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Zitiervorschlag

Anwendung der Systemischen Perspektive in der Frühpädagogik

Armin Castello und Julia Keil

 

Aus der systemischen Perspektive folgt eine Praxis, die in der Arbeitsorganisation, Psychotherapie, Beratung und vielfach auch in der Pädagogik erfolgreich Anwendung findet. Systemisches Denken prägt in vielen Bereichen der Gesellschaft professionelles Handeln, vorwiegend aber noch in den helfenden Berufen (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2003, S. 14).

Pädagogische Fragen werden "systemisch" beantwortet, indem das Fühlen, Denken und Handeln von Kindern innerhalb seines Lebenszusammenhangs und abhängig von diesem verstanden wird (Schwing/ Fryszer 2006, S. 26). Statt des Individuums, welches ein Verhalten zeigt, wird der Kontext, statt intrapsychischer Dynamiken werden Interaktionsprozesse beobachtet (vgl. Simon 1998, S. 7). Statt Ursache-Wirkungs-Beziehungen werden zirkuläre Rückkopplungsprozesse und Interaktionsregeln in den Systemen untersucht, deren Mitglied ein Kind ist. Das Verhalten von Kindern wird in Zusammenhang mit den Merkmalen des Systems verstanden. Im Fokus stehen dabei insbesondere Veränderungen des Systems; Symptome werden als Hinweis interpretiert, dass altes Verhalten nicht mehr passend ist und Neues noch nicht möglich (vgl. von Schlippe/ Schweitzer 2003, S. 108 f.).

Auch in Kitas finden sich zunehmend Methoden, die sich aus der systemischen Theorie ableiten. Systemisches Wissen wird häufig schon in der Ausbildung von Erzieher/innen und Frühpädagog/innen vermittelt, die Bereitschaft zu einschlägigen Weiterbildungen ist groß und das Angebot ist vielfältig.

Wenig ist jedoch bekannt zur Anwendung der systemischen Perspektive, wie sie im Arbeitsalltag sichtbar wird. Im Rahmen einer Pilotstudie sollte deshalb ein Zugang entwickelt werden, um einen Einblick in die systemischen Anteile der Arbeit von Pädagog/innen in Kitas zu bekommen.

Methode

Die Abbildung systemischer Anteile wurde anhand einer qualitativen Untersuchung umgesetzt. Dabei wurde Frühpädagog/innen ein Fallbeispiel aus der frühpädagogischen Praxis vorgelegt, um das pädagogische Denken und geplante Handeln zu erheben, wie es durch die vorliegende Fallinformation evoziert wurde.

Es handelte sich um den Fall eines fünfjährigen Jungen, der immer wieder durch Regelverstöße auffiel und in der Gruppe (der befragten Person) betreut wurde. Es wurde beschrieben, dass er andere Kinder in der Gruppe gezielt und verdeckt misshandelt. Gleichzeitig wurde das Verhalten durch den Jungen bestritten; er zeigte wenig Empathie, war aber selbst sehr unzufrieden und wehleidig. Der Fall schloss mit dem Hinweis: "Sie kommen unter Druck zu handeln, weil sich schon andere Eltern über das Kind beschweren, da es ihre Kinder drangsaliert."

Nachfolgend wurde ein halbstandardisiertes leitfadengestütztes Interview durchgeführt, das verschiedene systemische Anteile pädagogischen Arbeitens fokussierte. In seiner Gesamtheit sollte der Leitfaden abbilden, wie die Befragten im dargestellten Fall verfahren, um dadurch ihre Herangehensweise hinsichtlich wichtiger Aspekte systemischen Arbeitens zu analysieren.

  • Welche Informationen erfragen die Befragten zum Kind und dessen Verhalten?
  • Welche Informationen werden zum erweiterten Lebenskontext des Kindes erfragt?
  • Wie reagieren die Befragten unmittelbar nach dem problematischen Verhalten und längerfristig?
  • Wie wird die Zusammenarbeit mit dem Bezugssystem des Kindes organisiert?

Die Interviews wurden zunächst vollständig transkribiert und danach inhaltsanalytisch ausgewertet. Es fand eine Reduktion und Strukturierung der Ursprungsdaten durch Zusammenfassung und Kategorisierung statt. Die vorliegenden induktiv und deduktiv entwickelten Kategorien - sie sollten sich auf zentrale Merkmale systemischer Praxis und die Äußerungen der befragten Personen beziehen - wurden im Kreislaufverfahren validiert (vgl. Flick 2010, S. 409 ff.).

Durchführung

Im November 2009 wurde das Prozedere in Probeinterviews auf seine Durchführbarkeit hin geprüft, einige Fragen wurden daraufhin modifiziert.

Mit insgesamt fünf Erzieherinnen wurde schließlich ein Interview durchgeführt. Es handelte sich ausschließlich um weibliche Fachkräfte zwischen 23 und 45 Jahren, die zwischen 4 und 25 Jahren an einschlägiger Berufserfahrung hatten. Die Interviewten waren allesamt in Kitas tätig, die Kinder im Altersrange von drei bis sechs Jahren betreuten.

Ergebnisse

Kategorien

Interview 1 Interview 2 Interview 3 Interview 4 Interview 5
Beteiligte Personen
Erzieher

 

 

 

 

 

Kinder in der Kita

 

 

 

 

 

in der Familie

 

 

 

 

 

Beteiligte im weiteren Umfeld

 

 

 

 

 

Lebenskontexte des Kindes
Kernsystem

 

 

 

 

 

weiteres Umfeld

 

 

 

 

 

Wirklichkeitskonstruktionen
der Eltern

 

 

 

 

 

beteiligter Kinder

 

 

 

 

 

anderer Erzieher

 

 

 

 

 

Kybernetik 2. Ordnung

 

 

 

 

 

Hypothesengeleitetes Arbeiten

 

 

 

 

 

Ressourcenorientierung

 

 

 

 

 

Die tabellarische Übersicht zeigt, geordnet nach den entstandenen Kategorien, eine Einordnung der Äußerungen der Befragten zu den fallbezogen geplanten pädagogischen Schritten. Grau unterlegt wurden solche Kategorien (bzw. deren Unterpunkte), in denen die Interviews explizit systemische Anteile erkennen ließen.

Die Ergebnisse werden nun entlang der entwickelten Kategorien zusammenfassend dargestellt: Alle Befragten zeigten insofern eine grundlegend systemische Herangehensweise, als sie nach verschiedenen Akteuren fragten, die am Problemverhalten beteiligt waren. Es zeigten sich aber auch Unterschiede in der Tiefenverarbeitung: Manche fragten lediglich, ob das Verhalten auch zu Hause gezeigt würde, andere erfragten differenziert, unter welchen Kontextbedingungen das problematische Verhalten beobachtet werden konnte. Sehr häufig wurde nach möglichen beteiligten Personen im Umfeld auch außerhalb der Familie und der Einrichtung gefragt. Zwei der Befragten interessierten sich explizit für beteiligte Kinder, zwei weitere erfragten die Beteiligten in der Kita.

In allen Interviews wurde angekündigt, Informationen zum Familiensystem zu erheben, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Unterschiede bestanden darin, dass einige sehr ausführlich nach familientypischen Interaktionsmustern fragten, während andere lediglich wissen wollten, ob die Eltern des Kindes zusammenlebten. Nur zwei Personen erfragten, ob das Kind in seiner Freizeit auch Kontakte außerhalb der Kita hat. Das System Familie stand im Vordergrund, Fragen nach weiteren Lebenskontexten wurden eher selten gestellt.

Lediglich eine Person würde nicht die Sichtweisen Dritter (Teams/ Eltern/ andere Kinder) zum beobachteten Problemverhalten erfragen. Drei Befragte äußerten, in einer Konfliktsituation die Sichtweisen anderer Kinder zu erheben; eine würde Eltern, Teams und beteiligte Kinder sprechen wollen.

Nicht alle stellten gezielt Hypothesen auf, um sie im weiteren Verlauf zu prüfen. Während einige sich sehr ausführlich mit Hypothetisieren beschäftigten ("Und die Eltern in meiner Vorstellung sind jetzt eher traditionell eingestellt, wenn da mal was auf dem Spielplatz ist, dann heißt es 'Ach das ist halt ein Junge und der soll mal die Energie raus lassen' und so stell ich mir die Eltern vor. Die Mutter sehr heimelig und häuslich und kümmert sich viel um die Tochter und der Vater so ein Draufgänger. So wie ich das jetzt im Kopf hab, ist er einfach unterfordert und fängt an die anderen Kinder zu triezen."), äußern andere lediglich dazu, "... dass es eine Entwicklungsstörung sein könne und viele Ursachen in Frage kommen". Von einem Teil der Befragten wurden zirkuläre Hypothesen formuliert.

Ressourcenorientierung (d.h. gezielt Stärken der einzelnen Beteiligten im System zu erkennen und lösungsorientiert zu arbeiten) ließen drei Befragte in Hinblick auf das Kind und die Familie erkennen. Eine zeigte eine große Bandbreite ressourcenorientierten Vorgehens: das Erfragen der Stärken, der expliziten Wertschätzung und der Orientierung an Lösungen.

Diskussion

Es wurden systemische Anteile bei allen Erzieherinnen sichtbar, was den Umgang mit einer alltagsnahen pädagogischen Anforderungssituation anbelangt. Gleichzeitig zeigten sich Unterschiede zwischen den Personen, die als "Profile" bezeichnet werden können. In manchen Bereichen der Arbeit sind individuell systemische Anteile stärker vorhanden als in anderen.

Im Vergleich der unterschiedlichen Berufserfahrung wurde in der Gruppe der Befragten ein Generationenwechsel deutlich: weniger erfahrene Erzieherinnen legten stärkeren Wert auf systemische Anteile, insbesondere die Orientierung an Ressourcen wurde dort mehr gewichtet.

Obwohl zwei Befragte in der gleichen Einrichtung tätig waren, zeigten sich dort Unterschiede in der Analyse ihrer systemischen Anteile.

Systemisches Denken hat sich bei den befragten Frühpädagoginnen größtenteils als selbstverständliches Handwerkszeug etabliert. Das bewusst gesteuerte Anwenden systemischer Methoden sollte aber in Form von praxisorientierten Weiterbildungen in die Frühpädagogik verstärkt einfließen.

Literatur

Flick, U.: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Hamburg: Rowohlt, 3. Aufl. 2010

Schwing, R./Fryszer, A.: Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006

Simon, F.B. (Hrsg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Aufl. 1998

Schlippe, A. von/Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003