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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) 2002, Heft 4, S. 47-49

"Schwulsein ist eine andere Art zu lieben". Männerliebe/ -freundschaft im Bilderbuch

Manfred Berger

 

Soll/darf Homosexualität im Bilderbuch thematisiert werden? Ist es wirklich nötig, Kindergartenkinder, an die sich ja überwiegend Bilderbücher richten, bereits mit Schwulen zu konfrontieren? Lassen Sie mich doch diese beiden Fragen, die manchen so oder ähnlich beim Lesen der Überschrift in den Sinn kommen, erst einmal zurückstellen. Ich möchte vorab eine erfahrene Begebenheit in einem Kindergarten einer Großstadt wiedergeben:

Michael (4,8 Jahre) wollte unbedingt Mann und Frau spielen. Doch kein Mädchen in der Gruppe erklärte sich dazu bereit, die Rolle der Frau zu übernehmen. Nicht weil ihnen Michael unsympathisch wäre, sie waren einfach mit anderen Beschäftigungen oder Spielen voll beansprucht. Nach langer Suche meinte Christian (5,2 Jahre) schließlich: "Wenn du die Frau machst, dann spiele ich mit. Ich bin der Mann". Michael war einverstanden. Er ging sofort an die Kleiderkiste und suchte sich Brautkleider zusammen, denn: "Man ist nur Mann und Frau, wenn man verheiratet ist". Ein Unterrock mit feinen Spitzen war das Hochzeitskleid, ein Vorhang der Schleier. Ganz begeistert war Michael von den ausrangierten "Pumps". Auch Christian suchte sich für seine Rolle die passenden Kleider aus, wobei für ihn der Zylinder von großer Wichtigkeit war. Beide Jungen gefielen sich sichtlich als Frau und Mann. "Nun brauchen wir noch einen Pfarrer, der uns verheiratet", schlug Michael vor. Das Brautpaar begab sich auf Suche. Doch alle befragten Kinder lehnten mehr bis weniger entsetzt ihr Ansinnen ab. Schließlich meinte Bastian (6,2 Jahre) empört: "Schwule dürfen nicht heiraten. Ihr seid ja schwul! Pfui! Schaut euch nur die Schwulen an! Pfui! , Pfui! , Pfui! ... Wie die in der Lindenstraße!" Schnell entledigten sich Michael und Christian ihrer Festkleidung, begleitet vom Gelächter der sie umringenden Kinder. Selbst die Jüngsten der Gruppe (gerade mal 3 Jahre alt) lachten und grölten mit, sicher ohne den eigentlichen Grund einschätzen zu können.

Früh mit Vorurteilen konfrontiert

Dieses Beispiel zeigt, dass Kindergartenkinder "heterosexuelle Verhaltensmuster" internalisiert haben und dem von der Norm abweichenden (spielerischen) Verhalten von Kindern mit Vorurteilen begegnen. Es zeigt aber auch, dass sie bereits schon in jungen Jahren irgendwie mit schwulen Männern konfrontiert werden, in unserem Falle durch das Fernsehen. Ferner wird deutlich, wie Vorurteile weiter transportiert werden. Kinder, die einmal anders sein wollen, werden verspottet, und die Kleinsten der Gruppe werden hellhörig für ein Verhalten, das so nicht in Ordnung zu sein scheint.

Ist der pädagogische Auftrag des Kindergartens nicht auch, Vorurteilen jeder Art entgegenzuwirken? Die Frage bedarf in einer demokratischen Gesellschaft keiner Beantwortung, denn es ist eine Selbstverständlichkeit, dass im Interesse einer humanen Zukunft Toleranz und Verständnis für das Anderssein und andere Lebensformen frühzeitig eingeübt und gelernt werden müssen. Dazu kann das Bilderbuch sicherlich behilflich sein, dem ja in der einschlägigen Fachliteratur wichtige erzieherische/ sozialisierende/ ethische Funktionen zugesprochen werden.

Ausgrenzungen und Tabus

Innerhalb der Kindergartenpädagogik nimmt das Bilderbuch zur Bearbeitung pädagogischer Intentionen einen hohen Stellenwert ein, was durch ein großes Angebot differenzierter und gezielter Einsatzformen zum Ausdruck kommt. Allerdings stellt sich bei näherer kritischer Betrachtung des riesigen Bilderbuchangebots schnell Ernüchterung ein: Trotz gestalterischer und thematischer Vielfältigkeit werden bestimmte Themen ausgegrenzt, einfach negiert. Dazu gehört vor allem die männliche und weibliche Homosexualität. Ist diese Ausgrenzung nicht Ausdruck des noch immer währenden Tabus gegenüber Schwulen?

Ich wurde bis jetzt nur bei vier Bilderbüchern zur Männerliebe/ -freundschaft fündig:

Willhoite, M.: Papas Freund, Magnus Verlag, Berlin 1994, EUR 10,23
Die Eltern eines kleinen Jungen lassen sich scheiden. Papa zieht zu seinem Freund Frank. Der Sohn besucht oft seinen Papa und dessen Lebenspartner. Die beiden Männer unternehmen viel mit dem Jungen. Ihm wird das Zusammenleben der gleichgeschlechtlichen Erwachsenen immer vertrauter. Die Mutter klärt ihren Sohn über Vaters Beziehung zu seinem Freund auf: "Mama sagt, Papa und Frank sind schwul. Erst habe ich das nicht verstanden, deswegen hat sie es mir erklärt. Schwulsein ist nur eine andere Art zu lieben. Und Liebe ist die schönste Art glücklich zu sein. Papa und sein Freund sind sehr glücklich miteinander. Und ich bin's auch."

Haan, L. de/Stern, N.: König & König, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2001, EUR 12,90
Die alte Königin möchte in Pension gehen. Doch zuvor sollte sich der Kronprinz noch verheiraten. Nachdem die Mutter ihren Sohn zu einer Heirat überreden konnte, lud sie mehrere Prinzessinnen ein: Prinzessin Aria aus Österreich, Prinzessin Dolly aus Texas, die grüne Prinzessin aus Grönland, Prinzessin Radschandimaschputtin aus Bombay. Aber für keine erwärmte sich des Kronprinzen Herz. Erst als Prinzessin Liebegunde und ihr Bruder Prinz Herrlich erscheinen, ist es Liebe auf dem ersten Blick. Kronprinz und Prinz werden ein Paar: "Es wurde eine ganz besondere Hochzeit. Vor lauter Rührung musste sich die alte Königin eine Träne aus dem Auge wischen."

Godon, I./Sollie, A.: Warten auf Seemann, Peter Hammer Verlag,, Wuppertal 2001, EUR 12,90
Mattes ist Leuchtturmwärter. Er wartet Tag für Tag auf seinen Freund Seemann und spät nach seinem Schiff. "Mattes weiß genau, wie das Schiff von Seemann aussieht. Er weiß auch noch genau, wie Seemann aussieht. Der tapfere Seemann." Vor lauter Sehnsucht nach seinem Freund hätte Mattes fast seinen eigenen Geburtstag vergessen. Seine Freunde, Rose, Emma und Felix, feiern mit ihm und glauben nicht mehr an Seemanns Rückkehr. Aber am Tag danach ist Mattes nicht mehr da. Das Schlafzimmer und der Maschinenraum sind leer... Ob Seemann doch noch gekommen ist und Mattes mitgenommen hat aufs weite Meer?

Link, M./Schöneich, S.: Komm, ich zeig dir meine Eltern. Edition Riesenrad Verlag, Hamburg 2002, EUR 12,90
Erzählt wird die Geschichte von Daniel, einem in Russland geborenen Jungen, der adoptiert wurde. Zu Hause in Deutschland erwarten ihn zu seinen Eltern noch zwei Omas und drei Hunde. Alle kümmern sich liebevoll um Daniel. Ein ganz normales Familienleben, aber doch irgendwie anders... Daniels Eltern sind Papa und Micha. Und das ist das aus dem Fernsehen bekannte Paar Patrick Lindner und sein Lebenspartner und Manager Michael Link. Diesen Sachverhalt erklärt der Junge mit einfachen Worten so: "Es gibt viele Menschen, die sich lieben, aber keine eigenen Kinder haben können. Das sind nicht immer Mann und Frau, die ein Paar sind. Und die können zusammen leider keine Kinder bekommen. Aber trotzdem wünschen sich viele von ihnen ein Kind, um eine richtige Familie zu sein. Mein Papa und mein Micha wollten auch immer ein Kind haben." - Die Botschaft von "Komm, ich zeig dir meine Eltern" ist klar: Auch homosexuelle Männer können Kinder die nötige Liebe geben, und sie braucht auch keine Blutsverwandtschaft.

Zurück zu den Ausgangsfragen: Ob und wie Kindergartenkinder über Homosexualität informiert und aufgeklärt werden sollen, ist sicher nicht unumstritten. Manche ErzieherInnen vertreten vielleicht die Ansicht, dass diese Form menschlicher Sexualität schlichtweg die Kinder überfordern bzw. nicht interessieren könnte, zumal Homosexualität eine Form der Erwachsenen- und nicht Kindersexualität sei.

Jedoch: die vier Bilderbücher zur gleichgeschlechtlichen Liebe/ Freundschaft gehen nicht auf die (genitale) Homosexualität ein und sind keine Aufklärungsbücher im üblichen Sinne. Sie zeigen nur eine andere Form menschlicher Beziehungen und Verhaltensweisen auf. Mehr nicht. Die Kinder werden feinfühlig, völlig unverkrampft, kommentarlos und vor allem ohne zu werten und zu moralisieren durch die Bilderbücher in die männlich-männliche Lebensrealität eingeführt. Das erleichtert den Zugang zum Thema. Die Lebensrealität der gleichgeschlechtlichen Paare ist für das betrachtende Kind nachvollziehbar, die beschriebenen Gefühle der Trauer, Sehnsucht, Wut, Freude u.a.m. können mit- und nacherlebt werden.

Natürlich ist es nicht nötig, Kindern die Thematik aufzuzwingen. Die genannten Bilderbücher bieten aber durchaus die gute Möglichkeit, über Männerliebe/ -freundschaft ins Gespräch zu kommen, die vielleicht in der Verwandtschaft/ Bekanntschaft oder anderswo dem Kind begegnen.