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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Maria Luise Raskin

Manfred Berger

 

Maria Luise Raskin erblickte am 25. Januar 1909 in Köln als Zwilling unter mehreren Geschwistern (zwei Brüder und zwei Schwestern) das Licht der Welt. Bis zu ihrem Tode am 23. Oktober 2002 lebte und wirkte sie in ihrer Geburtsstadt.

Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester besuchte Maria Luise die Volksschule, dann das Lyzeum und die Frauenschule, anschließend das der Frauenschule angeschlossene Kindergärtnerinnenseminar. Danach trennten sich die Wege der beiden jungen Frauen: Während Zwillingsschwester Leni Mutter von vier Kindern wurde und einem großen Haushalt vorstand, in dem auch verwaiste Nichten und Neffen Aufnahme fanden, sammelte Maria Luise Raskin erste praktische Erfahrungen als Kindergärtnerin in einem städtischen Kindergarten. Durch Vermittlung der Direktorin des Kindergärtnerinnenseminars übernahm sie von 1929 bis 1934 die Stelle einer Privaterzieherin im Hause des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer (1949 bis 1963 erster Bundeskanzler der BRD). Im Frühjahr 1931 nahm Gussie Adenauer sie zu einem Vortrag von Maria Montessori mit. Diesen hielt die Italienerin auf Einladung des "Katholischen Deutschen Frauenbunds" in der Kölner Universitätsaula. Fortan war Maria Luise Raskin von der ersten Ärztin Italiens und ihrem "pädagogischen System" fasziniert. Und so versuchte sie, einige Ansätze der Montessori-Pädagogik in dem von ihr 1934 übernommenen und bis 1939 geleiteten Privatkindergarten (im Kölner Stadtteil Deutz) zu verwirklichen.

Ab 1939 entfaltete Maria Luise Raskin auf dem Boden der Pfarrgemeinde St. Anna, Köln-Ehrenfeld, eine rege religionspädagogische Arbeit. Nachdem sie mehrere katechetische Kurse der Bildungsstätte Elkeringshausen absolviert hatte, erhielt sie die kirchliche Anerkennung als Religionslehrerin: "In diese Jahre fielen auch ihre Aktivitäten in der katholischen Jugendarbeit, die Zusammenarbeit mit privaten antifaschistischen Kreisen, die teils musikalisch-künstlerisch tätig waren. Hierzu gehörten Persönlichkeiten wie Georg Meistermann, Gerhard Dronke, Theo Schmitz und das Ehepaar Adolf und Maria Dronke" (Wachendorf 1994, S. 1).

Da in der Nazizeit Ordensfrauen keine staatliche Ausbildung zur Kindergärtnerin und Erzieherin absolvieren konnten, eröffnete gleich nach dem Krieg in Köln der "Zentralverband katholischer Kindergärten und Horte Deutschlands", unter dem Vorsitz von Prälat Albert Lenné, eine soziale Ausbildungsstätte nur für Ordensfrauen, sozusagen als Wiedergutmachung der jahrelangen Benachteiligung. Maria Luise Raskin, die sich zwischenzeitlich der Ausbildung zur Jugendleiterin unterzogen hatte, übernahm die Leitung dieser Einrichtung (heute: "Berufskolleg des Erzbistums Köln. Fachschule für Sozialpädagogik", Am Krieler Dom). Die zunächst unter primitiven Umständen arbeitende Ausbildungsstätte konnte bald aus einer Baracke in ein neues Haus umziehen, sich erweitern und schließlich auch weltliche Schülerinnen aufnehmen.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Schule zu einer vorbildlichen Anstalt, die in erheblichem Umfang die Montessori-Pädagogik in ihr Ausbildungskonzept aufnahm. Dadurch erhielt sie in gewissem Maße den Charakter einer Montessori-Ausbildungsstätte: "Viele Schülerinnen der Fachschule in Köln - unter ihnen zahlreiche Ordensfrauen - stammten aus anderen Ländern oder wurden in der Weltmission tätig. So kam es, dass wichtige Impulse zur Unterstützung der Montessori-Pädagogik von der Fachschule in Köln bis in andere Länder und Erdteile ausgingen" (Ludwig/ Fischer/ Fischer 2002, S. 144).

Die Schulleiterin selbst hatte in Köln, kurz nachdem der 1. Internationale Montessori-Lehrgang auf deutschem Boden im Jahre 1954 in Frankfurt a.M. stattgefunden hatte, ein Montessori-Lehrgang, unter der Federführung von Helene Helming und unter Mitwirkung von Mario Montessori sen., absolviert. Für ihre Ausbildungsstätte konnte Maria Luise Raskin bekannte Montessori-Pädagogen und Wissenschaftler, u.a. Paul Oswald und Karl Neise, als Dozenten gewinnen.

Trotz ihrer ausgesprochenen Sympathie für die Montessori-Pädagogik blieb Maria Luise Raskin offen für andere pädagogische Konzepte. So schätzte sie nach wie vor Friedrich Fröbel als den großen "Menschenerzieher", dessen Gedanken in ihrer Schule gleichrangig neben den von Maria Montessori standen. Über den Begründer des Kindergartens schrieb sie 1952 zu seinem 100. Todestag: "Fröbels Pädagogik baut auf einer großen Erfahrung und tiefen Erkenntnis der frühen Kindheit auf. Aus seinem Denken und Tun treten uns modernste Erkenntnisse der Tiefenpsychologie und Pädagogik entgegen, z. B. die Bedeutung der frühen Kindheit für die Gesamtentwicklung des Menschen. Diese Erkenntnis bestätigt sich täglich aufs neue und besonders da, wo Erziehungsschwierigkeiten die Entwicklung und Bildung der menschlichen Persönlichkeit bedrohen" (Raskin 1952, S. 58 f).

Trotz ihrer zeitintensiven Tätigkeit als Schulleiterin, als Mitglied in mehreren sozialen/ kirchlichen Verbänden und als gesuchte Referentin zu Fragen der Kleinkinderpädagogik war Maria Luise Raskin noch aktiv publizistisch tätig. Die meisten ihrer Aufsätze veröffentlichte sie in der katholischen Fachzeitschrift "Kinderheim" (heute: "Welt des Kindes"). Dadurch bedingt hatte sie einen maßgebenden Einfluss auf die Entwicklung und Gestaltung des (katholischen) Kindergartens nach 1945 ausgeübt.

In ihren Aufsätzen setzte sich die Verfasserin immer wieder für die Bedeutung und Notwendigkeit des kindlichen (Frei-) Spiels allgemein und insbesondere im Kindergarten ein. Dazu vermerkte die Pädagogin treffsicher: "Das Mittel zur Auseinandersetzung mit der Umwelt ist... das Spiel. Das Spiel steht darum im Mittelpunkt des Kinderlebens. Am Spiel können wir seine körperlich-geistig-seelische Gesundheit erkennen. Spiel unterscheidet sich wesentlich von jeder anderen Beschäftigung. 'Das Tun im vollen Bewußtsein der Spielfreiheit bedeutet erst Spiel im eigentlichen Sinne', formuliert Hildegard Hetzer. Also, das Kind muß frei spielen, tun können, was es spontan als Lebensnotwendigkeit in sich spürt. Spiel entspringt einer inneren Notwendigkeit und kann im wesentlichen nicht von außen dirigiert werden. Es ist wichtig, daß der Spielende sein Tun abbrechen kann. Weder die Freude am Tun noch die selbstgewählte Betätigung allein entscheiden über Spiel und Arbeit, sondern die Freiheit von jedem Zwang. Diese Zwanglosigkeit aber ermöglicht eine Hingabe an die Tätigkeit um des Tuns willen. Und gerade darin liegen die persönlichkeitsbildenden Kräfte des Spieles. Ohne Sucht nach Anerkennung und Erfolg, ohne sich von der Außenwelt abhängig zu machen, lebt und schafft das spielende Kind aus sich heraus und ist in dem Augenblick dem schaffenden Künstler gleich... Der Schwerpunkt allen kindlichen Spiels muß auch im Kindergarten das Freispiel sein. In einem wirklichen echten Freispiel steht jedem Kind jedes Spielzeug und jedes gestaltungsfähige Beschäftigungsmaterial gleichzeitig zur freien Wahl vollkommen zur freien Handhabung zur Verfügung. Die Führung des Freispiels kann richtig und fruchtbar nur von der zurückhaltenden, feinfühlenden und einfühlenden Erzieherpersönlichkeit geleistet werden. Es gehört schon viel pädagogische und psychologische Kenntnis und Erkenntnis dazu, zu spüren, ob, wann und wie eine Hilfestellung gegeben werden muß... Ebenso gepflegt wie das Freispiel im Raum muß das Freispiel draußen im Freien sein...
Wann nun soll der Erzieher Hilfeleistung geben während des Freispiels?
1. Wenn ein Kind innerlich und äußerlich unbeschäftigt ist. Wichtig scheint mir zu erwähnen, daß ein äußerliches 'Nichtstun' nicht allein ausschlaggebend sein kann. Ein beobachtendes Kind oder nachdenkendes Kind ist geistig sehr aktiv.
2. Wenn das Kind nach Anregung und Hilfe verlangt.
3. Wenn das Kind nicht materialgerecht spielt. Darunter verstehe ich, wenn ein Kind auf den Gedanken käme, in Bilderbücher zu malen, oder Knetzeug mit den Füßen bearbeitet, oder anstatt Stoff Papier und Pappe zum Nähen verwendete" (Raskin 1951, S. 158 f).

Nachdem sich Maria Luise Raskin aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen hatte, galt ihr Interesse noch lange in ungebrochener geistiger Frische der Entwicklung "ihrer" Ausbildungsstätte, der Montessori-Pädagogik sowie den neuen pädagogischen Strömungen im Elementarbereich, die sie nicht unkritisch betrachtete. November 1996 übersiedelte sie in ein Seniorenheim, zuletzt betreut von ihren Nichten und Neffen und deren Angehörigen.

Literatur

Berger, M.: Führende Frauen in sozialer Verantwortung: Luise Raskin, in: Christ und Bildung 2003/H. 5

Berger, M.: Raskin, Maria Luise, in: Bautz, T. (Hrsg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Nordhausen 2003, Sp. 1137-1145

Hoerner, L.: Luise Raskin 25.01.1909-23.10.2002. Ihre Lebens-Erinnerungen, Köln o.J.

Ludwig, H./Fischer, Ch./Fischer, R. (Hrsg.): Montessori-Pädagogik in Deutschland, Münster 2002

Raskin, L.: Moderne Kindergartenidee in Theorie und Praxis, in: Kinderheim 1951/H. 4, 153-160

Dies.: Nachklang zum Fröbeljahr, in: Katholische Frauenbildung 1953/H. 1, 58-60

Wachendorf, M.: Frau Luise Raskin, Aachen 1994 (unveröffentl. Manuskript, archiviert im Ida-Seele-Archiv, Am Mittelfeld 36, 89407 Dillingen)