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Zitiervorschlag

Aus: Roux, Susanna (Hrsg.): PISA und die Folgen: Sprache und Sprachförderung im Kindergarten. Landau: Verlag Empirische Pädagogik 2005, S. 130-142

Literacy Center - ein Konzept zur frühen Lese- und Schreibförderung in Theorie und Praxis

Gisela Kammermeyer und Myrjam Molitor

 

Es besteht weitestgehende Einigkeit darin, dass es notwendig ist, die Qualität von Bildungsprozessen im Kindergarten zu verbessern. Diese Forderung wird unterstützt durch empirische Erkenntnisse zum Einfluss pädagogischer Qualität in Kindertagesstätten auf die Entwicklung von Kindern. Tietze, Roßbach und Grenner (2005) konnten beispielsweise am Ende der zweiten Klasse noch signifikante Effekte der Kindergartenqualität auf den Entwicklungsstand der achteinhalbjährigen Kinder feststellen und zwar im Hinblick auf den Sprachentwicklungsstand, die Schulleistung und die soziale Kompetenz.

Besonders der sprachliche Bereich ist derzeit im Fokus der Aufmerksamkeit, nahezu alle Bundesländer haben Initiativen zur Verbesserung der Sprachförderung gestartet. Diese Ansätze beziehen sich vorwiegend auf die Förderung der mündlichen Sprachfähigkeit. Bedeutsam in der Praxis ist auch das Würzburger Training zur phonologischen Bewusstheit "Hören, lauschen, lernen von Küspert und Schneider (1999).

Weiterführende Erkenntnisse zur (schrift-) sprachlichen Förderung bietet das Literacy-Konzept, das in Deutschland bisher kaum beachtet wurde. Es geht davon aus, dass sich Sprechen, Lesen und Schreiben in ständiger Wechselwirkung entwickeln (Teale/ Sulzby 1989), dass dies also sich gegenseitig bedingende Bereiche sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Entwicklung des Lesens und Schreibens im vorschulischen Bereich stärker zu berücksichtigen. Im Folgenden wird zum einen aufgezeigt, dass in der Verbindung von Rollenspiel und (Schrift-) Sprache ("play and literacy") vielfältige, empirisch belegte Möglichkeiten zur Förderung anschlussfähiger Bildungsprozesse in Kindergarten und Grundschule liegen. Zum anderen wird eine Studie dargestellt, in der die Förderung von Literacy durch Rollenspiele erstmals in Deutschland empirisch erprobt wurde.

Entwicklungsprozess Schriftspracherwerb

Der Schulanfang ist kein "Punkt Null" (Richter/ Brügelmann 1994), auch nicht im Hinblick auf den Schriftspracherwerb. Kinder machen vielfältige Erfahrungen mit Schriftsprache, bevor sie in der Schule mit dem systematischen Schriftspracherwerb beginnen. Unbestritten ist heute, dass diese frühen Erfahrungen bedeutsam für den Schulerfolg im Lesen, Schreiben und Rechtschreiben sind (Richter/ Brügelmann 1992; Schneider/ Näslund 1993; Whitehurst/ Lonigan 2001). Hinter dem Begriff "Emergent Literacy" verbirgt sich ein Konzept, das davon ausgeht, dass der Schriftspracherwerb von Kindern als kontinuierlicher Lernprozess zu verstehen ist (Miller 2000, S. 3). Nach Teale und Sulzby (1989) bezeichnet der Begriff "Emergent Literacy" den (Schrift-) Spracherwerb in der Zeit zwischen der Geburt und der Zeit, in der das Kind Schreiben und Lesen im konventionellen Sinne beherrscht. Sie betonen einerseits die frühe Entwicklung von Lesen und Schreiben ohne spezielle schulische Unterweisung und andererseits die enge Verknüpfung zwischen Sprechen, Lesen und Schreiben. Nach Whitehurst und Lonigan (1998) beinhaltet der Begriff "Emergent Literacy" die Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen, die als Vorläuferfähigkeiten für den systematischen Schriftspracherwerb angesehen werden können. Sie unterscheiden die Bereiche mündliche Sprachfähigkeit, Kenntnisse über Schrift und phonologische Bewusstheit.

Die Stufen des Lesen- und Schreibenlernens im Überblick

Entwicklungsmodelle des Lesen- und Schreibenlernens (z.B. Günther 1986; Valtin 1993) machen deutlich, dass Kinder beim Schriftspracherwerb charakteristische Stufen durchlaufen. Tabelle 1 zeigt das Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs nach Valtin (1993).


Tabelle 1: Entwicklungsmodell des Lesen- und Schreibenlernens (Valtin 1993, S. 75)
  Fähigkeiten und Einsichten

Lesen

Schreiben
logographemische Stufe

Kenntnis einzelner Buchstaben an Hand figurativer Merkmale

Erraten von Wörtern auf Grund visueller Merkmale von Buchstaben oder -teilen (Firmenembleme benennen) Malen von Buchstabenreihen, Malen des eigenen Namens
alphabetische Stufe Beginnende Einsicht in den Buchstaben-Laut-Bezug, Kenntnis einiger Buchstabe/ Laute Benennen von Lautelementen häufig orientiert am Anfangsbuchstaben, Abhängigkeit vom Kontext

Schreiben von Lautelementen (Anlaut, prägnanter Laut zu Beginn des Wortes), "Skelettschreibungen"

Einsicht in die Buchstaben-Laut-Beziehung

Buchstabenweises Erlesen (Übersetzen von Buchstaben- und Lautreihen), gelegentlich ohne Sinnverständnis

Phonetische Schreibungen nach dem Prinzip "Schreibe wie du sprichst"

orthographische Stufe

Verwendung orthografischer bzw. sprachstruktureller Elemente

Fortgeschrittenes Lesen: Verwendung größerer Einheiten (z.B. mehrgliedrige Schriftzeichen, Silben, Endungen wie -en, -er) Verwendung orthographischer Muster (z.B. -en, -er; Umlaute), gelegentlich auch falsche Generalisie-rungen
Automatisierung von Teilprozessen Automatisiertes Worterkennen und Hypothesenbildung Entfaltete orthografische Kenntnisse

Trotz einer gewissen Regelmäßigkeit dieser Stufen muss jedoch beachtet werden, dass es hier interindividuelle Unterschiede in der Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit gibt: "Nicht alle Kinder gehen zwingend die gleichen Schritte; einige werden auch verkürzt, zeigen etwas variierende Merkmale oder werden auch ausgelassen" (Blumenstock 1996, S. 28). Nach Valtin (1993) ist noch ungeklärt, ob die Entwicklungsstufen des Lesen- und Schreibenlernens tatsächlich so parallel verlaufen, wie das Modell zeigt. Sie stellt fest, dass einige Kinder beim Schreiben erst die alphabetische Strategie lernen, d.h. sie verschriften (halb-) phonetisch, können aber z.T. nicht lesen, was sie geschrieben haben. Kinder mit einer anderen Strategie können schon einige Wörter erlesen, bevor sie beginnen zu schreiben. Prinzipiell hat sich nach Scheerer-Neumann (1998) die Entwicklungsfolge logographemisch - alphabetisch - orthographisch bestätigt, wenn man das Modell als Beschreibung dominanter und nicht ausschließlicher Strategien begreift.

Förderung schriftsprachlicher Erfahrungen im Rollenspiel

Obwohl in den USA die Beziehung zwischen dem Rollenspiel und Literacy bereits seit mehreren Jahrzehnten intensiv untersucht wird, sind diese Erkenntnisse in Deutschland bisher weitgehend noch unbekannt geblieben. Die beiden deutschsprachigen Artikel von Christie (1990, 1991), einem namhaften Vertreter der Forschungen zur Rolle des Spiels bei der frühen Lese- und Schreibentwicklung, sind so gut wie unbeachtet geblieben.

Zur Förderung schriftsprachlicher Erfahrungen im Kindergarten ist das Rollenspiel besonders geeignet. Beim Rollenspiel handelt es sich um eine typische Tätigkeitsform des Vorschulkindes; es nimmt bei Sechsjährigen einen Anteil von 45% vom gesamten Spielspektrum ein (Schmidtchen 1994). Diese Spielform erlaubt es dem Kind, in andere Rollen zu schlüpfen und sich auf diese Weise neue kognitive Muster anzueignen. In Rollenspielsituationen, wie Restaurant, Einkaufen, Tierarztpraxis etc., können auf ganz alltägliche Weise Lese- und Schreibhandlungen eingebaut werden. Beobachtungen haben gezeigt, dass Kinder während des Rollenspiels häufig so taten, als ob sie lesen und schreiben würden. Es konnte festgestellt werden, wie Kinder Einkaufslisten schrieben, ihren Puppen Geschichten vorlasen, während sie in die Rolle der Eltern schlüpften, oder als Kellner in einem Restaurant Bestellungen auf einem Zettel vermerkten (Baghban 1984; Christie 1990; Kammler 1984; Roskos 1988).

Das Rollenspiel stellt nach Christie (1990, S. 11) einen Kontext dar, der Kindern dabei hilft, "wichtige Konzepte über die Struktur und die Funktionen geschriebener Sprache entwickeln" zu können. In Verbindung mit dem bedeutsamen Mitwirken anderer Kinder greift diese Spielform in den sich ständig weiterentwickelnden Prozess der Lese- und Schreibfähigkeit ein. Nach Einsiedler (1999, S. 83) wird durch Phantasie- und Rollenspiele der Erwerb von Vorstellungen und symbolischen Repräsentationen unterstützt. Diese Fähigkeiten sind auch für die Entwicklung der Schriftsprache bedeutsam.

Christie (1990) verdeutlicht den positiven Effekt des Rollenspiels auf die Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz der Vorschulkinder an zwei Aspekten: Erstens ermöglichen gespielte Lese- und Schreibaktivitäten den Kindern, Vorläuferformen des Lesens und Schreibens zu praktizieren und zu üben. Zweitens bewirken derartige Spielaktivitäten, dass die Kinder ihr Verständnis über alltägliches Lesen und Schreiben verfeinern. Das Wissen darüber, dass Lesen und Schreiben wichtigen Zwecken dient, stellt bei den Kindern die Motivation her, diese Fähigkeiten zu erwerben.

Christie, Enz und Vukelich (1997) heben zusätzlich den Sinnbezug hervor, denn Lese- und Schreibhandlungen im Rollenspiel sind für die Kinder persönlich bedeutsam. Nach ihrer Ansicht bietet das Spiel den großen Vorteil des Experimentierens in einer Atmosphäre mit niedrigem Risiko. Im Spiel könnten die Kinder auch komplizierte Lese-Schreib-Handlungen umzusetzen, da bei einem Fehler keine negativen Konsequenzen zu erwarten sind.

Pellegrini und Galda (2000) weisen besonders auf die Bedeutung der Metasprache während des Rollenspiels hervor. Sie stellen fest, dass das Kommunizieren der Kinder über ihre eigene Sprache ein Indikator für ihr metalinguistisches Bewusstsein sei, und metalinguistische Kenntnis wiederum sei ein aussagekräftiges Indiz für erfolgreiches schulisches Lesen.

Forschungsüberblick zu Literacy und Rollenspiel

Einen ausführlichen Überblick über die wichtigsten Forschungsarbeiten zu "play and literacy" gibt Molitor (2004).

Besonders aussagekräftig im Hinblick auf die Förderung schriftsprachlicher Erfahrungen durch das Rollenspiel ist die Studie von Morrow (1990). Hier wurde die Frage untersucht, ob sich die Anzahl schriftsprachlicher Handlungen durch ein Angebot themenbezogener Literacy-Materialien in der gewohnten Spielumgebung erhöht. Die Studie ist deshalb so bedeutsam, weil in ihr verschiedene Interventionen kombiniert wurden. An dieser Studie nahmen 13 Vorschulgruppen mit insgesamt 170 Kindern teil. Die Gruppen wurden in drei verschiedene Experimentalgruppen und in eine Kontrollgruppe unterteilt. Tabelle 1 zeigt, worin sich die einzelnen Gruppen unterscheiden.


Tabelle 1: Untersuchungsdesign der Studie von Morrow (1990)

E 1

E 2

E 3

Kontrollgruppe

mit schriftsprachlichem Material

ohne alles

ohne Thema

mit Thema (Tierarztpraxis)

mit Spielvorschlägen

ohne Spielvorschlag

In allen drei Experimentalgruppen (E1, E2, E3) wurden drei Wochen lang schriftsprachliche Materialien angeboten. In der Gruppe E1 handelte es sich um Materialien ohne Themenbezug (z.B. Bücher, Stifte, Papier), in den Gruppen E2 und E3 hingegen wurde spezifisches Material zum Thema Tierarztpraxis zur Verfügung gestellt (z.B. Terminkalender, Rezeptblock). Im Gegensatz zu den Kindern der Gruppe E3 erhielten die Kinder der Gruppen E1 und E2 zusätzlich noch Spielvorschläge der Erzieherin. In der Kontrollgruppe gab es keine Interventionen.

Die Anzahl und die Art der schriftsprachlichen Handlungen wurde durch systematische Beobachtung vor der Intervention, während der Intervention und einen Monat nach der Intervention ermittelt.

Die Ergebnisse zeigen, dass in allen drei Experimentalgruppen Lese- und Schreibhandlungen signifikant häufiger auftraten als in der Kontrollgruppe. Die Experimentalgruppe E2, in der themenbezogenes Lese- und Schreibmaterial vorhanden war und in der zusätzlich Spielvorschläge durch die Erzieherin angeboten wurden, wurden die häufigsten Lese- und Schreibhandlungen registriert. Die Gruppe E1, in der Lese- und Schreibmaterial ohne Themenbezug zur Verfügung gestellt wurde und in der zusätzlich von der Erzieherin Themenvorschläge gegeben wurden, erreichte die zweithäufigsten Lese- und Schreibaktivitäten. Bei den Kindern der Gruppe E3, denen lediglich themenbezogene schriftsprachliche Materialien angeboten wurden, die aber keine Vorschläge der Erzieherin erhielten, wurden am wenigsten schriftsprachliche Handlungen beobachtet.

Aus diesen Ergebnissen kann geschlossen werden, dass durch ein Angebot von schriftsprachlichen Materialien schriftsprachliche Erfahrungen ausgelöst werden können. Besonders bedeutsam ist jedoch, dass es vor allem die Impulse der Erzieherin sind, die die Kinder zu Literacy-Handlungen anregen. Dieses Ergebnis hat weit reichende Konsequenzen für den Umgang mit Rollenspielen im Alltag.

Die vorgestellten Befunde werden durch weitere Studien gestützt. Auch eine Untersuchung von Neuman und Roskos (1991) belegt, dass mit Literacy angereicherte Spielsettings Kinder motivieren, sich mit Schriftsprache auseinander zu setzen. Die Kinder integrierten noch zwei Monate nach einer achtwöchigen Intervention zweimal so häufig schriftsprachliche Aktivitäten in ihr Rollenspiel im Vergleich zu vorher. Die Autoren stellten zusätzlich qualitative Veränderungen im Umgang mit Literacy fest: Eine Analyse der Spielhandlungen zeigte, dass Lese- und Schreibhandlungen länger anhielten und intensiver und zielgerichteter durchgeführt wurden.

Christie und Enz (1992) untersuchten Langzeiteffekte von Literacy-Interventionen im Rollenspiel. Sie konnten die Ergebnisse von Morrow (1990) bestätigen und nachweisen, dass sich die Effekte nicht nur nach vier, sondern auch noch nach 20 Wochen nachweisen lassen. Interessant sind dabei auch qualitative Analysen, in denen sich zeigte, dass sich bei den Kindern, die lediglich schriftsprachliches Material angeboten bekamen, nach 20 Wochen ein Interessensverlust feststellen ließ, bei den Kindern hingegen, die auch Anregungen von der Erzieherin bekamen, das Interesse anhielt.

Die Zusammenarbeit von Kindern in altersgemischten Gruppen untersuchten Stone und Christie (1996). Die Ergebnisse deuten auf beträchtliche altersübergreifende Literacy-basierte Aktivitäten hin. Sie lassen darauf schließen, dass mit Literacy-Materialien angereicherte Lernumgebungen kombiniert mit altersgemischten Lerngruppen einen sozialen Kontext herstellen, der Literacy-bezogenes Verhalten und Literacy-bezogene Zusammenarbeit begünstigt.

Thematische Rollenspielecken (Literacy-Center) - Eine Spielumgebung, die zum Rollenspiel mit Lesen und Schreiben einlädt

Rollenspielecken (Literacy-Center), die mit themenspezifischen schriftsprachlichen Materialien ausgestattet sind, sind in Deutschland kaum zu finden. Ulich (2003) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass viele Kindergärten quasi schriftfreie Räume sind. Statt Schriftzeichen zu verwenden werden beispielsweise Symbole genutzt (z.B. am Garderobenhaken). Um die Kinder nicht zu überfordern, wird auf Plakate mit Schrift oder Hinweisschilder, die auch Schrift enthalten, weitgehend verzichtet. Es wird hier aber wenig bedacht, dass Kinder in ihrer Lebenswelt ständig mit Schriftsprache umgeben sind und dass sich viele Kinder auch für diese interessieren. Selbst Einrichtungen, die in ihrer Konzeption explizit von der Lebenswelt der Kinder ausgehen, haben häufig einen "blinden Fleck" im Hinblick auf Bereiche, die eng mit Schule verbunden sind.

Morrow (2002) befasst sich ausführlich mit der Frage, wie ein Literacy-Center gestaltet werden soll. Literacy-bezogene Materialien sollen in die Spielumgebung integriert werden, um die Neugier der Kinder auf Schrift zu wecken. Das können Materialien wie Papier in verschiedenen Größen, Karteikarten, Umschläge, Bücher mit leeren Seiten und Schreibwerkzeuge (Bleistifte, Kugelschreiber, Marker) sein. Diese so genannten "Props" fördern den Einfallsreichtum der Kinder, sich detailgetreue Geschichten auszudenken. Gut durchdachte Literacy-Center erhöhen nach Morrow (2002) die kindliche Nutzung dieser Umgebung, und diese wiederum führt dazu, dass die Kinder mehr lesen und schreiben und damit ihre Lese- und Schreibfähigkeiten erweitern.

Als Beispiel eignet sich ein Tierarztsetting (Morrow 1990, S. 542): In der Tierarztpraxis gibt es ein Wartezimmer mit Stühlen, einem Tisch, Zeitschriften, Büchern und Prospekten. An der Wand sind Tierposter, eine Liste mit den Öffnungszeiten, ein "Rauchen verboten" - Schild, und ein Schild "Bitte füllen Sie ein Anmeldeformular aus". An der Anmeldung gibt es Anmeldeformulare, ein Adressen- und Telefonbuch, einen Terminkalender, eine Patientenkartei, Rezeptformulare, weiße Mäntel, Handschuhe, Verbandsmaterial und weitere Arztutensilien (Morrow 1990, S. 542). Weitere geeignete Themen für Literacy-Center sind Büro, Restaurant, Post, Supermarkt und Bibliothek.

Bei der Einrichtung von Themenecken mit Literacy-Materialien ist es außerdem sinnvoll, Regale und Schubladen zu beschriften. Auf diese Weise wird der Umgang Schrift für Kinder auch im Kindergarten alltäglicher.

Beobachtungsstudie

Auch in einer kleinen Beobachtungsstudie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau (Molitor, 2004), ging es darum, herauszufinden, ob sich aufgrund der Umgestaltung der Rollenspielumgebung mit Literacy-bezogenen Materialien auch in Deutschland die Anzahl der Literacy-Handlungen bei Vorschulkindern erhöht. Ziel der Studie war darüber hinaus, ein Instrument für die Beobachtung von Literacy-Handlungen im Rollenspiel zu erproben.

An dieser Studie nahmen acht Vorschulkinder teil. In Anlehnung an Neuman und Roskos (1997, S. 18) wurde in einer Kindergartengruppe eine Rollenspielecke zum Thema Post eingeführt, in der folgendes Material angeboten wurde: Papier, Briefumschläge, Schreibwerkzeuge, Marker, Briefmarken, Postkarten, Posttasche, Briefkasten, Ablagekörbe, Postmütze, Stempel, Postschild, Pakete, Formulare, Kalender, Telefon, Telefonbuch und Schreibmaschine. Mit diesen Materialien ist eine Vielzahl Literacy-bezogener Spielhandlungen möglich, z.B.

  • Briefe schreiben mit Bleistiften und Kugelschreiber bzw. mit Buchstaben-Stempeln oder mit der Schreibmaschine,
  • Lesen im Telefonbuch,
  • Termine im Terminkalender nachschlagen und
  • Sortieren von Briefen oder Papier.

Die Intervention beschränkte sich auf das Angebot themenspezifischer schriftsprachlicher Materialien; Spielvorschläge wurden während des Rollenspiels nicht gegeben. Die Intervention ist deshalb mit der Intervention in der Experimentalgruppe E3 in der Studie von Morrow (1999, vgl. Tabelle 1) vergleichbar.

Die Literacy-bezogenen Handlungen wurden in der vorliegenden Studie mit nicht-teilnehmend-offener Beobachtung mit einer Zeitstichprobe erfasst, in der die Beobachtungseinheit eine Minute betrug. Bei der Erstellung des Kategoriensystems für die Beobachtung wurde das System der Studie von Morrow (1990) zugrunde gelegt. Literacy-Handlungen während des Spiels wurden definiert als dem Lesen und Schreiben ähnliche Akte; bedeutsam dabei ist, dass die Aufmerksamkeit des Kindes auf die symbolische Bedeutung der Schrift gerichtet ist. Die Literacy-Handlungen wurden in die drei Kategorien "Umgang mit Papier", "Schreiben" und "Lesen" unterteilt.

  • Umgang mit Papier: hingebungsvolles, interessiertes, zielgerichtetes, Bedeutung zuweisendes Verhalten im Umgang mit Papier: sortieren, mit Papier hantieren, Gedrucktes genau betrachten (z.B.: Briefumschläge sortieren, Formulare zählen).
  • Schreiben: reales oder fiktives Produzieren von Schrift oder schriftähnlichen Zeichen als Akt, in dem man etwas mitteilt: kritzeln, abschreiben, diktieren (z.B. Name schreiben, Formular ausfüllen).
  • Lesen: Aufmerksamkeit richten auf mit Schrift versehene Gegenstände, um Bedeutung zu erschließen (z.B. im Telefonbuch blättern, Schild "geöffnet" betrachten).

Die Beobachtung der Vorschulkinder erfolgte im Rahmen eines Ein-Gruppen-Pretest-Posttest-Plans (Bortz/ Döring 2002).

  • Baseline: Beobachtung der Vorschulkinder in ihrer gewohnten Spielumgebung ohne Intervention in Hinblick auf die Anzahl Literacy-bezogener Handlungen (Dauer: drei Tage mit Vortest).
  • Intervention: Einführung der Literacy-Materialien zum Thema Post (danach vier Tage zur Gewöhnung an das Post-Setting).
  • Nacherhebung: Beobachtung der Vorschulkinder nach der Integration des themenbezogenen Literacy-Centers (Post) in die gewohnte Spielumgebung in Hinblick auf die Anzahl Literacy-bezogener Handlungen (Dauer: zwei Tage).

Auch die Ergebnisse der Landauer Studie zeigen, dass sich die Anzahl der Literacy-bezogenen Spielhandlungen durch die Einführung themenspezifischer schriftsprachlicher Materialien im Rollenspiel (ohne Spielvorschläge) erhöhen. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Untersuchung von Morrow (1990).

Vor der Einführung des Lese-Schreib-Materials konnten durchschnittlich pro Kind 2,6 Literacy-Handlungen beobachtet werden. Darin enthalten ist eine überraschend große Anzahl an Lesehandlungen. Sie kam dadurch zustande, dass bei der Erhebung der Baseline die teilnehmenden Jungen Fahrzeuge nach einer Anleitung zusammen bauten.

Nach der Einführung konnten pro Kind 3,3 Literacy-Handlungen beobachtet werden. Es wurden vor allem solche Literacy-Handlungen beobachtet, die der Kategorie "Umgang mit Papier" zugeordnet werden konnten. Dies sind Handlungen, die vor der Intervention im Rollenspiel nicht auftraten. Prozentual erhöhte sich die Anzahl der Literacy-bezogenen Spielhandlungen um 27% nach der Einführung des Literacy-Centers.

Als weiteres Ergebnis wurde festgestellt, dass bei der Nacherhebung wesentlich mehr Literacy-Handlungen innerhalb des Literacy-Centers stattfanden als im Rest des Raumes.

Der Jungen-Mädchen-Vergleich ergab, dass nach der Intervention vor allem die Mädchen deutlich mehr Literacy-Handlungen ausführten als vorher. Offensichtlich hat das Literacy-Center zum Thema "Post" in dieser Gruppe eher die Mädchen angesprochen als die Jungen. Bei der Weiterentwicklung des Konzepts "Literacy-Center" sollte berücksichtigt werden, dass bei der Themenwahl auch die Interessen von Jungen angemessen berücksichtigt werden.

Insgesamt wurde in dieser Studie festgestellt, dass sich die Anzahl der schriftsprachlichen Handlungen, in Übereinstimmung mit dem bisherigen Forschungsstand, nur mäßig vergrößerte. Die Beobachtungen ergaben zudem, dass die Kinder sich zwar mit den Literacy-Materialien befassten und auch in der Lage waren, diese ins Spiel zu integrieren, dass es sich dabei aber häufig um recht kurze flüchtige Spielepisoden handelte, die wenig variierten.

Dies stärkt die Vermutung, dass themenspezifisches Materialangebot alleine offensichtlich nicht ausreicht, um intensive und häufige Literacy-Handlungen auszulösen. Vielmehr scheint, wie in der Studie von Morrow (1990), die Rolle der Erzieherin im Hinblick auf die Unterstützung der Entwicklung schriftsprachlicher Handlungen in angereicherten Umgebungen zentral zu sein. Notwendig ist eine aktive Erzieherin, die das Spielgeschehen beobachtet und sensibel Anregungen gibt.

Ausblick

Ein entwicklungsorientiertes Verständnis von Schriftsprache betont die Notwendigkeit von frühen Lese- und Schreibanlässen, in denen die Kinder Lesen und Schreiben als persönlich bedeutsam erleben. Dies gilt nicht nur für den Kindergarten, sondern auch für den Anfangsunterricht in der Grundschule. Eine Möglichkeit, dies zu unterstützen, stellen themenbezogene Rollenspielecken dar, die nicht nur im Kindergarten, sondern auch im Anfangsunterricht eingesetzt werden können und so eine sehr gut geeignete Möglichkeit zur Förderung anschlussfähiger Bildungsprozesse darstellen.

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Kontakt

Prof. Dr. Gisela Kammermeyer
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