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Zitiervorschlag

Kindeswohlgefährdung - richtiges Verhalten bei Verdacht auf Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch

Martin R. Textor

 

Viele Personen sind Erzieher/innen geworden, weil sie sich gerne mit Kleinkindern beschäftigen. Sie haben festgestellt, dass sie Kleinkinder lieb haben und gut mit ihnen zurechtkommen. So haben sie deren Erziehung zu ihrer Berufung bzw. zu ihrem Beruf gemacht. Sicherlich war ihnen zu Beginn ihrer Ausbildung bewusst, dass sie auch mit den Eltern der Kinder zu tun haben werden. Aber erst während der ersten Praxisjahre werden sie feststellen, dass die Gesprächsführung mit vielen Eltern nicht einfach ist, dass eine Besprechung über die Verhaltensauffälligkeiten eines Kleinkindes leicht zu einem Streit ausarten kann - und dass sie auch mit so "schrecklichen Dingen" wie Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch konfrontiert werden.

Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes werden zwischen 300.000 und 400.000 Kinder in Deutschland misshandelt und/oder sexuell missbraucht. In den meisten Fällen ist ein Familienmitglied der Täter bzw. die Täterin.

Für Erzieher/innen ist es oft schwierig, sich vorzustellen, dass dieses harte Schicksal auch Kleinkinder treffen kann. Das ist aber der Fall, und so gilt es, auf entsprechende Anzeichen zu achten. Dazu gehören beispielsweise:

  1. körperliche Schädigungen wie Blutergüsse, Quetschungen, Striemen, Platzwunden, Knochenbrüche, Verbrennungen, Verbrühungen, Verletzungen im Genitalbereich, Bauch- und Unterleibsschmerzen usw.
  2. psychische Auffälligkeiten wie Angst, übermäßiges Schuldgefühl (bis hin zur Selbstbestrafung), Kontaktstörungen (z.B. Distanzlosigkeit oder Abkapselung), Depressivität usw.
  3. Bei sexuellem Missbrauch kommen Auffälligkeiten wie die intensive Beschäftigung mit den eigenen Geschlechtsteilen oder denen anderer Kinder, nicht altersgemäße sexuelle Spiele (z.B. mit Puppen), häufiges Sichausziehen sowie Zeichnungen und Erzählungen hinzu, die sich auf das Sexualverhalten (Erwachsener) beziehen.

Diese Auflistung macht deutlich, dass eine eindeutige "Diagnose" von Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch für Erzieher/innen sehr schwierig ist. Zum einen sind Kleinkinder noch ungeschickt oder können viele Gefahren noch nicht richtig einschätzen, sodass sie oft verwundet sind. Zum anderen sind "Doktorspiele" oder das Interesse an Unterschieden zwischen den Geschlechtern durchaus "normal" für Kleinkinder, zumal diese auch durch die Medien mit Sexualität konfrontiert werden. Deshalb empfiehlt Hans Dusolt (2001): "Aufgrund der möglichen weit reichenden Konsequenzen für das Opfer (Zusammenbruch des familiären Systems) und den Täter (Strafbarkeit) sollte sich der Nichtspezialist auf die Äußerung eines Verdachts auf sexuellen Missbrauch beschränken und Schritte zur fachgerechten diagnostischen Abklärung einleiten" (S. 100). Ähnliches gilt auch für Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.

Aber wem gegenüber soll nun der Verdacht geäußert werden? Zunächst einmal empfiehlt es sich, im Team über das jeweilige Kind zu sprechen und zu klären, ob auch die Kolleg/innen die vorgenannten Auffälligkeiten bemerkt haben. Ist dies nicht der Fall, sollte das Kind von Kolleg/innen systematisch beobachtet werden. Bestätigt sich der Verdacht, sollten die Eltern nur dann direkt angesprochen werden, wenn das jeweilige Kind von sich aus den sexuellen Missbrauch oder die Misshandlung angesprochen und als Täter/in eine Person außerhalb der Familie benannt hat. Die Erzieherin berichtet den Eltern von den eigenen Beobachtungen und den Aussagen des Kindes. Dann erkundigt sie sich, ob die Eltern von dem Vorfall bzw. den Vorfällen wissen und - falls ja - was sie bereits unternommen haben. Ansonsten bespricht sie mit ihnen, wie sie durch die Zusammenarbeit mit den zuständigen psychosozialen Diensten und Behörden einen effektiven Schutz des Kindes sicherstellen und seine psychischen Belastungen mildern können.

Besteht jedoch der Verdacht, dass ein Elternteil, ein Stiefelternteil oder ein anderes Familienmitglied der Täter bzw. die Täterin ist, ist ein von einer Nichtspezialistin - also der Erzieherin - geführtes Elterngespräch mit der Gefahr verbunden, dass der Täter bzw. die Täterin das Geheimhaltungsverbot gegenüber dem Kind verschärft und der anderen Elternteil ihn aus Angst vor einem Skandal oder vor dem Auseinanderbrechen der Familie deckt. Deshalb ist hier so früh wie möglich die Kooperation mit den zuständigen psychosozialen Diensten und Behörden zu suchen.

Grundlage für ein rechtlich und fachlich richtiges Verhalten bei Kindeswohlgefährdung ist der zum 01.10.2005 in Kraft getretene § 8a SGB VIII. So ist durch "Vereinbarungen mit den Trägern und Einrichtungen, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ... sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag ... in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen" (§ 8a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).

Was ist damit gemeint? Eine Erklärung findet man beispielsweise in Brandenburg in den "Empfehlungen zum Umgang und zur Zusammenarbeit bei Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung sowie bei entsprechenden Verdachtsfällen", die am 07.06.2006 von den zuständigen Ministerien, dem Landkreistag sowie dem Städte- und Gemeindebund verabschiedet wurden. Hier wird u.a. betont, dass der Schutz der Kinder vor Misshandlung und Vernachlässigung eine wichtige Aufgabe der Kindertageseinrichtungen sei und dass Erzieher/innen die so genannten "Grenzsteine der Entwicklung" auch als Frühwarnsystem für entsprechende Risiken einsetzen sollen (siehe https://mbjs.brandenburg.de/media_fast/4113/Sonderdruck_Grenzsteine.pdf sowie https://mbjs.brandenburg.de/media_fast/4113/Grenzsteine_Fassung2009_Tabellen.pdf).

Im Falle eines Verdachts sollte dieser mit dem Team und der Kita-Leitung besprochen werden; die Verdachtsmomente sind zu dokumentieren. Dann soll zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine erfahrene Fachkraft hinzugezogen werden, wobei in Vereinbarungen mit dem Jugendamt vorab festzulegen ist, wer diese Funktion übernimmt (§ 8a Abs. 2 SGB VIII). Beispielsweise kann eine Fachkraft des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes, ein Mitarbeiter einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle oder eine einrichtungsübergreifende pädagogische Leitungskraft im Bereich der Hilfen zur Erziehung damit beauftragt werden.

In den "Empfehlungen" heißt es dann: "Da in der Regel weitere Handlungsschritte erforderlich sind, sollte das Jugendamt möglichst frühzeitig in die Vorgehensweise einbezogen werden,... Auch an die Einbeziehung des Hausarztes, Kinderarztes oder im Akutfall der Kinderklinik soll ... gedacht und mit ihnen das Gespräch gesucht werden. Im Bedarfsfall kann auch das Gesundheitsamt zur eventuellen Beweissicherung von Verletzungsspuren oder zur Feststellung von Entwicklungsrückständen oder Vernachlässigungssymptomen eingeschaltet werden. ... Es ist auch möglich, sich im Zusammenhang mit der Beweissicherung an das Jugendamt zu wenden. In den Fällen, in denen Gespräche mit den Eltern und Hausbesuche nicht oder nicht ausreichend erfolgreich sind, ist das Jugendamt zu informieren und bei akuter Gefahr, der durch das Jugendamt nicht abgeholfen wird oder werden kann, je nach Gefährdungssituation und -grad auch die Polizei. Wichtig dabei ist es, die beobachteten Tatbestände genau festzuhalten. Sofern keine Abhilfe geschaffen wird und die Gefährdungssituation für die Kinder und Jugendlichen fortbesteht, können die Einrichtungen der Jugendhilfe auch selbst das Familiengericht anrufen, das dann vom Jugendamt durch Sachaufklärung unterstützt wird und in eigener Aufgabenwahrnehmung den Schutz des Kindes durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten hat" (S. 13).

Für die hier skizzierte Vorgehensweise ist jedoch weitgehend die einzuschaltende erfahrene Fachkraft verantwortlich; von der Erzieherin selbst wird keine besondere Einzelfallhilfe erwartet. Laut § 8a SGB VIII kommt die Hauptverantwortung bei Fällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch dem Jugendamt zu - und hier immer einem Team von Mitarbeiter/innen. Auch ist davon auszugehen, dass in den kommenden Jahren in Arbeitsgemeinschaften mit Mitgliedern aus ganz verschiedenen Einrichtungen und Behörden detaillierte Handreichungen (für Erzieher/innen) erarbeitet werden, in denen die Abschätzung des Gefährdungsrisikos, das Erkennen von Kindeswohlverstößen, mögliche Hilfeleistungen und das richtige Handeln in Notsituationen beschrieben werden.

Zum Schluss soll noch darauf hingewiesen werden, dass gerade auch in Fällen von Kindeswohlverstößen der Sozialdatenschutz beachtet werden muss, da die Informationen, die Kindertagesstätten und andere Jugendhilfeeinrichtungen über die häuslichen Verhältnisse der betroffenen Kinder erhalten, hoch sensibel sind.

Der Schutz von Sozialdaten wird in den §§ 61-68 SGB VIII geregelt. Diese dürfen prinzipiell nur beim Betroffenen erhoben werden - und nur soweit sie für die jeweilige Aufgabe erforderlich sind. Ohne Mitwirkung des Betroffenen dürfen Sozialdaten nur in den in § 62 Absatz 3 SGB VIII genannten Fällen erhoben werden - z.B. zur Erfüllung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Sie dürfen gespeichert werden, soweit dies für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe erforderlich ist.

Nicht nur die Erhebung von Sozialdaten, auch ihre Übermittlung und Nutzung unterliegen der Einschränkung. Der besondere Vertrauensschutz in der persönlichen und erzieherischen Hilfe erlaubt nach § 65 SGB VIII Abs. 1 nur unter fünf Bedingungen die Übermittlung von Sozialdaten:

  1. mit der Einwilligung dessen, der die Daten anvertraut hat, oder
  2. dem Vormundschafts- oder dem Familiengericht zur Erfüllung der Aufgaben nach § 8a Abs. 3, wenn angesichts einer Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen ohne diese Mitteilung eine für die Gewährung von Leistungen notwendige gerichtliche Entscheidung nicht ermöglicht werden könnte, oder
  3. dem Mitarbeiter, der aufgrund eines Wechsels der Fallzuständigkeit im Jugendamt oder eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit für die Gewährung oder Erbringung der Leistung verantwortlich ist, wenn Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls gegeben sind und die Daten für eine Abschätzung des Gefährdungsrisikos notwendig sind, oder
  4. an die Fachkräfte, die zum Zweck der Abschätzung des Gefährdungsrisikos nach § 8a hinzugezogen werden; § 64 Abs. 2a bleibt unberührt, oder
  5. unter den Voraussetzungen, unter denen eine der in § 203 Abs. 1 oder 3 des Strafgesetzbuches genannten Personen dazu befugt wäre.

Der Sozialdatenschutz dient also nicht dem Schutz von Eltern, die ihr Elternrecht missbrauchen und Kinder durch Misshandlungen oder Vernachlässigungen schädigen!

Wird eine Fachkraft beteiligt, die der verantwortlichen Stelle nicht angehört, so sind gemäß § 64 Absatz 2a SGB VIII die Sozialdaten zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren, soweit die Aufgabenerfüllung dies zulässt.

Literatur

Empfehlungen zum Umgang und zur Zusammenarbeit bei Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung sowie bei entsprechenden Verdachtsfällen (Umsetzung des Landtagsbeschlusses vom 12. Mai 2004 "Stärkung des Kinderschutzes gegen Gewalt" - Drs. 3/7469 - B). Erarbeitet von: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Ministerium des Innern, Ministerium der Justiz, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie, Landkreistag Brandenburg, Städte- und Gemeindebund Brandenburg. Verabschiedet am 07.06.2006

Dusolt, H.: Elternarbeit. Ein Leitfaden für den Vor- und Grundschulbereich. Weinheim, Basel: Beltz 2001

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de