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Zitiervorschlag

Aus: klein und groß 2001, Heft 5, S. 30-33

Fliegenpilze leben lang - ein Projekt der Freilandpädagogik

Herbert Österreicher und Edeltraud Prokop

 

Es hat knapp über Null Grad. Die Sonne wird sich heute wohl kaum zeigen. Statt dessen könnte es regnen. Oder schneien. Oder beides und gleichzeitig. Angenehm findet ein derartiges Wetter vermutlich niemand. Oder doch? - Da sind vier Kinder im Alter von etwa 1 bis 5 Jahren, die überhaupt nichts dabei finden, unter diesen Umständen im Freien zu frühstücken. Die Betreuerinnen sehen das zwar anders, aber auch die anderen Kinder der Gruppe, die nun nach und nach von ihren Eltern in die Einrichtung gebracht werden, laufen sofort in den Garten an den Frühstückstisch. Ärgerlich ist nur, dass der Honig nicht fließen will...

Wetter als Angebot

Das Münchner Projekt "Fliegenpilz", ein Projekt zur Betreuung von Kindern zwischen 1 bis 6 Jahren, wird in diesem Jahr fünf Jahre alt. Das zentrale Thema des Projekts ist der Aufenthalt im Freien, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter, im Garten der Einrichtung ebenso wie in der näheren Umgebung. Dieses Programm wurde (und wird) auch von vielen Außenstehenden begrüßt, allerdings nicht ohne skeptische oder warnende Fragen:

  • "Welche Eltern lassen schon ihr Kind bei jedem Wetter, jeden Tag im Freien betreuen?"
  • "Wie werden die Kinder mit Essen und Schlafen versorgt?"
  • "Was ist mit dem Essen und Schlafen?"
  • "Sind diese "wilden Kinder" später auch gesellschaftsfähig?"
  • "Werden die Kinder im Wald gut genug auf die Schule vorbereitet, schließlich gibt es draußen weder Schere noch Papier?"
  • "Verlernen sie nicht den Zugang zu normalen hygienischen Abläufen?"

Es sollte sich aber rasch zeigen, dass diese Sorgen der Erwachsenen nicht nur in vieler Hinsicht übertrieben waren, sondern teilweise an den eigentlichen Bedürfnissen der Kinder regelrecht vorbei gingen. Nach einer schwierigen Anfangsphase (zusätzlicher Zeit- und Kraftaufwand zur Beschaffung neuer Informationen, umständliche oder mühsame Absprachen, Erfordernis verschiedener Genehmigungen) hatte das Projekt "Fliegenpilz" Erfolg.

Nachdem das Projekt anfangs von etwa der Hälfte der befragten Eltern befürwortet wurde, drängen mittlerweile fast alle Mütter und Väter, ihre Kinder in die "Freiland-Gruppe" aufzunehmen, was unter den heutigen Gegebenheiten unmöglich ist. Auch wollen zahlreiche andere Eltern ihre Kinder nur deshalb in dieser Einrichtung anmelden, weil diese Betreuungsform angeboten wird. Hatten wir anfangs noch Zweifel an der Realisierbarkeit dieses Projekts, so besteht heute die hauptsächliche Schwierigkeit darin, diesem Interesse wenigstens annähernd gerecht zu werden.

Was uns rückblickend und auch heute noch fasziniert: Die Kinder der "Fliegenpilz"-Gruppe kehren von ihren Ausflügen nahezu immer in ansteckend-fröhlicher Stimmung zurück. Entgegen aller Befürchtungen und Prophezeiungen ist ihnen kein Tag - auch bei längeren Schlechtwetterperioden - zu kalt, zu nass oder zu anstrengend. Selbst wenn beim Freiland-Frühstück an kalten Wintertagen der ausgeschüttete Tee am Tisch gefriert und der Honig nicht mehr vom Löffel tropft, kann kein Argument der Betreuerinnen die Kinder vom eigentlich Unangenehmen der Situation überzeugen: Dafür ist es wohl zu spät.

Aber die Betreuerinnen beklagen sich nicht. Sie sind zwar - im Gegensatz zu den allermeisten Kindern - der Meinung, dass es durchaus so etwas wie "Sauwetter" gibt, aber letztlich sehen sie ihre Anstrengungen in jeder Hinsicht belohnt: Jeder Tag ist auch für die Erwachsenen immer wieder völlig anders, oft genug überraschend und spannend, die "Arbeitsatmosphäre" ist durchweg geprägt von der vergleichsweise ruhigeren und konzentrierteren Stimmung - und die Wetterverhältnisse sind meist schon für sich genommen ein "Angebot". Das hat offensichtlich sein Gutes: Die Betreuerinnen finden die Tage mit den Kindern im freien Gelände längst selbst deutlich entspannender als die Arbeit in Gruppenräumen, die Bereitschaft, dabei auch etwas "unangenehmere" Witterungsverhältnisse zu ertragen, ist jedenfalls ungebrochen - keine Spur vom Burn-out-Syndrom.

Lebenssituationen werden Lernsituationen

Vor fünf Jahren besaßen die Mitarbeiterinnen der Einrichtung bereits wichtige und positive Erfahrungen mit der Betreuung der Kinder im Gartengelände (das in den Jahren zuvor neu konzipiert und gestaltet worden war). Gerade diese Erfahrungen führten dazu, die Ausweitung des Außenraums anzustreben - aus gutem Grund: Die Lebenswelt der Kinder heute, insbesondere in Großstädten, besteht aus einem sehr reduzierten und eingeschränkten Erfahrungsraum - zumindest bezüglich elementarer Naturerfahrungen. Kinder "werden von der Konsumwelt zunehmend als potentielle Kunden erkannt und zum Ziel der Werbung gemacht, leben in einer hochtechnisierten Welt, einer Medienwelt, erleben Arbeitslosigkeit, die Erwerbstätigkeit der Mütter nimmt zu," verlautbarte schon 1997 das Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit. Wie können wir auf diese Veränderungen der Lebenswelten bei Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern und Familien reagieren?

Die positiven Erfahrungen mit dem veränderten Spielverhalten der Kinder im neu gestalteten Garten sowie ihrem Bewegungsdrang und der Freude am Aufenthalt im Freien waren sicherlich ausschlaggebend für die Gründung des "Fliegenpilz"-Projekts. Im Unterschied zur sogenannten "Waldpädagogik" beschränken sich hier die Aufenthaltsorte nicht auf Waldgebiete, sondern es werden bewusst und regelmäßig auch Orte aufgesucht, die im unmittelbaren Wohnumfeld der Kinder zu finden sind. Dabei entstehen Kontakte zu außenstehenden Personen, die für Kinder wie für Erwachsene spannend sind. Und die Kinder lernen schon früh, sich selbständig und selbstsicher im Straßenverkehr zu bewegen. Diese Unternehmungen finden am besten vor dem Hintergrund einer gewissen Hausanbindung statt. Dadurch wird den Kindern eine Art "Aufenthaltszentrale" geboten, in der sie ihre Eindrücke und Erlebnisse besser verarbeiten können. Wir haben für diese Betreuungsform insgesamt den Begriff "Freilandpädagogik" gewählt.

Die Zielsetzungen dieser Form der Pädagogik mit ihren Ausgangsbedingungen und Ansprüchen könnte man thesenartig folgendermaßen darstellen:

1. Der eigene Körper

Bewegung ist elementares kindliches Bedürfnis. Freies, auch unwegsames Gelände ist ein Trainingsfeld zur Wahrnehmung der Möglichkeiten und Fähigkeiten des eigenen Körpers.

2. Anpassung an den Witterungsverlauf

Der Mensch stellt sich auf unterschiedliche Witterungsverhältnisse ein. Der Körper, der Temperaturschwankungen ausgesetzt wird, lernt sich diesen Verhältnissen anzupassen.

3. Überraschende Situationen

Häufig wechselnde und überraschende Situationen sind Auslöser für unterschiedliche Erfahrungen und Reaktionen, durch die psychisch-emotionale Lernprozesse verstärkt und unterstützt werden.

4. Gruppen- und Solidaritätsgefühl

Kinder in der Ausnahmesituation des Unterwegsseins und häufigen Ortswechsels gehen mit sich und anderen vorsichtiger und verantwortungsbewusster um und zeigen ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit.

5. Kennenlernen von Dingen und Strukturen

Die Entdeckung und Aneignung neuer, unbekannter wie bekannter Dinge führt bei den Kindern rasch zu originellen und eigenständigen Aktionen. Die Funde entwickeln ein Eigenleben; mit Lust und Neugierde experimentieren die Kinder mit ihren Entdeckungen. Das Finden führt zum Erfinden.

6. Räumliche und zeitliche Wahrnehmungen

Die Erfahrung verschiedener Strecken, die Überwindung unterschiedlicher Distanzen und der Aufenthalt in wechselnden Geländen erfordern und fördern Raum- und Entfernungswahrnehmung, Orientierung und zeitliches Vorstellungsvermögen.

7. Suchtprävention

Der Aufenthalt im freien Gelände leistet aufgrund der Förderung von Selbständigkeit, Kreativität und Verantwortungsbewusstsein einen wesentlichen Beitrag für eine gesunde körperliche, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder.

Kinder werden mit den besten Voraussetzungen geboren. Sie sind neugierig, wollen die Welt erobern, sind fantasievoll und experimentierfreudig, wollen ihren Forscherdrang befriedigen. Besonders wichtig ist das bekanntlich in den ersten Lebensjahren, in denen Kinder so intensiv und so umfassend lernen wie nie wieder in ihrem Leben. Die neueren Erkenntnisse der Umweltbildung sowie die entsprechenden entwicklungspsychologischen Beobachtungen belegen den hohen Wert einer persönlichen, unmittelbaren und emotional berührenden Naturerfahrung für die Entwicklung eines positiven Verhältnisses des Individuums zu seiner Umwelt. Allen frühkindlichen Eindrücken und Erfahrungen kommt daher eindeutig eine Schlüsselrolle zu, wobei psychische, motorische, sensorische und kognitive Aspekte ebenso zu berücksichtigen sind wie die Fragen des sozialen Lernens und der Herausbildung von Werthaltungen und Verantwortungsbewusstsein. Der Aufenthalt im Freien, an verschiedenen Orten, in einer gleichermaßen vielfältig strukturierten und anregenden, aber auch nach und nach vertrauter werdenden Umgebung unterstützt diesen Entwicklungsprozess nachhaltig.

So etwa ließe sich die inhaltliche Begründung der Freilandpädagogik zusammenfassen, eine Basis für neue Erfahrungs- und Lebensräume der Kinder, in denen Lebenssituationen zu Lernsituationen werden.

Eindrücke und Bestandsaufnahmen

Im letzten Jahr wechselten die ersten "Freiland-Kinder" in die Grundschule. Abgesehen von der Frage, ob ihnen der Wechsel auf Grund des erheblich veränderten Tagesablaufs Schwierigkeiten bereiten würde, stand (und steht) die Frage im Raum, ob diese "wilden Kinder" nicht doch gewisse Bildungs-Defizite aufweisen. Bei allen bisherigen Beobachtungen seitens der Eltern wie der Lehrkräfte werden beide Problemfelder ausschließlich positiv gesehen: Die betreffenden Kinder sind nicht nur relativ ausgeglichen und belastbar, sondern besitzen durchaus hinreichende Kenntnisse und Fähigkeiten in elementaren Bereichen. Besonders auffallend sind aber ihr Interesse und ihr Aufnahmevermögen neuen Inhalten gegenüber.

Überrascht hat uns das nicht. Schon bei vielen Gelegenheiten während der Ausflüge der "Fliegenpilz"-Gruppe ließ sich beobachten, wie die Kinder auf neue Entdeckungen reagierten, welche Informationen sie aufnahmen, welche Fragen wichtig blieben. Eine Schmetterlingsraupe, unterwegs von einem Jungen gefunden, wird eingehenden Nachforschungen unterzogen: Kaum zurückgekehrt holten die Kinder ein Lexikon und erfuhren Näheres. Es war die Raupe des "Bürstenbinders", ein bizarr schönes Tier, das sich allerdings zu einem ziemlich unscheinbaren Schmetterling entwickeln würde. Mit einem Binokular, einer Stereolupe, wurde das Tier - etwa 40fach vergrößert - betrachtet, bevor es wieder "in die Freiheit" entlassen wurde.

Die Anschaffung des Binokulars steht übrigens im Zusammenhang mit einer der interessantesten "Nebenwirkungen" des Freiland-Projekts: Die Interessen und Aktivitäten der Gruppe führten zur Einrichtung eines Labors, einer Sammlung von Geräten, Werkzeugen und Materialien, mit denen sich unterschiedlichste Arbeiten und Experimente durchführen lassen. Diese Möglichkeiten, über die wir an anderer Stelle bereits ausführlich berichteten (Österreicher/ Prokop 2000), stehen natürlich allen Kindern der Einrichtung zur Verfügung. Für das Projekt "Fliegenpilz" bedeutet diese Ergänzung aber eine nicht unwichtige Aufwertung der Zeiten, in denen die Kinder im Gartengelände der Einrichtung betreut werden: Nun ist es nämlich noch interessanter, unterwegs Gefundenes und Gesammeltes eingehender zu untersuchen, kennen zu lernen und damit unter Umständen auch etwas zu unternehmen.

Eine andere, nicht minder wichtige "Nebenwirkung" hat vor allem mit den Betreuerinnen zu tun: Eine Teamfortbildung, die speziell die heimische Landschaft einschließlich erdgeschichtlich-geologischer Aspekte zum Thema hatte, weckte das Interesse an Gesteinen, Gesteinsformationen und der Entwicklung von Landschaftsformen. Ausgehend von eigenen Funden und ersten diesbezüglichen Arbeiten mit den Kindern wurden bald geeignete Bestimmungsbücher beschafft und wurde eine Reihe neuer Arbeitsansätze diskutiert und entwickelt: Welchen Zugang finden Kinder zum Material "Stein", wenn "plötzlich" Namen, Eigenschaften, Wertbezeichnungen, Entstehungsgeschichte und ähnliches mit "ins Spiel" kommen; oder: Welche naturkundlich relevanten Bezüge ergeben sich aus dem so entstehenden Wissen; und - nicht zuletzt -: Wie kann dieses "neue" Thema in den bestehenden Themenkatalog der Gruppe am besten integriert werden?

Diese und andere Fragen sind letztlich das Ergebnis eines Prozesses, der weit früher begonnen hat und dem das Gelingen eines Vorhabens zu danken ist, das der (notwendigen) Routine des Alltags ein Element der Neugier und Experimentierlust hinzugefügt hat, die Interessen und Bedürfnisse der Betreuungspersonen ebenso berücksichtigend wie jene der Kinder.

Prognose gut, einfach: gut

Auch wenn ein Projekt wie "Fliegenpilz" anfangs unerwartete und ungeahnte Hindernisse mit sich bringt, sollte niemand vor solchen Plänen und Initiativen zurückschrecken. Denn es lohnt sich wirklich: Es sind nicht nur die Kinder, deren Lebensraum enorm erweitert und bereichert wird, sondern auch die damit befassten Erwachsenen gewinnen: Das Arbeitsumfeld von Betreuerinnen und Betreuern wird abwechslungsreicher, anspruchsvoller und interessanter, und die Eltern der betreffenden Kinder erhalten direkt und indirekt ein hohes Maß an positiven Rückmeldungen. Schließlich - und das ist hinsichtlich der derzeit starken Ausrichtung auf "Bildung" vielleicht nicht ganz unbedeutend - führt die entspannte und gleichzeitig anregende Atmosphäre eines "Freilandprojekts" für die Kinder zu einer Vielfalt von Lernerfahrungen, wie sie sonst schwer zu finden sind und in dieser Form wohl von keinem Vorschulprogramm ersetzt werden können.

Das Projekt "Fliegenpilz" konnte in mancher Hinsicht eine Pilotfunktion übernehmen, Dennoch ist es nötig und sinnvoll, dass auch andere Einrichtungen diese Thematik aufgreifen und nach geeigneten Umsetzungsmöglichkeiten suchen. Das Interesse von Eltern an derartigen Betreuungsformen ist groß und wird aller Voraussicht nach noch wachsen, und die Pädagogik sollte dies als Aufforderung, aber auch als Chance sehen.

Literatur

Österreicher, H./Prokop, E. (2000). Bauhütte - Werkstatt - Labor. In: Handbuch Kindertageseinrichtungen, hrsg. von Hildegard Rieder-Aigner, ergänzbare Sammlung. Regensburg: Walhalla

Autor/in

Herbert Österreicher, Dipl. Ing. (FH), ist als freiberuflicher Planer für Außenanlagen an Kindertageseinrichtungen verschiedener Träger sowie als Weiterbildungsreferent im Bereich der Umweltbildung und Naturkunde tätig. Kontakt über: http://www.kinderfreiland.de

Edeltraud Prokop, Kinderkrankenschwester und Erzieherin, leitet eine Kinderkrippe der Stadt München und arbeitet dort mit ihrem Team an Konzepten einer Freilandpädagogik mit erweiterter Altersmischung einschließlich der Integration behinderter Kinder.