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Zitiervorschlag

Aus: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa spezial 2006, Nr. 4, S. 4-8. Mit Genehmigung des Verlages Wolters Kluwer Deutschland

Armut von Mädchen und Jungen in Deutschland - Definition, Umfang, Wirkung und Handlungsansätze

Gerda Holz

 

Wer ist von Armut betroffen und unterliegt besonderen Artmutsrisiken?

Bereits in den 1990er Jahre wurde der Begriff der "Infantilisierung der Armut" geprägt. Heute, nach mehr als einer Dekade, muss von einer Verstetigung des Phänomens gesprochen werden: Kinder sind nach wie vor die am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe. Nach amtlicher Statistik lebten Ende 2004 rund 1,12 Millionen Minderjährige von Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe); dies entspricht 7,5% aller Mädchen und Jungen unter 18 Jahren in Deutschland. Dabei sind Nicht-Deutsche mehr als doppelt so häufig betroffen (6,5% deutsch vs. 16,1% nicht-deutsch). Mitte des Jahres 2006 bezogen rund 1,7 Millionen unter 15-Jährige Sozialgeld.

Die Quote der von relativer Einkommensarmut gemäß EU-Definition betroffenen Mädchen und Jungen liegt je nach Operationalisierung zwischen 13% und 19% (1). Je nach Region und Ort variieren die Quoten mit Tendenz der Zunahme. In ostdeutschen Kommunen, aber auch in westdeutschen Großstädten und Ballungsräumen, ist je nach Altersgruppe jeder siebte bis dritte Minderjährige betroffen. Das höchste Risiko haben Kinder im Vor- und im Grundschulalter - in der Altersphase mit dem größten Potenzial zur Herausbildung individueller Ressourcen und Kompetenzen.

Als Ursachen von Armut bei Erwachsenen gelten (Langzeit-) Erwerbslosigkeit und Erwerbstätigkeit auf niedrigem Zeitniveau und mit Niedriglohn. Zudem gewinnt "working poor" an Bedeutung. Weiterhin sind Trennung und Scheidung sowie Überschuldung zu nennen. Noch selten wird - und wenn dann mit Bezug zur Problematik "Frauenarmut" - die nicht oder nur gering entlohnte Haus-/ Pflege-/ Erziehungs-/ Sorgearbeit diskutiert. Ursachen für Armut bei Kindern ist die der Familie.

Dem Risiko der Armutsbetroffenheit unterliegen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich. Bezogen auf Minderjährige sind überdurchschnittlich armutsgefährdet Kinder aus Familien mit einem der o.g. Erwerbstatus, mit Migrationshintergrund, aus Ein-Eltern-Familien sowie aus Familien mit drei und mehr Kindern. Ebenso sind Kinder in Großstädten gefährdeter als aus ländlichen Räumen und Kinder in sozial segregierten Quartieren. Auch hier einige Zahlen zum Umfang:

  • 2002 zählten in Westdeutschland rd. 18% und in Ostdeutschland rd. 22% aller Familien zu den so genannten Ein-Eltern-Familie. Es ist von rd. 2,4 Mio. Alleinerziehenden (davon 87% Mütter) auszugehen, Tendenz steigend (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 35-36).
  • Laut Sozioökonomischem Panel 2003 haben rund 32,5% der unter 6-Jährigen und rund 29% der 7- bis unter 10-Jährigen einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Die größten Gruppen bilden Heranwachsende aus der Türkei und Ex-Jugoslawien (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 141-143).
  • In allen der aktuell rund 12.250 selbständigen Orte Deutschlands - ob ländlich oder großstädtisch - findet sich ein sozial segregierter Raum, meist als "Sozialer Brennpunkt" oder "Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf" bezeichnet. Ist es in kleinen Orten eher der Teil einer Straße oder ein Straßenzug, so sind es in Mittel- und Großstädten begrenzte Quartiere und/oder ganze Stadtteile. Kennzeichnend ist, dass in segegrierten Gebieten weit überdurchschnittlich Familien mit den oben skizzierten Risikomerkmalen leben. Der Anteil armer oder armutsgefährdeter Mädchen und Jungen tendiert - damit ebenso in den vor Ort befindlichen Sozialisationsinstitutionen - schnell gegen 80% bis 100%.

Die Zahlen belegen, die Problematik ist eine bundesweite. Gefordert sind alle allerorts, denn Armut gehört heute zur Normalität von Kindheit in Deutschland.

Wie kann Armut bei Kindern definiert und gemessen werden?

Armut wird zunächst als relative Einkommensarmut definiert. Als arm gilt entsprechend der allgemeinen EU-Definition, wer über weniger als 50% (Mittelwert) bzw. 60% (Median) des durchschnittlichen Nettoeinkommens (nach Haushaltsgröße gewichtet) im jeweiligen Land verfügt. In konkreten Zahlen: Die rechnerische Armutsgrenze bewegt sich je nach Berechnungsbasis für das Jahr 2003 zwischen 938 und 1.100 Euro für einen Haushalt mit einem erwachsenen Haushaltsmitglied. Kinder, die in einem solchen Familienhaushalt aufwachsen, sind arm.

Armut lässt sich aber nicht auf die monetäre Ressourcenlage allein beschränken. Es gibt nachweislich einen Zusammenhang zwischen geringem Einkommen und erhöhtem Risiko relativer Benachteiligung und das spätestens ab Geburt. Armut stellt zugleich eine spezifische Lebenslage (2) dar, die sich in vielerlei Hinsicht durch materielle wie immaterielle Einschränkungen, soziale Ausgrenzung und erfahrene soziale Benachteiligungen kennzeichnet.

Grundlegende theoretische und empirische Erkenntnisse zur kindspezifischen Ausformung von Armut liefern die AWO-ISS-Studien (3). Die nachfolgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen darauf. Die Studien machen durch den Vergleich der Lebenslage armer und nicht-armer Kinder sichtbar, wie stark die materielle Situation der Familie die kindliche Situation beeinflusst. Zur Bewertung der Entwicklungsbedingungen bzw. -möglichkeiten armer Mädchen und Jungen im Vergleich zu ökonomisch besser gestellten Kindern sind die vier zentralen Lebenslagedimensionen zu berücksichtigen:

  1. materielle Lage des Kindes (Wohnen, Nahrung, Kleidung),
  2. Versorgung in der kulturellen Lage (Bildung, Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten),
  3. in der sozialen Lage (soziale Integration, Kompetenzen) sowie
  4. in der gesundheitlichen Lage (Gesundheitszustand, Gesundheitsverhalten).

Um einen umfassenden Blick auf die kindliche Lebenssituation zu erhalten, sind die vier Lebenslagedimensionen in einem Index zusammengefasst, der drei kindbezogene Lebenslagetypen "Wohlergehen", "Benachteiligung" und "multiple Deprivation" umfasst.

Dergestalt abgeleitet, lässt sich Armut bei Kindern wie folgt definieren:

  • Ausgangspunkt ist die Einkommensarmut.
  • Das Kind lebt in einer einkommensarmen Familie.
  • Es zeigen sich kindspezifische Erscheinungsformen von Armut in Gestalt von materieller, kultureller, gesundheitlicher und sozialer Unterversorgung.
  • Die Entwicklungsbedingungen des Kindes sind beeinträchtigt, wobei dies ein Aufwachsen mit Benachteiligung oder in multipler Deprivation umfassen kann.
  • Die Zukunftsperspektiven des Kindes sind eingeschränkt.

Wie zeigt sich das Kindergesicht der Armut im Vorschulalter?

Arme Kinder sind bereits im Alter von sechs Jahren erkennbar belastet, wie die nachfolgenden Zahlen belegen.


Tab. 1: Anteil der Vorschulkinder mit Einschränkungen in den vier zentralen Lebenslagedimensionen und Armut - 1999

Dimension Arme Kinder Nicht-arme Kinder

Materielle Grundversorgung

40,0%

14,5%

Kultureller Bereich

36,0%

17,0%

Sozialer Bereich

35,6%

17,6%

Gesundheitliche Lage

30,7%

19,7%

Lesehilfe: 40% der armen und "nur" 14,5% der nicht-armen Kinder weisen Mängel in der Grundversorgung auf.
N = 893. Quelle "Armut im Vorschulalter 1999" Vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000, S. 33-38.


Zur materiellen Grundversorgung: Rund 40% der armen Kinder weisen Defizite im materiellen Bereich/ Grundversorgung auf, aber nur 15% der nicht-armen Kinder (Tab. 1). Am deutlichsten äußerte sich familiäre Armut im verspäteten und unregelmäßigen Zahlen von Essensgeld und sonstigen Beiträgen für Aktivitäten in der KiTa. Häufiger kamen arme Kinder hungrig in die Einrichtung und/oder dem Kind fehlte die körperliche Pflege. Relativ selten dagegen zeigte sich ein Mangel an notwendiger Kleidung.

Zum kulturellen Bereich: Mehr als die Hälfte der armen Mädchen und Jungen waren im Hinblick auf ihr Spiel- und Sprachverhalten auffällig, knapp die Hälfte hinsichtlich ihres Arbeitsverhaltens. Arme Kinder wurden nicht nur insgesamt häufiger als nicht-arme Kinder vom Schulbesuch zurückgestellt, sondern auch bei vergleichbarer Ausgangslage bzw. dem gleichen Maß an "Auffälligkeiten" hatten sie geringere Chancen für einen regulären Übertritt in die Regelschule als nicht-arme Kinder. So wurden "nur" 69% der armen, aber rund 88% der nicht-armen Kinder regulär eingeschult.

Zum sozialen Bereich: Die armen Kinder suchten zum Beispiel weniger häufig den Kontakt zu anderen Kindern in der KiTa, nahmen weniger aktiv am Gruppengeschehen teil, äußerten seltener ihre Wünsche und waren weniger wissbegierig als nicht-arme Kinder. Zugleich war eine beginnende Ausgrenzung zu beobachten: So wurden arme Kinder häufiger als nicht-arme Kinder von den anderen Kindern in der KiTa gemieden.

Zur gesundheitlichen Lage: Auch hier wiesen die armen Kinder häufiger Einschränkungen bzw. Auffälligkeiten als die nicht-armen Kinder auf; der Unterschied ist aber im Vergleich zu den anderen drei Lebenslagedimensionen am geringsten ausgeprägt. Arme Kinder hatten häufiger als nicht-arme Kinder gesundheitliche Probleme bzw. waren in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben.

Die Lebenssituation und die Möglichkeiten der Kinder sind bereits im Vorschulalter deutlich unterschiedlich. Arme Mädchen und Jungen wachsen weitaus weniger im Wohlergehen und weitaus häufiger in multipler Deprivation auf. Gleichwohl zeigt sich auch, dass Armut nicht zwangsläufig zu Beeinträchtigungen führt: Etwa ein Viertel der untersuchten armen Kinder lebte im Wohlergehen (23,6%), war also in keinem der zentralen Lebenslagedimensionen eingeschränkt. Jedoch zählten prozentual doppelt so viele nicht-arme wie arme Kinder zum Typ "Wohlergehen".


Tab. 2: Kindspezifische Lebenslagen von Vorschulkindern - 1999

Lebenslagetyp Arme Kinder Nicht-arme Kinder Gesamt

Wohlergehen

23,6%

46,4%

40,0%

Benachteiligung

40,3%

39,8%

40,0%

Multiple Deprivation

36,1%

13,7%

19,8%

Gesamt

100,0%

100,0%

100,0%

Lesehilfe: 23,6% der armen Kinder und 46,4% der nicht-armen Kindern wachsen im Wohlergehen, d.h. ohne Mängel auf.
N = 893. Quelle: "Armut im Vorschulalter 1999". Vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000, S. 77.


Welche Langzeitwirkung wird bis zum Ende der Grundschulzeit sichtbar?

Je gefestigter die finanzielle Situation der Familie, desto sicherer sind die Lebens- und Entwicklungsbedingungen für die Mädchen und Jungen (vgl. Tab. 2). Während hier mehr als jedes zweite arme Kind Einschränkungen erfährt, ist davon kein Kind in "gesichertem Wohlstand" (> 100% des Durchschnittsäquivalenzeinkommens) betroffen. Umgekehrt gilt, je früher, je schutzloser und je länger Kinder einer Armutssituation ausgesetzt sind, desto gravierender sind die Auswirkungen, denn die sich im Vorschulalter herausbildenden Einschränkungen verfestigen sich massiv in der Grundschulzeit.


Tab. 3: Anteil der zehnjährigen Kinder mit Einschränkungen in den vier zentralen Lebenslagedimensionen und Armut - 2003/04

Lebenslagedimension Arme Kinder Nicht-arme Kinder


(< 50%)
Prekärer
Wohlstand
(50% - 75%)
Unterer
Durchschnitt
(75% - 100%)
Oberer
Durchschnitt
(> 100%)

Materielle Lage/ Grundversorgung

51,6%

9,2%

5,3%

0,0%

Kulturelle Lage

37,7%

19,0%

9,5%

3,6%

Soziale Lage

34,6%

16,0%

15,8%

3,6%

Gesundheitliche Lage

25,8%

23,3%

21,1%

8,4%

N = 500

159

163

95

83

Lesehilfe: 51,5% der armen Zehnjährigen haben Mängel in der Grundversorgung, dagegen "nur" noch 5,3% der Kinder, die in einer nicht-armen Familien mit einem Einkommen knapp unter dem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen aufwachsen
Quelle: "Armut im späten Grundschulalter 2003/05". Vgl. Holz/ Richter/ Wüstendörfer/ Giering 2006, S. 66.


Auch die Befragung aus 2003/04 verweist auf die enormen Unterschiede im materiellen Bereich, von denen vor allem Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich betroffen sind. Ausdruck der Mangellage bei den 10-Jährigen ist, z.B. kein eigenes Zimmer zu haben und Einschränkungen bei der Kleidung und/oder beim Spielzeug hinnehmen zu müssen. Große Differenzen zwischen Arm und Nicht-arm sind ebenso im kulturellen Bereich festzustellen. Arme Mädchen und Jungen haben weitaus weniger allgemeine und altersgemäße Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten; z.B. durch Vereinsmitgliedschaft, Teilnahme an freiwilligen Kursen inner- und außerhalb der Schule. Ebenfalls in der sozialen Lebenslage greifen beträchtliche Unterschiede: Arme erhalten nicht nur einen begrenzten Raum zur sozialen Integration, ihnen wird zugleich die Möglichkeit zum breiten Erwerb sozialer Kompetenzen vorenthalten. Entsprechend zeigen sich erste Ansätze sozialer Devianz. Dennoch: In den AWO-ISS-Studien sind zwischen 85% und 95% der Mädchen und Jungen, je nach Fragestellungen, nicht sozial auffällig. Das gilt auch für arme Kinder.

Insgesamt finden sich stark divergierende Lebens- und Entwicklungsverläufe: Unter den armen Mädchen und Jungen überwiegen negative Verläufe, d.h. Zunahme von Auffälligkeiten in den Lebenslagen und Wechsel des Lebenslagentyps, z.B. von Benachteiligung nach multipler Deprivation. Bei den nicht-armen Kindern dominiert eine gefestigte positive Entwicklung, also z.B. Verbleib im Wohlergehen. Gleichzeitig ist eine hohe Dynamik zu konstatieren: Mehr als die Hälfte der Mädchen und Jungen wechselte zwischen 1999 und 2003/04 den Lebenslagetyp. Genauso wenig wie "einmal arm - immer arm" gilt, gilt aber auch nicht "einmal multipel depriviert - immer multipel depriviert". Die Chancen und Risken sind aber klar verteilt.

Können Armutsfolgen vermieden oder begrenzt werden?

Armut ist der größte Risikofaktor für die kindlichen Lebenschancen. Über welche individuellen, sozialen und kulturellen Ressourcen zur Bewältigung ihrer Auswirkungen ein Kind verfügt und welche Handlungsstrategien respektive welches Bewältigungshandeln es bei Belastungen entwickelt, hängt entscheidend von der Lebenslage ab und baut auf einer Vielzahl von intervenierenden Variablen (persönlicher, familiärer und außerfamiliärer Art) auf. Ebenso sind außerfamiliäre Angebote und Sozialisationsinstanzen wie KiTas und der unmittelbare Lebensraum entscheidende Einflussfaktoren. Dort kann sowohl Einfluss auf die Entwicklung von Resilienz wie auch auf die Entstehung und Unterstützung eines förderlichen Umfelds genommen werden.

Die AWO-ISS-Studien belegen ebenso die Existenz von Schutzfaktoren - in beachtlicher Zahl und wirkungsvoll. Dazu zählen u.a. das (Alltags-) Bewältigungshandeln von Eltern, das Erlernen von positiven Handlungsstrategien und eine gelingende, weil geförderte, soziale Integration in Peergroups sowie das soziale und schulische Umfeld [Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Gesamtzahl von Schutzfaktoren und dem Lebenslagetyp. Im Wohlergehen aufwachsende Kinder weisen mehr Schutzfaktoren (13,7) auf als multiple deprivierte (11,3 Faktoren) (4). Es besteht weiterhin ein Zusammenhang zwischen der Zahl der verfügbaren Schutzfaktoren und dem kindlichen Entwicklungsverlauf: Kinder, die eine gefestigte positive Entwicklung zwischen 1999 und 2003/04 erfuhren, unterliegen mehr Schutzfaktoren als Kinder, die im selben Zeitraum konstant multipel depriviert waren (13,6 vs. 10)]. Das lässt bei Veränderung von Rahmenbedingungen des Aufwachsens eine unmittelbare Wirkung auf die Lebenslage und das Bewältigungsverhalten von Minderjährigen erkennen. Es sind weder allein individuell erworbene Kompetenzen, noch Selbst"heilungs"kräfte (der Familie), sondern soziale Förderung, Ausgleich und Umverteilung, die den Kindern eine wirkliche Zukunft eröffnen. Das Wissen wiederum eröffnet mannigfache Chancen zum gesellschaftlichen und staatlichen Handeln im Sinne einer kindbezogenen (Armuts-) Prävention.

Was braucht es - einer sozialen Gegensteuerung?

Grundsätzlich gilt, Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen und hat strukturelle Ursachen mit individuellen Folgen. Vermeidung oder Begrenzung von (Armuts-) Folgen erfordert ebenso grundsätzlich einer gesellschaftlichen Gegensteuerung durch Bereitstellung entsprechender sozialer Ressourcen und Förderung präventiver Prozesse. Gegensteuerungen können durch Stärkung des Individuums, d.h. Förderung seiner Resilienz, oder durch Veränderung von Lebensbedingungen, d.h. Förderung struktureller Rahmenbedingungen zur Begrenzung des Problems, erfolgen. Akteure sind sowohl die einzelne Fachkraft in ihren jeweiligen Arbeitszusammenhängen, die Institutionen und Organisationen als auch die politisch Verantwortlichen auf kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene und vereint in sich politische, soziale, pädagogische und planerische Elemente. Erforderlich wird die Entwicklung spezifischer Konzepte einer kindbezogenen Armutsprävention (d.h. spätestens ab Geburt bis zum längsten zu einem erfolgreichen Berufseinstieg).

Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich für Pädagog/innen in KiTas und Schulen?

Die bisherigen Ausführungen lassen die Vielzahl von Armutsfolgen während der Kindheit und Jugend sowie die Komplexität des Problems erkennen. Genauso eröffnet sich das breite Spektrum an Möglichkeiten des Handelns im Sinne persönlichen Engagements und professionellen Umgangs. Was braucht es dazu?

Zunächst ist eine kritische (Selbst-) Reflexion notwendig über Auftrag, Organisiertheit und Strukturen sowie über Alltagsgestaltung und erzielte Ergebnisse des Bildungssystems. Diese sollte sowohl die eigene Einrichtung als auch den persönlichen Beitrag im Fokus haben.

Es muss ein Klärungsprozess in der Einrichtung stattfinden, der Armut und Benachteiligung als soziales Problem mit individuellen Folgen beim Minderjährigen und nicht als individuelles Versagen versteht:

  1. Die Herausforderung für pädagogische Fachkräfte in KiTas, aber auch Schulen, liegt zunächst einmal darin, für soziale Bedingungen allgemein und im Lebensalltag des Kindes im Besonderen sensibel zu werden (Problemsensibilisierung).
  2. Sie müssen die Risikofaktoren und ihre ungleiche Verteilung auf die verschiedenen Gruppen kennen und als solche wahrnehmen (Problemwahrnehmung).
  3. Es muss eine Auseinandersetzung über den persönlichen und institutionellen Problemumgang sowie die Reflexion über eigene Anteile an einer Verfestigung erfolgen: Ist Armut ein Tabuthema in der KiTa oder wird sie thematisiert, z.B. in Teambesprechungen, gegenüber der Öffentlichkeit und Politik (Problemumgang).
  4. Schließlich geht es darum, eigene Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Benachteiligungen umzusetzen. Bestandteil dessen muss sein, allgemeine Ressourcen individuell zugänglich zu machen und Entwicklungsräume neu zu schaffen bzw. zu erweitern (Problembewältigung).

Das kann nicht alleine durch eine Person und isoliert in der eigenen Einrichtung geschehen, sondern erfordert die Öffnung gegenüber anderen Professionen, anderen Institutionen und vor allem dem Sozialraum. Ohne das geht es nicht.

Die Einbindung anderer, die Festlegung von gemeinsamen Zielen, die Erarbeitung eines gemeinsamen Konzeptes und dessen Umsetzung mit anderen sind Ausdruck eines komplexen Problemverständnisses, eines hohen Verantwortungsbewusstseins und eines angemessenen professionellen Handelns. Das wiederum setzt ein Vorgehen auf der Grundlage überprüfbarer Teilziele bzw. Meilensteine voraus - wodurch in hervorragender Weise die selektiven wie integrativen Wirkungen des eigenen Handelns und der eigenen Einrichtung erkennbar werden. Ziel- und wirkungsorientiertes Arbeiten ist zum einen ein allgemeiner Qualitätsstandard und zum anderen eine unermesslich wertvolle Orientierungshilfe auf dem Weg, allen jungen Menschen tatsächliche Zukunftschancen zu eröffnen.

Fazit

Konkrete Maßnahmen und Instrumente, die gerade armen und/oder sozial benachteiligten Kinder zugute kommen, sind u.a. folgende:

  • Die systematische Vorbereitung und Begleitung der Übergänge (Primar-/ Elementar-/ Sekundarstufe usw.).
  • Die Arbeit mit individuellen Förderplänen auf der Grundlage von Bildungsdokumentationen - in der KiTa angelegt und von den Schule fortgeführt -, ausgerichtet auf individuelle Förderziele und Gewähr erfolgreicher Bildungskarrieren.
  • Die Realisierung von Einzel- und Gruppenförderung armer und/oder benachteiligter Gruppen durch Hinzuziehung von niedergelassenen Therapeut/innen, Schulsozialarbeiter/innen, engagierter Menschen aus dem schulischen Umfeld usw.
  • Die Kooperation mit anderen Institutionen als wichtige Säule des eigenen Einrichtungskonzeptes und seine Umsetzung.
  • Die Ausweitung einer anders gestalteten Zusammenarbeit mit belasteten und benachteiligten Eltern. Diese hängt ganz entscheidend von einer durch die Fachkräfte geschaffenen Vertrauensbasis ab, ist bestimmt durch fühl- und sichtbare Wertschätzung sowie eine immer wieder von neuem initiierte persönliche Ansprache und persönliche Kontaktgestaltung. Der Erfahrungshintergrund sozial benachteiligter Personen ist geprägt durch permanente Abwertung, Ausgrenzung, Vorverurteilungen usw. durch andere. Dieser kann nicht durch ein einmaliges Zugehen, allgemeine Elternabende, büromäßig organisierte Elternsprechstunden oder schriftliche Kontaktaufnahme aufgelöst werden. Vielmehr sind persönliches Engagement, respektvoller Umgang, Ausdauer, Frustrationsfähigkeit, kleine und von den Betroffenen erfolgreich bewältigbare Maßnahmen sowie das Erkennen von (kleinen) Fortschritten entscheidend. Die immer wiederkehrende Initiative dazu ist eine professionelle Aufgabe und liegt bei den Pädagog/innen (vgl. auch Ekrowski 2006).
  • Das Aktivsein im Sozialraum und auf kommunaler Ebene. Sozialisationseinrichtungen sind nicht nur zentraler Ort der Lebenswelt von jungen Menschen, sondern zugleich Teil des Sozialraums und Bausteine der Infrastruktur einer Kommune. Die Mitarbeit in Netzwerken, Runden Tischen, Arbeitsgruppen oder auch die regelmäßige Berichterstattung über die Belange der Einrichtung etwa im Schul- und im Jugendhilfeausschuss der jeweiligen Kommune sind Teil des Bildungsauftrages

Bereits diese kurze und grobschnittige Aufzählung von Handlungsansätzen macht deutlich: Es ist viel zu tun, es kann viel getan und vor allem erreicht werden.

Endnoten

  1. Vgl. Bundesagentur für Arbeit 2006; Statistisches Bundesamt 2006; Holz/ Richter/ Wüstendörfer/ Giering 2006, S. 53-54.
  2. Der Begriff bezeichnet die Lebenssituation von Menschen in biologischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Er zielt darauf ab, die "Lebenslage als Lebensgesamtchance" des Einzelnen zu bestimmen. Die individuelle Interessenentfaltung und deren Realisierung werden durch die quantitative und qualitative Beschaffenheit und die Ausgestaltung verschiedener Lebenslagebereiche - wie Versorgung, soziale Kontakte, Bildung, Regeneration und Partizipation - abgesteckt. Dadurch werden unterschiedliche (Handlungs-) Spielräume erkennbar. Chassé, Zander und Rasch (2003) übertrugen dieses Spielraumkonzept auf Kinder und machten deutlich, dass es bei der Bezugnahme auf kindliche Grundbedürfnisse gilt, einerseits zwischen unterschiedlichen Arten von Bedürfnissen zu unterscheiden und andererseits danach zu fragen, aus welcher Perspektive (Erwachsene oder Kinder) sie formuliert werden bzw. definiert sind.
  3. Die AWO-ISS-Studien - deren Ergebnisse die wesentliche Grundlage der weiteren Ausführungen sind - eröffneten eine kindbezogene Armutsforschung durch Kombination von Ressourcen- und Lebenslagekonzept. Dazu wurden zwischen 1997 und 2005 quantitative und qualitative Erhebungen im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt durchgeführt. Vgl. Hock/ Holz/ Wüstendörfer 2000; Holz/ Skoluda 2003; Holz/ Richter/ Wüstendörfer/ Giering 2006.
  4. Vgl. Holz/ Richter/ Wüstendörfer/ Giering 2006, S. 191-200 (Zahl in den Klammern = arithmetischer Mittelwert).

Literatur

Bundesagentur für Arbeit (2006): Grundsicherung für Arbeitssuchende. Entwicklung bis Juli 2006. Nürnberg.

Chassé, K.A./ Zander, M./ Rasch, K. (2003): Meine Familie ist arm: Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Opladen.

Ekrowski, B. (2006): Eltern erreichen, die sonst nicht erreichbar sind - aber wie? Jugendhilfe aktuell 3, S. 20-23.

Hock, B./ Holz, G./ Wüstendörfer, W. (2000): "Frühe Folgen - Langfristige Konsequenzen?" Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Frankfurt am Main.

Holz, G./ Skoluda, S. (2003): Armut im frühen Grundschulalter". Lebenssituation, Ressourcen und Bewältigungshandeln von Kindern. Frankfurt am Main.

Holz, G./ Richter, A./ Wüstendörfer, W./ Giering, D. (2006): Zukunftschancen für Kinder!? - Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Frankfurt am Main.

Konsortiums Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Gütersloh.

Statistisches Bundesamt (Hg.) (2006): Kinder in der Sozialhilfe 2004. Wiesbaden.

Autorin

Gerda Holz
Weberstr. 33
60318 Frankfurt a.M.
Tel.: 069/592874
Email: [email protected]