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Zitiervorschlag

Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule: Eine Herausforderung für das Kind und seine Eltern

Martin R. Textor

 

Als "Übergang" oder "Transition" wird eine durch einschneidende Veränderungen bedingte Lebensphase beschrieben. Diese Zeit der Diskontinuität dauert so lange, bis der Mensch das "Gleichgewicht" wiedergefunden hat und sein Leben wieder kontinuierlich verläuft.

Im Vergleich zu früher treten Transitionen heute häufiger auf. Deshalb wird auch davon gesprochen, dass das Leben "diskontinuierlicher" geworden sei. Häufig vorkommende Transitionen sind beispielsweise der Übergang von der Familie in die Kindertagesstätte, vom Kindergarten in die Schule, von der Schule in die Arbeitswelt, vom Leben als Single in die Partnerschaft, vom Leben als Paar in die Familie, von der Ehe in die Scheidungsbeziehung, von der Erwerbstätigkeit in die Arbeitslosigkeit oder von einer Stelle in eine gänzlich andere. Viele Übergänge sind während der Lebensspanne unvermeidbar, andere müssen nur einen Teil der Menschen bewältigt werden.

Transitionen betreffen in der Regel nicht nur eine Person, sondern auch weitere Menschen, das Beziehungsgeflecht und mehrere Systeme. Sie sind mit zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben verbunden. Zudem erfahren Menschen während eines Übergangs Belastungen und Stress sowie starke Emotionen wie Angst, Unsicherheit, Trauer usw. So müssen sie die Transition nicht nur vom Verstand, sondern auch vom Gefühl her bewältigen.

Während in "primitiven" Kulturen alle Übergänge mit bestimmten Riten verbunden waren bzw. sind, trifft dies in westlichen Gesellschaften nur noch auf wenige Transitionen zu. Beim Übergang vom Kindergarten in die Schule gibt es noch ansatzweise "Riten", z.B.

  • Übernachten der Schulanfänger in der Kindertageseinrichtung,
  • Abschiedsfest/-geschenke, Kinder aus dem Kindergarten "herausschaukeln",
  • Schulanmeldung, ärztliche Untersuchung,
  • Kauf der Schultasche, Schultüte, Familienfest zur Einschulung.

Während des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule stehen sowohl beim Kind als auch bei seinen Eltern große Veränderungen in den Rollen, den Beziehungen und der Identität an. Dies wird beim Betrachten nachstehender Tabellen deutlich.

Ebene des Kindes
  Kita: "Schulanfänger" Schulkind

Status/ Identität

"Schulanfänger"

erfahrenes, selbstbewusstes älteres Kind

Vorbild: leitet jüngere Kinder an

"Schulkind"

eins der jüngsten Kinder an der Schule; unsicher, schwach

alle Kinder sind neu, keine Orientierung an älteren

Rollen

  • Anforderungen
  • Regeln/ Erwartungen

implizites, zufälliges Lernen durch Sinneswahrnehmung, Erkundung, Nachahmung usw.

Spiel

Erziehung/ sozial integrativ

vom Begreifen zum Begriff

Kind wird ganzheitlich gesehen

dürfen Dinge tun

viel Zeit für sebsttätiges Lernen

beim Freispiel selbstbestimmtes Tun

jeder findet Gehör

Kinder sollen einander helfen

flexibel strukturierter Tag

explizites, bewusstes Lernen durch Unterricht, wiederholtes Üben usw.

Leistung

Bildung/ sozial selektiv

vom Konkreten zum Abstrakten

kognitives Lernen steht im Mittelpunkt

müssen Dinge tun

Zeitdruck beim Lernen

still sein, zuhören, sich melden

akzeptieren, wenn nicht aufgerufen

in der Regel kein wechselseitiges Helfen

stark strukturierter Schultag

lernen, Bedürfnisse anders zu regulieren (Kind vermeidet oft zunächst, auf das Klo zu gehen oder das Pausenbrot zu essen)

Beziehungen

  • Erzieherin/ Lehrerin
  • Kinder (Kita/ Schule)
  • Geschwister

geliebte Bezugsperson -> nun Abbruch der Beziehung (Trennungsangst, Schmerz, Trauer)

viele Interaktionen mit Erwachsenen (da kleine Gruppe, zwei Fachkräfte)

viel Interaktion mit jüngeren und gleichaltrigen Kindern

zumeist Abbruch der Beziehungen zu jüngeren Kindern und zu Kindern, die an andere Schulen gehen; einige Freunde bleiben

oft bestimmte Rolle in Gruppe, eher hoher Status

Angst, dass Lehrerin Kind nicht mag oder dass sie "böse" ist. Nach kurzer Zeit aber begeistert von Lehrerin, liebt sie (darf Kind diese Gefühle zeigen?)

ist Kind Hierarchie/ Erziehungsstil der Lehrerin von der Kita oder der Familie her gewöhnt?

wenig Interaktion mit Lehrerin (nur selten außerunterrichtlich/ persönlich)

große Klasse, viele unbekannte Kinder: Kind muss neue Freundschaften schließen, seine Rolle in der Klasse finden

relativ wenig Interaktion mit Kindern, da auf Pausen/ Schulweg beschränkt

Kind vergleicht sich mehr mit anderen (Konkurrenz)

unliebsame Begegnungen mit älteren Kindern (Angst)

Eifersucht, weil jüngere Geschwister weniger Einschränkungen erfahren. Versucht häufiger, sie zu dominieren

Tagesablauf/ -struktur

wenig/ flexibel strukturierter Tag

Ganztagsbetreuung bei Bedarf

stark strukturierter Vormittag (Schulstunden, Pausen)

Schulweg muss eventuell alleine/ mit Bus zurückgelegt werden (Angst vor unbekannter Situation)

falls keine Betreuung nachmittags oft alleine zu Hause (Angst, z.B. vor Verbrechern)

 

Ebene der Familie
  mit "Schulanfänger" mit Schulkind

Status/ Identität der Eltern

"Kindergartenkind"-Eltern

"Schulkind-Eltern", "Hilfslehrer"

Elternrolle

Kind Liebe und Geborgenheit bieten, Bindung fördern

allseitige Entwicklung des Kindes ermöglichen

Verantwortung für Schulleistungen, Hausaufgabenkontrolle, Üben

nach der Schule Stress, Müdigkeit, Ärger, Enttäuschungen, Unlust usw. auffangen

Beziehungen d. Eltern

  • Kind
  • Erzieherin/ Lehrerin
  • Kita-/Schul-
    Eltern/-Kinder

enge, relativ harmonische Beziehung zum Kind

Erziehungspartnerschaft mit Erzieherin, viel Interaktion

Abschied von Erzieherin nehmen

enger Kontakt zu anderen Eltern wegen intensiver Elternarbeit: Welchen erhalten?

zu welchen Kita-Kindern den Kontakt aufrecht erhalten?

Verlustgefühle, Traurigkeit versus Stolz, Freude

zulassen, das Kind selbständiger und selbstbewusster wird

Konflikte wegen Ausfragens des Kindes über Schultag, wegen Hausaufgaben, Schlafenszeit u.a., weil Kind nun Kleidung selbst aussuchen, alleine zur Schule gehen, auf der Straße spielen möchte

zumeist zufrieden/ begeistert von Lehrerin

wenig Kontakt zur Schule, mehr formalisierter Informationsaustausch, direkter Kontakt vor allem bei Problemen

Kontakt zu anderen Eltern aufbauen, bleibt aber gering

Erziehungsziele/
-werte, Regeln

Ziele: Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Autonomie, soziale Kompetenz u.a.

mehr traditionelle Werte: Anpassung an Schule, Pflichterfüllung, Sorgfalt, Ordnung, (kognitive) Leistung

strenger: "Ernst des Lebens" hat begonnen

Tagesablauf/-struktur, Arbeitsteilung

flexibel

Spielraum bei Bring- und Abholzeiten

Ganztagsbetreuung möglich

Kind kann auch einmal zu Hause bleiben

Mutter kann Hausarbeit und Fürsorge für kleinere Kinder mit Betreuungszeiten abstimmen

Mutter kann erwerbstätig sein, da feste Öffnungszeiten und kurze Ferien

klare Struktur des Tagesablaufs: mehr Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit, feste Schlafenszeiten, bestimmte Zeiten für außerschulische Aktivitäten/ Freunde

Mutter muss Hausarbeit und Fürsorge für kleinere Kinder in den Vormittag verlegen, da sie nachmittags Zeit für Hausaufgabenkontrolle und Üben benötigt

wenn Eltern erwerbstätig sind, Probleme bei Unterrichtsausfall/ Ferien (Schuldgefühle, wenn Kind alleine zu Hause)

Mutter übernimmt zumeist Hausaufgabenkontrolle, Vater "übt" eventuell mit Kind

In der Regel freuen sich "Schulanfänger" auf die Schule; Ängstlichkeit und Vorbehalte sind eher selten. Auch sind sie sehr lernmotiviert, möchten z.B. Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Allerdings haben die Kinder zumeist recht ungenaue Vorstellungen von der Schule, selbst wenn sie bereits mit der Kindergartengruppe eine Schule besucht haben. Zumeist fällt ihnen die Transition leichter, wenn ein Schulkind in der Familie lebt, wenn sie Kontakt zu anderen Schulkindern hatten oder wenn ihre Eltern über eigene Schulerfahrungen erzählt haben. Generell gilt: "Rollen sind umso leichter zu erfüllen, je klarer und ausgesprochener die Erwartungen sind, je besser der Einzelne auf sie vorbereitet ist, und je vorhersehbarer Rückmeldungen über das gezeigte Verhalten sind" (Griebel/ Niesel 2002, S. 25). Soziale und personale Kompetenzen sind für die Übergangsbewältigung mindestens genauso wichtig wie kognitive.

Eltern sind zu Beginn der Transition oft ängstlicher als ihre Kinder. So suchen sie Sicherheit, insbesondere hinsichtlich der Schulfähigkeit und Durchsetzungskraft ihres Kindes. Dann beobachten sie es, um z.B. herauszufinden, ob es sich im Kindergarten langweilt bzw. unterfordert ist. Zumeist suchen sie das Gespräch mit der Erzieherin, um deren Meinung zu erfragen. Gelegentlich konsultieren sie sogar eine Erziehungsberatungsstelle.

Zudem versuchen Eltern, möglichst viel über die Grundschule und die dort tätigen Lehrer/innen herauszufinden. So nehmen sie Kontakt mit Eltern auf, die bereits ein Kind an der jeweiligen Schule haben und lassen sich von ihnen informieren. Lehrer/innen werden hingegen eher selten kontaktiert - oft erst dann, wenn die Klassen gebildet werden oder wenn feststeht, wer die Klasse mit dem eigenen Kind übernehmen wird. Dann setzen sich manche Eltern dafür ein, dass ihr Kind mit seinen Freunden in dieselbe Klasse kommt oder neben seinem besten Freund sitzen darf.

In der Regel sind die meisten Eltern optimistisch, was die Bewältigung der Transition durch ihr Kind betrifft; nur einige sind ängstlich. Alle Eltern erwarten aber stark steigende Anforderungen im weiteren Schulverlauf und eine Selektion nach Leistung. Auch erinnern sie sich an die eigene Einschulung bzw. Schulzeit. Eher positive oder eher negative eigene Erfahrungen (auch bezüglich des Verhaltens der eigenen Eltern) färben Stimmung, Erwartungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Eltern.

Nach einer mehr oder minder langen Zeit haben sich nahezu alle Kinder in der Schule eingewöhnt. "Wenn das Kind den Übergang zum Schulkind erfolgreich meistert, gewinnen Eltern vermehrtes Vertrauen, dass das Kind auch zukünftig in der neuen Umgebung vorankommt und etwas leistet" (Griebel/ Niesel 2002, S. 41 f.). Dieses Vertrauen überträgt sich auf die Kinder, die mit Zuversicht ihrer weiteren Schulzeit entgegen sehen. Die erworbene Transitionskompetenz können sie bei zukünftigen Übergängen nutzen.

Literatur

Griebel, W./Niesel, R.: Abschied vom Kindergarten - Start in die Schule. Grundlagen und Praxishilfen für Erzieherinnen, Lehrkräfte und Eltern. München: Don Bosco Verlag 2002

Griebel, W./Niesel, R./Soltendieck, M.: Der Übergang vom Kindergarten in die Schule. Bewältigung durch die ganze Familie. Kita aktuell BY 2000, Heft 2, S. 36-39

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de