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Zitiervorschlag

Aus: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa Bay 1991, 3, S. 58-60

Kleinkindheit heute - Konsequenzen für Kindertageseinrichtungen

Martin R. Textor

 

Was bedeutet es, in unserer Gesellschaft ein Kind zu sein? Was charakterisiert Kleinkindheit heute? Wie kann sich die Kindertageseinrichtung auf die Lebenssituation von Kleinkindern einstellen? Diese Fragen werden sich sicherlich die meisten Leiterinnen und Erzieherinnen immer wieder stellen. In der Form von zehn Thesen möchte ich einige Charakteristika vor allem von Kleinkindheit und die sich daraus ergebenden Folgen für Kindertageseinrichtungen aufzeigen.

1. Kleinkindheit ist Familienkindheit.

Die Eltern sind noch immer die wichtigsten Personen im Leben des Kindes. Es ist von ihnen abhängig, wird maßgeblich durch ihre Erziehung und ihr Vorbild geprägt.

Es ist wichtig, dass die Kindertageseinrichtung die Bedeutung der Familie für das Kind akzeptiert. So sollte sie nicht mit den Eltern um die Liebe und Zuneigung des Kindes konkurrieren. Erst recht darf sie nicht versuchen, die Familie zu ersetzen - wobei diese Gefahr mit Zunahme der Zahl (voll)erwerbstätiger oder alleinerziehender Mütter und Väter und den immer länger werdenden Öffnungszeiten durchaus besteht.

2. Heute gibt es eine Vielzahl verschiedener Familienformen.

Sie werden als eigenständige Varianten mit besonderen Strukturen und Bewältigungsmechanismen begriffen. Keine Form ist generell hinsichtlich ihrer Sozialisationskompetenz den anderen unterlegen: In allen können Kinder zu gesunden Erwachsenen heranreifen.

Die Kindertageseinrichtung sollte die Vielfalt der Familienformen akzeptieren und alle als gleichwertig schätzen. Es ist sinnvoll, die Kinder durch Märchen, Bilderbuchbetrachtungen oder Erzählungen mit allen Formen bekannt zu machen und eventuell bestehende Vorurteile diesen gegenüber abzubauen. So kann Kindern, die zum Beispiel in einer Stieffamilie aufwachsen, geholfen werden, ihre Lebenssituation als normal zu werten.

3. Die meisten Kinder werden heute als Wunschkinder geboren.

Dementsprechend nehmen sie einen wichtigen Platz im Leben ihrer Eltern ein. Diese widmen ihnen viel Zeit und Energie, zeigen viel Verständnis und Zuneigung. Jedoch werden Kleinkinder immer wieder als Hindernisse bei bestimmten Tätigkeiten oder im Prozess der Selbstverwirklichung gesehen. Dann werden sie oft abrupt zurückgewiesen, haben Eltern auf einmal keine Zeit für sie. So ist die Erziehung häufig wechselhaft.

Deshalb ist es notwendig, dass Kinder die Beziehung zum Personal der Kindertageseinrichtung als konstant und verlässlich erleben, also nicht auch dort mit einer inkonsistenten Erziehung konfrontiert werden. Ferner kann Regelhaftigkeit zu einem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit beitragen.

4. Kleinkindheit ist heute oft Einzelkindheit.

Viele Kleinkinder haben keine Geschwister. So sind sie stärker von Erwachsenen (Eltern) abhängig, stellen höhere Ansprüche an sie. Hingegen können sie oft wenige Erfahrungen mit Gleichaltrigen sammeln.

Somit kommt der Sozialerziehung in Kindertageseinrichtungen eine besondere Bedeutung zu. Einzelkinder müssen nicht nur lernen, mit anderen Kindern positive Beziehungen aufzubauen, sondern auch, einen Platz unter vielen zu finden - sie können nicht wie daheim im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sondern müssen die Aufmerksamkeit des Personals mit anderen Kindern teilen und sich einordnen.

5. Kleinkinder werden heute nicht mehr mit eindeutigen Leitbildern konfrontiert.

Es gibt eine Vielzahl der Werte und Normen, eine große Vielfalt an Lebensformen. Lebensläufe sind nicht vorab festgelegt, sondern lassen zunehmend Spielraum für Individualisierungsbestrebungen.

Es ist wichtig, dass die Kindertageseinrichtung diese Vielfalt akzeptiert und verschiedenartigen Werten, Normen und Leitbildern mit Verständnis und Toleranz begegnet. Besonders viel Respekt muss der Individualität eines jeden Kindes entgegengebracht werden.

6. Kleinkindheit ist heute auch durch eine gewisse Labilität der Familienverhältnisse gekennzeichnet.

Gerade jüngere Kinder erleben überdurchschnittlich oft die Trennung und Scheidung ihrer Eltern, wachsen bei Alleinerziehenden oder in Stieffamilien auf. Aber auch Kinder in vollständigen Familien erleben häufig Ehekonflikte und andere Familienprobleme (zum Beispiel Arbeitslosigkeit) mit, sind von der (beruflichen) Überlastung ihrer Eltern betroffen oder sind gar Opfer von Kindesmisshandlungen oder sexuellem Missbrauch.

Kindertageseinrichtungen können sich Familien mit langfristigen Problemen nicht verschließen: Erzieherinnen erfahren viel deutlicher als beispielsweise Lehrer, unter welchen Lebensbedingungen Kinder heranwachsen (persönlicherer und engerer Kontakt zu Eltern und Kindern). So können sie zum einen Kindern aus problematischen Familiensituationen helfen, indem sie ihnen besonders viel Zuneigung, Verständnis und Aufmerksamkeit widmen, ihnen zumindest im Kindergarten ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Zum anderen können sie den Eltern die Hilfsangebote psychosozialer Dienste (Jugendamt, Beratungsstellen, Sozialamt und so weiter) erschließen und in beschränktem Maße die Eltern selbst beraten.

7. Kleinkindheit ist zunehmend von einer Institutionalisierung betroffen.

Kinder verbringen immer mehr Zeit in pädagogisch besetzten Räumen. Sie werden fortwährend von Erwachsenen überwacht und in geplante Aktivitäten einbezogen.

Die Kindertageseinrichtung kann immer wieder auf die Gefahr einer Überforderung von Kindern durch zu viele Aktivitäten und Angebote aufmerksam machen. Zugleich sollte sie Kindern Freiräume lassen, so dass sie sich oft unbeobachtet und selbstbestimmt erleben können. Gerade in Städten, in denen Kinder besonders viel Zeit in pädagogisch besetzten Räumen verbringen, ist es wichtig, dass die Kindertageseinrichtung zur Natur und zum Stadtteil hin offen ist.

8. Kindheit umfasst immer mehr Konsum statt Eigentätigkeit.

Die Kinder konsumieren Spielangebote und werden mit Spielsachen überschüttet, bei denen sich das Spiel auf die Bedienung beschränkt. Für planvolle Produktion, Experimentieren, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten oder das Erlernen von Körperbeherrschung bleibt wenig Gelegenheit.

So ist es sinnvoll, wenn Kindertageseinrichtungen durch Mal- und Bastelangebote, Kochen und Gartenarbeit, Experimente und das Herstellen von Spielsachen die Eigentätigkeit und Kreativität der Kinder fördern. Viele Beschäftigungen und Spiele, aber auch Ausflüge zu Abenteuerspielplätzen oder Aktivitäten in Parks oder in der freien Natur ermöglichen das Erlernen von Körperbeherrschung und leisten auf diese Weise einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung von Selbstvertrauen. Angebote, bei denen Kinder zur Ruhe kommen, können auch der Reizüberflutung entgegenwirken.

9. Kindheit ist zunehmend Medienkindheit.

Viele Kleinkinder schauen bereits stundenlang Fernsehen oder hören mehrere Hörspielkassetten hintereinander ab. Für sie ist wahr, was sich auf dem Bildschirm abspielt - viele Filmszenen können für sie psychisch belastend sein. Sie merken nicht, dass sie "Wirklichkeit aus zweiter Hand" konsumieren.

Den Kindertageseinrichtungen kommen somit wichtige Aufgaben im erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zu: Zum einen kann Kindern ein richtiger Umgang mit Medien nahegebracht werden, können sie mit den Erzieherinnen über sie belastende Filme sprechen. Zum anderen können Eltern über eine kindgerechte Medienerziehung informiert und insbesondere davor gewarnt werden, ihre Kinder durch das Anschalten des Fernsehers "ruhigzustellen".

10. Kinder und ihre Eltern werden zunehmend mit der Kinderfeindlichkeit ihrer Umwelt konfrontiert.

Viele Erwachsene reagieren negativ auf das Verhalten von Kleinkindern: Wohnungen und Wohnumfeld sind nicht kindgemäß gestaltet; Familie und Beruf lassen sich weder bei Vätern noch bei Müttern gut miteinander vereinbaren.

Die Kindertageseinrichtung kann im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit begrenzt der Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft entgegenwirken. Zudem kann sie für Familien zu einem Ort werden, wo sie sich ungestört entfalten können: Die Kindertageseinrichtung der Zukunft könnte ein Ort für Kaffee- und Bastelrunden mit Eltern, Väter-Treffs, Familiengruppen, Elternstammtische oder Familienfreizeiten sein. Sie könnte einen Beitrag dazu leisten, dass sich Familien organisieren und die Rechte der Kinder in der Öffentlichkeit vertreten.

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de