für die "Zukunft lernen" wäre aber zu kurz gefasst, da erst eine (nicht) bewältigte Situation die notwendige Kompetenz oder Basis für zukünftige Situationen liefert. Eine situative Pädagogik geht immer von der Situation aus, in der sich Kinder gegenwärtig befinden oder in die sie in nächster Zukunft hineinkommen werden. Jede Situation hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Genau hier liegt die Schwierigkeit zum rechten Verständnis des Situationsansatzes und gleichzeitig der Schritte für die Vorgehensweise:

  • Analyse von Situationsanlässen,
  • Überlegungen und pädagogische Zielsetzungen (Bestimmen von Zielen, die erreicht werden sollen),
  • Planung und Durchführung von Projekten auf der Basis von analysierten Situationsanlässen,
  • bis hin zur Bereitstellung notwendiger und ergänzender Materialien, die dem jeweiligen Thema entsprechen bzw. dazu beitragen, in Themen tiefer einzusteigen oder damit zu experimentieren.

Leider sind Erzieher oft noch der Meinung, dass sie warten müssten, dann käme die Situation, Vorbereitung würde sich erübrigen. Oder sie vertreten die Meinung, dass Situationen ganz besondere Begebenheiten (aus der Sicht der Erwachsenen) sein müssten. Situative Anlässe ergeben sich jedoch überwiegend im Alltag und sind aktuelle, lebensgeschichtliche Ereignisse, lokale Begebenheiten oder jahreszeitlich bedingte Situationen. Das spannendste am Situationsansatz ist, dass er weit über den traditionellen Alltag des Kindergartens hinausreicht und damit über die von der Erzieherin geplanten "klassischen Kinderbeschäftigungen" hinausgeht. So trägt er auch dazu bei, die Arbeit im herkömmlichen Kindergarten aufzubrechen. Kontakte mit Menschen außerhalb der Struktur Kindergarten gewinnen an Bedeutung, Gemeinwesenorientierung wird zu einer Selbstverständlichkeit. Der Situationsansatz braucht auch eine Art "neuen Erzieher", dem es gelingt, den Kindergartenalltag neu zu organisieren und zu koordinieren. Erzieher und für den Kindergarten Verantwortliche, aber besonders auch die Ausbildung, müssen umdenken lernen.

Lebensweltbezogenheit

Lebensweltbezogenheit ist noch eine Erweiterung des Situationsansatzes, bzw. dieser Ansatz macht deutlich, dass die reale Welt, in der das Kind lebt, in die pädagogischen Überlegungen einbezogen werden muss. So wird und muss jeder Kindergarten anders arbeiten. Jede Einrichtung liegt an einem anderen Ort, hat andere Eltern, Kinder, Erzieher und lebt von unterschiedlichen Kontakten. Die Möglichkeiten, die die Lebenswelt oder das Lebensumfeld eröffnen, werden in die Alltagsgestaltung einbezogen. Dazu gehören der Besuch der Eltern an ihrem Arbeitsplatz, die Benutzung der zur Verfügung stehenden öffentlichen Verkehrsmittel ebenso wie die Situation alleinerziehender oder berufstätiger Eltern. Die Lebensrealitäten finden Eingang in den Kindergarten, werden kindgemäß in die Arbeit einbezogen, schaffen dadurch die Möglichkeit, das Kind dort abzuholen, wo es steht.

Vielfalt der Integration

Integration ist ein Schlagwort geworden, nicht zuletzt durch die bundesweit durchgeführten Modellversuche der gemeinsamen Betreuung behinderter und nicht behinderter Kinder. Aber Integration ist viel mehr. Lateinisch 'integratio' heißt die Wiederherstellung eines Ganzen. Integration im weitesten Sinne ist demnach - bezogen auf Kinder - die gelungene Förderung des harmonischen Zusammenlebens von ganz verschiedenen Kindern, von Menschen mit ganz verschiedenen Bedürfnissen. Alle Kinder einer Kindergruppe sollen sich wohlfühlen, glücklich sein, ganz gleich, ob sie behindert oder nicht behindert, ausländischer Herkunft sind, aus so genannten Randgruppenfamilien kommen, super begabt oder weniger begabt sind, still, zurückgezogen oder temperamentvoll sind. Eine integrationsfördernde Atmosphäre zu schaffen, ist Aufgabe einer Kindertagesstätte. Dies bedeutet ein Loslassen von alten Prinzipien, eine Erneuerung und Aktualisierung der Kindergartenarbeit. Spezialangebote für ausländische Kinder oder Kinder mit Behinderungen sind nicht ausreichend. Der Umgang und das Leben miteinander muss "normal" werden. In ein gemeinsames Spiel vertieft spielen mangelnde Sprachkenntnisse oder eine andere Hautfarbe keine Rolle mehr.

Wie kann eine solche Vielfalt von Integration gelingen? Braucht dieser Anspruch nicht wirklich ausgewogener, ganzheitlicher Konzepte, lebensweltbezogen und situativ? Viele unserer Bücher zur Kindergartenpädagogik bedürfen unter diesen Gesichtspunkten einer gründlichen Überarbeitung, ebenso Ausbildungsinhalte und Lehrbücher. Es reicht nicht, nur ein paar anderssprachige Kinderlieder zu kennen. Wichtig ist für die Erzieherin die Auseinandersetzung mit den anderen Kulturkreisen, Religionen, Werten, familiären Bindungen, mit dem Fühlen und Denken von behinderten Kindern, mit den anderen Kommunikationsmustern usw.

Erzieher steigen aus und empfinden die Kindergartenarbeit als Überforderung. Eben auch, weil ihnen dieser vielfältige Integrationsansatz in der Praxis nicht gelingt. Die Arbeit muss durch den Anspruch der Integration ganz anders gewichtet und strukturiert werden. Es müssen weniger unsinnige Bastelarbeiten den Alltag füllen, als vielmehr Leben. Ein Kindergarten 2010 wird mit Leben erfüllt sein, viel Raum bieten für die unterschiedlichen Bedürfnisse. Es wird viel Druck von Erziehern genommen werden, wenn die Bereitschaft zur Umstrukturierung wächst. Bei Gesprächen mit Erziehern hört man immer wieder: "Noch mehr Aufgaben, was sollen wir denn noch alles tun?" Keine Erzieherin fragt sich: "Warum tue ich das immer noch? Ist es nicht schon längst überflüssig?" Hier beginnt die Umstrukturierung und hier beginnt auch die Integration der neuen Situationen im Kindergartenalltag. Durch das Loslassen von längst Überflüssigem entstehen neue Freiräume.

Altersstrukturierung

Die Kindergartengesetze sprechen von altersgemischten Gruppen, das heißt, in der Regel Kinder ab dem dritten Lebensjahr bis zum Eintritt in die Schule. Noch längst nicht überall wird dies realisiert. Altersgleiche Gruppeneinteilung gehört hier und da immer noch zum Alltag. Erzieher glauben, dass es einfacher sei, Eltern glauben, dass ihre Kinder so besser gefördert werden, und Träger, dass für die Dreijährigen gutes Fachpersonal gar nicht so wichtig sei. Es gibt sogar mancherorts die Besserstellung von Erzieherinnen - höhere finanzielle Eingruppierung - wenn sie täglich die Fünfjährigen besonders fördern - 20 Minuten aus der Gruppe nehmen und "drillen". Daneben sprechen wir von altersübergreifenden Gruppen für Kinder von einem bis 15 Jahren. Wie geht dies alles zusammen?

Das Wort "Kinderhaus" ist vielerorts zu einem modernen Schlagwort und gleichzeitig zu einem Reizwort geworden. Es gibt Erwachsene, die würden am liebsten alle Kindergärten auflösen und in Kinderhäuser mit altersübergreifenden Familiengruppen umwandeln. Verantwortliche Entscheidungsträger glauben sogar, dass man dazu kein besonderes Raumprogramm und auch nicht mehr Personal bräuchte. Sie sprechen von Übertragbarkeit auf Regelgruppen. Letzteres hieße dann sogar, dass man von 15er Gruppen auf 25er Gruppen umrüsten könnte?! Wer neue Konzepte realisieren will, muss auch den Mut haben, die Rahmenbedingungen, wie die Gruppenstrukturierung, in Frage zu stellen. Er muss aber gleichzeitig auch bereit sein, an der Schaffung neuer Rahmenbedingungen mitzuwirken. Wir sprechen bei altersübergreifenden Gruppen z.B. vom "Haus der Familie", vom Kinderhaus, vom Haus für Kinder und Familien. Alles sehr gute, aktuelle und pädagogisch sinnvolle Ansätze. Aber welche Räume brauchen wir dafür, welche Raumausstattung, welche Mitarbeiter, welche Materialien? Es wird zu schnell Etikettenschwindel betrieben. Das Schild Kindergarten wird ausgetauscht, aber deshalb ist die Einrichtung noch lange kein Kinderhaus.

Mit Entsetzen muss man feststellen, dass viele Gremien davor zurückschrecken, jahrzehntelange Traditionen auch nur in einigen Punkten einmal in Frage zu stellen. Kritisch reflektieren heißt aber nicht, dass alles in der Vergangenheit Praktizierte für schlecht erklärt werden muss. Vielmehr gilt es doch nur zu überprüfen, ob es heute noch Gültigkeit hat und was richtungsweisend für die Zukunft ist. Das Sich-Trennen von Dingen fällt jedem Menschen schwer, doch ist es unverzichtbar. So werden wir den Kindergarten 2010 nur erreichen, wenn wir Mut zu neuen Strukturen und Inhalten haben. Dann wird es z.B. altersübergreifende Gruppen geben, in denen Fachkräfte und Laien zusammenarbeiten und ähnliches.

Es muss wiederholt werden: Die Aufnahme von Kindern zwischen 0 und 15 Jahren macht noch lange nicht ein Kinderhaus aus und erfüllt damit die qualitativen Bedingungen, die dieses braucht.

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de