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Zitiervorschlag

Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz in der Kita

Heinz Schlinkert

 

Zusammenfassende Beobachtung zum Fallbeispiel Lara (4 Jahre):

„Lara besucht seit einem halben Jahr eine altersgemischte Gruppe und hat sich recht gut eingelebt. Anfangs wollte sie am liebsten immer nur auf dem Schoß eines Erwachsenen sitzen. Inzwischen nimmt sie rege am Freispiel in der Puppenecke teil und hat Kontakte zu gleichaltrigen Mädchen geknüpft. Seit einiger Zeit beobachtet sie interessiert die Babys, wenn sie gewickelt werden, und macht abfällige Bemerkungen über den ‚dreckigen Po’ der Kinder, sie zeigt darauf und lacht. Beim ‚Malen’ ist der Erzieherin aufgefallen, dass Lara oft flächig in schwarzer Farbe malt, Erklärungen zu ihren Bildern hat sie nicht.

Lara ist auch auf dem Bauteppich aktiv. Sie hat sich dabei mit einem Jungen angefreundet, mit dem sie sich manchmal in die Kuschelecke zurückzieht. Lara hat sich dabei einmal ihre Hose heruntergezogen und hingelegt, ihr Freund hat sie dann mit einem Holzbaustein ‚untersucht’.

Beim Umziehen fiel auf, dass Lara an den Oberschenkeln kleine Verletzungen hat‚ das tut aber nicht mehr weh’, meinte Lara. Ihren Vater kennt Lara kaum, die Eltern haben sich vor 2 Jahren getrennt und Lara sieht ihn nur selten, weil er oft im Ausland arbeitet. Ihre Mutter hat inzwischen einen Freund, der oft bei ihr übernachtet und sich auch um Lara kümmert. Wenn er sie von der Kita abholt, möchte Lara dort oft lieber länger spielen.“

2 x Gefährdungseinschätzung – was stimmt?

>Mit Lara ist ja alles in Ordnung, sie ist ein aufgewecktes Kind und hat sich schnell in die Gruppe eingelebt, so dass sie manchmal sogar noch länger in der Kita bleiben möchte. Sie interessiert sich für Babies und scheint stolz zu sein, dass sie keine Windeln mehr braucht. Sie hat viele Interessen, malt sehr gerne und hat sogar in der Bauecke einen Freund gefunden, mit dem sie dort oft zusammenspielt. Die Trennung von ihrem Vater scheint sie gut verkraftet zu haben und der neue Freund der Mutter kümmert sich um Lara.<

ODER

>Wenn ein Kind sich bei fremden Menschen auf den Schoß setzt, spricht man von distanzlosem Verhalten, das auf Missbrauchserfahrungen hindeuten könnte, auch bei Lara. Auch die abfälligen Bemerkungen über den ‚dreckigen Po’ der Babies könnten auf negative Erfahrungen bei der Hygiene hindeuten. Kinderbilder der Kinder deuten u.U. auf seelische Zustände hin, schwarze Farbe ist da sehr auffällig, weil sie Perspektivlosigkeit signalisieren kann. Der Rückzug mit dem Jungen in die Kuschelecke und das ‚Doktor Spielen‘ sollte unbedingt kritisch beobachtet werden, gerade im Zusammenhang mit Laras unklaren Verletzungen an den Oberschenkeln. Dass der Freund der Mutter in der Wohnung der Familie übernachtet und Lara länger in der Kita bleiben möchte, wenn sie von ihm abgeholt wird, könnte ein Alarmzeichen sein. Vielleicht fühlt sie sich in der Kita sicher, aber zu Hause nicht mehr.<

Was tun? - Was NICHT tun?

Selbstverständlich sollten diese Beobachtungen bzw. Vermutungen in das Teamgespräch der Einrichtung eingebracht werden, bei dem man dann das weitere Vorgehen abspricht. Normalerweise würden zunächst alle beteiligten Fachkräfte das Kind genauer beobachten, dies dokumentieren, evtl. auch mit Fotos, und einen Termin für das nächste Teamgespräch vereinbaren.

Auf keinen Fall sollte man den Detektiv spielen und das Kind direkt befragen. Vorsicht ist auch bei Elterngesprächen geboten. Wenn Eltern ihr Kind wirklich misshandeln, merken sie schnell, wenn die Einrichtung misstrauisch wird. Gegebenenfalls melden sie ihr Kind ab und dann beginnt die ganze Geschichte woanders wieder von vorn.

Gesetzliche Grundlagen

Martin R. Textor hat in diesem Handbuch in dem Artikel ‚Kindesvernachlässigung, Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Kinder rechtzeitig erkennen und angemessen reagieren‘ die Rechtsgrundlagen sehr genau dargestellt.

Ausgehend vom Sorgerecht nach GG und BGB sind hier besonders §8a und §8b SGB VIII relevant. Darüber hinaus gibt es Gesetze, Regelungen und Empfehlungen auf Landesebene und Verträge auf kommunaler Ebene zwischen Jugendamt und Trägern.

Wie gehe ich vor?

Wenn die Leitung bzw. das Team der Einrichtung der Meinung ist, dass ein begründeter Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht, muss die ‚insofern erfahrene Fachkraft‘ hinzugezogen werden. Jeder Träger muss nach SGB VIII §8a über ein Schutzkonzept verfügen und eine für solche Fälle ausgebildete Fachkraft haben. Diese Schutzfachkraft (‚ISO‘-Kraft) berät nur, die Verantwortung bleibt bei der Leitung bzw. beim Träger.

Auf jeden Fall muss eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden, für die beim Träger bzw. beim Jugendamt Checklisten vorliegen sollten. Bei der Auswertung werden Merkmale hierarchisiert. Doktorspiele wären kaum relevant, wogegen Verletzungen an Oberschenkeln schon sehr viel Gewicht haben können. Unbehandelte Krankheiten und Unterernährung bei Kleinkindern könnten sofort zur Inobhutnahme durch das Jugendamt führen (§42 SBG VIII).

Die weiteren Schritte erfolgen nach einer Systematik, die sich aus der Grundlage des jeweiligen Schutzkonzepts ergibt. Wenn sich der Verdacht nicht unmittelbar bestätigt, müssen den Eltern Hilfen angeboten werden, meist in Form von Beratung. Bei begründetem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung muss auf jeden Fall das Jugendamt benachrichtigt werden.

Die Bundesländer haben jeweils weitergehende Regelungen getroffen. Das neue NRW-Kinderschutzgesetz z.B., weist u.a. dazu auf die Empfehlungen der beiden Landschaftsverbände hin, die zwar nicht verbindlich sind, aber deutlich machen, wie Schutzkonzepte aussehen sollten.

Wie es in diesem Fallbeispiel weitergeht, hängt davon ab, was das weitere Vorgehen ergeben hat. Vielleicht haben sich alle Befürchtungen in Luft aufgelöst. Oder sie haben sich bewahrheitet und die Verantwortung für alles Weitere ist auf andere Institutionen übergegangen. Oder aber – und das kommt nicht selten vor – es ergibt sich kein klares Bild und es muss erst einmal weiter beobachtet und dokumentiert werden, wenn auch mit einem ‚komischen Gefühl’ im Bauch.

Wie ein modernes Schutzkonzept aussehen kann, kann man sich am Beispiel des ‚Leitfadens Kindeswohl‘ der Stadt Bochum ansehen.

Literatur

Böwer, Michel; Kotthaus, Jochem, Praxisbuch Kinderschutz Beltz Verlag 2. Aufl. 2023

Schone, Reinhold; Tenhaken, Wolfgang, Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe, Beltz Verlag 2015

Praxisbuch Kinderschutz Cover