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Zitiervorschlag

Aus: kindergarten heute 1988, 18, S. 134-138

Strukturwandel der Familie: Konsequenzen für die Kindergartenarbeit

Martin R. Textor

 

Wir leben in einer Zeit des rasanten wissenschaftlich-technologischen und sozialen Wandels, von dem auch Familie und Kindergarten nicht verschont bleiben. Beide Sozialisationsinstanzen können sich diesen Entwicklungstendenzen nicht widersetzen. Sie nehmen diese entweder unbemerkt oder bewusst auf. In diesem Artikel soll der Strukturwandel der Familie durch die schematische Gegenüberstellung von Familienformen des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart verdeutlicht werden. Separat für jede Rubrik der nachstehenden Tabelle werden dann Konsequenzen für die Kindergartenarbeit angedeutet.

Familie im 19. Jahrhundert Familie heute
Gesellschaftliche Bedingungen
- Aufschwung der Wissenschaften
- konkurrierende Geistesströmungen
- industrielle Revolution; Ausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung
- Entstehung neuer Bevölkerungsgruppen
- Ausbeutung der Arbeiterschaft
- große Klassenunterschiede
- Urbanisierung; erste Großstädte
- rasches Bevölkerungswachstum: 1800: 24 Mio.; 1871: 41 Mio. Deutsche
- Monarchie, Kaiserreich
- Entstehung des modernen Staates
- Familiengesetzgebung: Festschreibung der patriarchalischen Familienstruktur
- zunehmende Bedeutung des Bildungssystems
- Wertepluralismus; wenig weltanschaulicher Konsens; viele Leitbilder
- dritte industrielle Revolution; soziale Marktwirtschaft
- bessere Aufstiegschancen
- Sozialgesetzgebung; Abbau großer Schichtunterschiede
- Entstehung einer eigenen Jugendkultur; Peergroup sehr bedeutsam
- 2000: 82 Mio. Deutsche
- mehr geheime Miterzieher (Medien)
- Bevölkerungsrückgang
- Parlamentarische Demokratie
- Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches
- viele Ausländerfamilien
- Dauerarbeitslosigkeit
- große Bedeutung des Bildungswesens; Ausgliederung der Kinder
Familie allgemein
- Haushaltsgröße: 1871: 4,6 Personen (Bayern)
- starker Anstieg der Kinderzahl. Zahl der Lebendgeborenen auf 1000 Personen in Bayern: 1818/20: 35,8
- hohe Mütter- und Kindersterblichkeit: Instabilität von Familien, Vielzahl von Stieffamilien, große Altersunterschiede zwischen Geschwistern
- niedrige Scheidungsrate: Scheidungen auf 1000 Eheschließungen: 1836/40: 6 (Bayern)
- Ablösung der Lebensform des "ganzen Hauses" durch die Bürger- und Arbeiterfamilie. Stadtfamilie als neue Form
- in Bauernfamilie bleibt Lebensform des "ganzen Hauses" erhalten: Familie als Produktions- und Versorgungseinheit; Mehrgenerationenhaushalt; Gesinde
- ansonsten Trennung von Arbeitsplatz und Wohnbereich; Familie verliert Produktionsfunktion
- in bürgerlicher Familie Abgrenzung nach außen; Privatheit; häusliche Idylle; Familiensinn
- in Arbeiterfamilie kaum Zeit für Familienleben; niedriger Lebensstandard; schlechte Wohnsituation
- große Rolle der Nachbarschafts- und Verwandtenhilfe: soziale Kontrolle
- Vorherrschen von Ein- und Zweipersonenhaushalten
- abnehmende Kinderzahl; viele Kinderlose
- Geschwister werden selten
- Änderung des Familienzyklus: kurze Phase mit Kleinkindern, längere Phase mit Schulkindern und Jugendlichen, neue Phasen des "empty nest" und der "alten" Familie
- hohe Scheidungsziffern; große Zahl von Alleinerziehenden und Stieffamilien
- kein Kampf ums Überleben: Familie nicht mehr durch äußere Notwendigkeit gestützt
- Auflösung schichtspezifischer Unterschiede zwischen Familienformen
- Mehrgenerationenfamilien sehr selten
- größere Bedeutung der Familie für die Befriedigung emotionaler und kommunikativer Bedürfnisse, für die emotionale Stabilisierung und den Spannungsausgleich (größere Belastung durch den Beruf); weitere Reduzierung der Produktionsfunktion
- nichteheliche Lebensgemeinschaften
- geringerer Einfluss der Verwandtschaft; größerer Freundeskreis; weniger soziale Kontrolle
- mehr Zeit für Familienleben
- bessere Wohn- und Lebenssituation
Partnerwahl
- hohes Heiratsalter (bei Männern um 30 Jahre)
- in Bauernfamilie große Bedeutung zweckrationaler Kriterien wie Mitgift und Arbeitskraft der Frau
- in Arbeiterfamilien Liebesheirat
- in bürgerlichen Familien große Rolle von Mitgift und Elternwille; arrangierte Heirat; oft lange Verlobungszeiten
- niedrigeres Heiratsalter
- geringe Rolle von Verlobungszeit, Mitgift und Aussteuer
- Freiheit der Partnerwahl; kaum noch Mitsprache der Eltern
- Betonung von romantischer Liebe, geistiger Übereinstimmung, Bedürfnis nach Geborgenheit
- "Ehe auf Probe"
Sexualität
- tabuisiert in Bürgerfamilie; kein vorehelicher Geschlechtsverkehr erlaubt; doppelte Moral
- lockerere sexuelle Umgangsformen auf dem Land und in der Arbeiterschaft: viele uneheliche Kinder
- mangelnde Aufklärung
- schlechte Verhütungsmethoden, primitive Abtreibungen
- häufige Schwangerschaften; große Geburtenzahl
- vorehelicher sexueller Verkehr allgemein üblich; positive Haltung gegenüber der Sexualität
- außerehelicher Geschlechtsverkehr relativ häufig
- mehr Kommunikation über Sexualität
- bessere Aufklärung
- bessere Verhütungsmethoden; Abtreibung gesetzlich erlaubt
- knapp zwei Schwangerschaften je Ehe
Geschlechtsrollen/Arbeitsteilung
- das weibliche Geschlecht wird als minderwertig angesehen
- in Bauernfamilien geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
- in Bürgerfamilien stark geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: Frau für Haushalt und Ausgestaltung des Heims zuständig (evtl. auch Dame mit Dienstboten), Mann für das Geldverdienen; expressive und instrumentelle Rolle
- in Arbeiterfamilien aufgrund der Berufstätigkeit der Frau weniger geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
- das weibliche Geschlecht wird als mehr oder minder gleichwertig gesehen; Emanzipation; rechtliche Gleichstellung
- größere Unabhängigkeit der Frau wegen Erwerbstätigkeit; Kinder spielen wegen hoher Lebenserwartung geringere Rolle in ihrem Leben; Auseinanderentwicklung von Frau- und Mutterrolle
- traditionelle häusliche Arbeitsteilung nur wenig aufgelöst
- Kinder leisten kaum noch einen Beitrag zur Haushaltsführung
Familienstruktur/Hierarchie
- patriarchalische Familienstruktur
- in Arbeiterfamilien etwas stärkere Stellung der Frau aufgrund des eigenen Einkommens
- in Bauernfamilien besonders große Macht des Familienvorstandes. Frau hat aber viele Rechte und Macht in ihrem Zuständigkeitsbereich
- partnerschaftliche Familienstruktur
- Väter stehen mehr am Rand der Familie; großer Autoritätsverlust gegenüber früher
- zunehmende Gleichberechtigung von Frau und Kind
- Mutter häufiger Mittelpunkt der Familie; mehr Macht
Freizeitbereich
- wenig Freizeit; selten Urlaub
- wenig kommerzialisierte Freizeitangebote; Urlaubsreisen sind selten
- mehr aktive Freizeitgestaltung; Beteiligung an Durchführung von Festen
- in bürgerlicher Familie Pflege von Klavierspiel, Gesang, Rezitieren und künstlerischer Handarbeit
- viel Freizeit; lange Urlaubszeit
- viele kommerzialisierte Freizeitangebote; lange Urlaubsreisen
- Freizeit mehr außerhäuslich verbracht; mehr Konsum; weniger Beteiligung an Festen; weniger Pflege der Künste in der Familie
- größere Bedeutung von Erholung, Entspannung, Regeneration
Erziehung
- Erziehung zu Gehorsam, Unterordnung, Ordnungsliebe und Fleiß
- stark geschlechtsspezifische Erziehung; je nach Klasse unterschiedlich
- große Rolle der religiösen Erziehung
- autoritärer Erziehungsstil; wenig Rechte der Kinder; große Strenge; Körperstrafen üblich
- Eltern als Vorbilder; fühlen sich in ihrer Erzieherrolle sicher (eindeutige Ziele und Leitbilder): oft Verwandte als Miterzieher
- frühe Selbständigkeit von Kindern
- in Bürgerfamilien Betonung humanistischer Bildung, von Literatur, Kunst und Musik, von höflichen Umgangsformen und angenehmen Manieren
- in bürgerlicher Familie für Söhne Besuch des Gymnasiums und der Universität vorgesehen, für Mädchen evtl. Besuch einer höheren Töchterschule (Einübung in die Haushaltsführung)
- nur Bürgerfamilie ist kindorientiert. Aber große Distanz zwischen Eltern und Kindern
- in Arbeiter- und Bauernfamilien wenig Zeit für Erziehung; der Schulbildung wird wenig Bedeutung beigemessen
- in Arbeiterschaft Erziehung oft durch ältere Geschwister oder Dritte; häufig Vernachlässigung der Kinder; Kinderarbeit
- in Bauernfamilien frühe Einbindung der Kinder in die Hofarbeit; Lernen durch Nachahmung und Mitarbeit; sehr strenge Erziehung
- Kinder in Bauernfamilien stark in das Erwachsenenleben und die dörfliche Gemeinschaft eingebunden
- Erziehung zu Selbständigkeit, Mündigkeit und Reife
- wenig geschlechtsspezifische Erziehung und Schulbildung; Gleichberechtigung von Söhnen und Töchtern
- geringe Rolle der religiösen Erziehung
- partnerschaftlicher Erziehungsstil; große Mitbestimmungsrechte und Freiheiten der Kinder; mehr Eingehen auf Kinder; größere Gesprächsbereitschaft; kameradschaftlicher Umgangston; stärkeres Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern
- längere Abhängigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
- geringere Bedeutung des elterlichen Vorbilds; größere Unsicherheit als Erzieher (konkurrierende Leitbilder und pädagogische Strömungen, gestiegene Ansprüche an Erziehung)
- allgemein große Bedeutung der Bildung beigemessen
- schwächere Strafen; mehr Toleranz
- weniger Hilfe durch Verwandte
- Väter erziehen mehr mit (zumindest bei Kleinkindern)
- größere Umstellung des Familienlebens nach Geburt eines Kindes; mehr Beschäftigung mit Kleinkindern; größere Kindorientiertheit
- Kinder häufiger als Belastung erlebt
- viele "Schlüsselkinder"
- nur noch selten Einführung in Berufswelt durch Eltern möglich; Kinder gewinnen nur selten Vorstellung von beruflichen Tätigkeiten und Problemen der Eltern


Gesellschaftliche Bedingungen

Der Kindergarten darf sich gegenüber der Außenwelt nicht verschließen. Er muss Lebenswelt sein, d.h. für das Familienleben, die Arbeitswelt, den heimischen Kulturraum, das Gemeindeleben usw. offen sein. Hierzu bieten sich Aktivitäten wie die Besichtigung kommunaler, kultureller oder kirchlicher Einrichtungen, die Teilnahme an Festen, an Theaterproben oder an im Freien stattfindenden Musikaufführungen, aber auch der Besuch von Eltern an ihrem Arbeitsplatz an. Lebensweltbezogene Themen können natürlich auch in tagtäglichen Beschäftigungen aufgegriffen werden. Ferner kann der Kindergarten einen Beitrag zur Demokratisierung und zum Abbau gesellschaftlicher Spannungen leisten, indem Kindern beispielsweise gelehrt wird, gemeinsam Entscheidungen zu fällen und Konflikte auszutragen (Kinderkonferenzen), oder indem Verständnis für Ausländerkinder und deren Lebensverhältnisse geweckt wird.

In kleinem Rahmen kann der Kindergarten auch negativen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenwirken. So sollte er ein Bollwerk gegen die Hektik, die Unruhe und den Stress unserer Zeit sein, also den Kindern eine kontinuierliche und längerfristige Teilnahme an Spiel und Arbeit ermöglichen, ihre Konzentrationsfähigkeit fördern und ihnen eine regelhafte und verlässliche Umwelt bieten. Auch muss er seinen pädagogischen Auftrag gegenüber Tendenzen wie der Flexibilisierung der Öffnungszeit schützen, die ihn wieder mehr zu einer Kinderbewahranstalt werden ließen (sinnvollere Alternativen wären z. B., wenn Kindergartengruppen zu verschiedenen Zeiten beginnen würden). Weitere wichtige Aufgaben des Kindergartens sind Medien- und Umwelterziehung, um Kinder auf einen verantwortlichen Umgang mit der Natur und den Medien vorzubereiten.

Familie allgemein

Die abnehmende Familiengröße und die Verkleinerung des Verwandtensystems haben zur Folge, dass die soziale Erziehung im Kindergarten immer mehr an Bedeutung gewinnt. So müssen vor allem Einzelkinder lernen, sich in Gruppen einzuordnen und mit Gleichaltrigen bzw. Gleichgestellten umzugehen. Aufgrund der zunehmenden Ausgliederung alter Menschen aus Familie und Gesellschaft sollte Kindern auch der Umgang mit Senioren erfahrbar gemacht werden. Hierzu bieten sich z. B. regelmäßige Besuche in Altersheimen und Altenbegegnungsstätten sowie gemeinsame Aktivitäten mit älteren Menschen an. So kann auch der große Erfahrungsschatz von Großeltern und Urgroßeltern genutzt werden, die sehr interessant über ihre Kindheit und Jugend, die Kinderbewahranstalten und Schulen der damaligen Zeit, das Familien-, Dorf- und Stadtleben sowie die Ausübung von Berufen vor vielen Jahren berichten können.

Ferner wird der Kindergarten neben der "klassischen" kompensatorischen Erziehung (d.h. dem Ausgleich schichtspezifischer Sozialisationsbedingungen) auch vermehrt negative Folgen von Familienproblemen und -konflikten ansatzweise ausgleichen müssen. Abgesehen von erzieherischen und heilpädagogischen Maßnahmen könnte der Kindergarten auch die Hilfsangebote von Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbänden und Jugendämtern bekanntmachen und erste Kontakte herstellen. Aufgrund der geringer werdenden sozialen Kontrolle durch Verwandte und Nachbarn muss der Kindergarten auch vermehrt eine gewisse "Kontrollfunktion" gegenüber der Familie übernehmen, also bei Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch geeignete Maßnahmen einleiten. Ferner wird der Kindergarten vermehrt die Probleme von Scheidungs- und Stiefkindern auffangen sowie besondere Angebote für die Kinder Alleinerziehender entwickeln müssen. So sollten z.B. männliche Praktikanten für den Kindergarten gewonnen werden, die den letztgenannten Kindern als männliche Rollenmodelle dienen können. Schließlich muss sich der Kindergarten auch auf Kinder aus Wohn- und nichtehelichen Lebensgemeinschaften einstellen und ihnen Toleranz und Verständnis entgegenbringen.

Partnerwahl/Sexualität

In diesem Bereich kommt dem Kindergarten in erster Linie die Aufgabe der Geschlechtserziehung zu. So sollten Kinder zu einem natürlichen Umgang mit ihrem Körper erzogen werden, wozu oft Hemmungen abgebaut werden müssen. Zudem sollten sie die Geschlechtsunterschiede kennen lernen. Für Erzieher kann es zu einem Problem werden, wenn sie von Kindergarteneltern mit einer extrem konservativen oder einer extrem offenen Haltung zur Sexualität konfrontiert werden. Hier muss durch Maßnahmen der Elternarbeit, -beratung und -bildung versucht werden, ein "gesundes" Mittelmaß zu finden.

Geschlechtsrollen/Arbeitsteilung

Auch der Kindergarten sollte seinem Beitrag zur Gleichbewertung der Geschlechtsrollen in Familie und Gesellschaft leisten. Das beginnt schon damit, dass geschlechtsspezifische Zuschreibungen z.B. bei Märchen, Erzählungen oder Gesprächen (über Berufsbilder, Hobbys usw.) vermieden werden. Dabei dürfen Geschlechtsunterschiede aber auch nicht verneint werden. Bei Beschäftigungen sollten Jungen und Mädchen ohne Benachteiligung eines Geschlechts mitwirken dürfen; weder Kinder noch Erzieherinnen dürfen z.B. einen Buben lächerlich machen, wenn er häufig in der Puppenecke spielt. Werden im Kindergarten Haushaltsaktivitäten wie Kochen, Abwaschen oder Aufräumen praktiziert, sollten Jungen und Mädchen gleichermaßen zu ihnen herangezogen werden.

Familienstruktur/Hierarchie

Hier sollte der Kindergarten die Entwicklung hin zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in Familie, Beruf und Gesellschaft unterstützen. So sollten Jungen und Mädchen im Kindergarten gleichgestellt sein und lernen, partnerschaftlich miteinander umzugehen.

Hierzu ist es wichtig, dass sie lernen, wie man Konflikte friedlich löst, dass man kompromissbereit sein muss und kann, wie man am besten einen eigenen Standpunkt vertritt, dass man sich in andere hineinversetzen und sie auf diese Weise besser verstehen kann usw. Es müssen also kommunikative und Problemlösungsfertigkeiten, Toleranz, Intuition, Introspektion und ähnliche Fähigkeiten gefördert werden. Die Kinder sollten aber auch lernen, dass Regeln und ein gewisses Maß an Ordnung notwendig sind und sie sich in bestimmten Situationen unterordnen müssen. Ferner sollten Erzieherinnen versuchen, mehr als bisher die Väter zu erreichen, für die Erziehung ihrer Kinder zu interessieren und in die Kindergartenarbeit einzubeziehen.

Freizeitbereich

Im Kindergarten können Kinder auf einen sinnvollen Umgang mit der Freizeit in der Familie vorbereitet werden. So müssen sie vermehrt lernen, sich selbst zu beschäftigen und zu agieren, anstatt nur zu konsumieren. Beispielsweise können musische und künstlerische Aktivitäten, Spiel und Gesang gefördert und kreative Fähigkeiten geschult werden, kann zur Entwicklung von Hobbys motiviert und können Feste (ohne andere Erwachsene!) gemeinsam geplant, vorbereitet und durchgeführt werden. Kinder müssen aber auch vor Überforderung geschützt werden, wenn sie nach dem Kindergarten noch viele andere Einrichtungen, wie z.B. Musik- und Ballettschulen, besuchen müssen. Hierzu können Elternabende und Einzelgespräche dienen, bei denen auch auf die großen Leistungen des Kindergartens in Bereichen wie Rhythmik, Bewegungserziehung und musikalische Frühförderung hingewiesen werden kann.

Familienerziehung

Generell sollte der Kindergarten ähnliche Erziehungsziele wie die Eltern vertreten, also z.B. die Mündigkeit und Selbständigkeit der Kinder fördern. Jedoch muss er auch vernachlässigte Ziele aufgreifen. So sind sich viele Eltern wohl der Bedeutung einer religiösen Erziehung bewusst, erwarten aber vom (kirchlichen) Kindergarten, dass er diese Aufgabe übernimmt. Ferner sollten Erzieherinnen die Lernmotivation, Leistungsbereitschaft, Intelligenz und Kreativität der Kinder fördern - sich aber auch Bestrebungen der Eltern widersetzen, aus dem Kindergarten eine "Schule vor der Schule" zu machen.

Wie die meisten Eltern sollten Erzieherinnen einen partnerschaftlichen Erziehungsstil praktizieren, also auf die Kinder eingehen, gesprächsbereit sein und ihnen viele Gelegenheiten zur Mitbestimmung einräumen. Oft ist aber auch wichtig, den Kindern zu lehren, dass Regeln und Normen wichtig sind und eingehalten werden müssen, dass Autorität respektiert werden muss und Höflichkeit, Freundlichkeit und guten Sitten für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Da manche Kinder daheim mit der Unsicherheit und wechselhaften Erziehung ihrer Eltern konfrontiert werden, ist es wichtig, dass Erzieherinnen einen eindeutigen Erziehungsstil zeigen, konsequent sind und sich selbst bewusst als Vorbild einsetzen.

Offensichtlich ist, dass der Strukturwandel der Familie und die rasanten Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur neue Aufgaben an den Kindergarten stellen. Sie verlangen eine weitere Pädagogisierung dieser Einrichtung, eine bessere Aus- und Fortbildung des Personals, die Entwicklung zusätzlicher Angebote (z.B. für Familien oder verhaltensauffällige Kinder) und die bewusste Übernahme präventiver, heilpädagogischer und kompensatorischer Aufgaben. Der Öffentlichkeit muss bewusst gemacht werden, dass der Kindergarten für die Entwicklung von Kindern immer wichtiger wird und deshalb eine bedeutendere Stellung im Bildungssystem haben sollte.

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de