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Zitiervorschlag

Aus: WWD 2001, Ausgabe 75, S. 8-9

Kinder spielen sich ins Leben - Der Zusammenhang von Spiel- und Schulfähigkeit

Armin Krenz

Es gibt immer wieder drei Kernbereiche in der Elementarpädagogik, die in periodischem Abstand dazu auffordern, immer wieder die hohe Bedeutung des Spiels für die Entwicklung von Kindern herauszustellen. Zum einen sind es die ernst zu nehmenden Fragen von Eltern, die spätestens im letzten Kindergartenjahr danach fragen, ob denn nun auch "etwas Richtiges" gelernt und damit weniger gespielt werde. Zum anderen bleibt nach wie vor - je nach Umfeld, Region und Bundesland sehr unterschiedlich stark - die alte Frage, ob denn vorgezogene "Vorschularbeit" nicht besser für die weitere Entwicklung der Kinder sei als "nur zu spielen". Und schließlich gibt es die "neue" Diskussion um die gezielte Erfüllung des Bildungsauftrags der Kindertagesstätten, obgleich diese Frage schon 1970 durch die deutlichen Aussagen des "Deutschen Bildungsrates" eindeutig und fachlich kompetent beantwortet wurde.

Spiel ist keine Spielerei

Das Spiel(en) hat im Leben von Kindern weder etwas mit zufälliger Freizeitgestaltung noch mit einer rein lustbetonten Tätigkeit zu tun. Es ist kein Nebenprodukt einer Entwicklung noch ist es ein verzichtbares Produkt im Lebenszyklus eines Menschen! Das Spiel ist gewissermaßen der Hauptberuf eines jeden Kindes, das dabei ist, die Welt um sich herum, sich selbst, Geschehnisse und Situationen, Beobachtungen und Erlebnisse im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen.

Und neben dem Elternhaus als basale Entwicklungsinstitution, in der das Kind individuelle und kommunikative Fähigkeiten aufbauen kann, ist der Kindergarten der Ort, an dem das begonnene Fundament gefestigt und ausgebaut werden kann. Nicht durch irgendwelche gezielten Förderprogramme oder Trainings, sondern mit Hilfe der Vielfalt des Spiels. Darauf haben schon vor vielen Jahren Entwicklungspsychologen hingewiesen, darauf weisen heutige Entwicklungsforscher noch dezidierter hin. So hat das Spiel grundsätzlich drei Funktionen in sich vereint:

Erstens ist das Spiel von ganz entscheidender Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes; zweitens ist das Spiel der Nährboden für einen darauf aufbauenden Erwerb von notwendigen schulischen sowie beruflichen Fähigkeiten und drittens gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Spiel- und Schulfähigkeit. Wer daher das Spiel der Kinder durch Eingrenzungen beschneidet, ist mitverantwortlich für daraus resultierende Folgen im personalen und schulischen Verhalten von Kindern. Es ist schwer verständlich und noch schwerer nachzuvollziehen, dass einerseits eine Zunahme von Einschränkungen der Schulfähigkeit schulpflichtiger Kinder immer häufiger beklagt wird, andererseits festgestellt werden muss, dass die Spielfähigkeit von Kindern in gleichem Maße immer weniger ausgeprägt ist. Gleichzeitig wird das Spiel(en) der Kinder durch "besondere Förderangebote" zerrissen und zeitlich beschnitten. Ein Widerspruch, der offener nicht zutage treten kann.

Spielen bedeutet: Erwerb von Kompetenzen

Alles, was Kinder sehen und hören, fühlen, in Händen halten und begreifen, wird schnell zum Spiel. Ob es das Ziehen von Mustern auf dem Kartoffelbrei, das Selbstunterhaltungsspiel beim Anziehen, das Grimassenziehen beim Waschen vor dem Spiegel, das Aufheben und Werfen eines Steines oder das Klettern auf einen Baum ist: Sofort entsteht schnell eine Spielhandlung. Es ist die "handelnde Auseinandersetzung" der Kinder mit ihrer gesamten Umwelt. Kinder wollen sie entdecken, verstehen, sich ihren Gesetzmäßigkeiten annähern und sich mit unbekannten Dingen vertraut machen. Für Kinder gibt es - Gott sei Dank - noch keine Routine, keine Gewohnheiten, keine Verhaltensmuster. Es ist ihre Welt der ständigen Begegnung mit Neuem und mit Handlungsmöglichkeiten, die wiederum die Kinder als eine völlig natürliche Handlungsmotivation/-provokation erfassen. Entsprechend dem Motto "Das Unbekannte muss bekannt werden, das Neue wartet auf eine persönliche Entdeckung, das Reizvolle will erlebt werden!"

So wundert es nicht, wenn Spieleforscher davon ausgehen, dass Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr ca.15.000 Stunden spielen (müssen!). Das sind ca. 7 - 8 Stunden pro Tag! Hier kommt die entwicklungspsychologische Lernfolge bei Kindern zum Tragen: Zunächst geraten sie in ein gefühlsmäßiges Ungleichgewicht zwischen Wahrnehmen und Etwas-erfahren-Wollen. Dann gehen Kinder der provozierten Tätigkeit nach, indem sie handelnd tätig werden. Nun gerät ihre Emotionalität in einen Wechsel von Spannung und Entspannung. Schließlich machen sie sich ihre Gedanken über das, was war und ist und denken darüber nach, was werden kann/soll. Einzelne, bedeutsame Erfahrungen verknüpfen sich zu Ein-, An- und Aussichten, die in ähnlichen Situationen wiederverwendet oder vorher verworfen wurden, übertragbar sind oder verändert werden müssen. Dadurch finden Kinder ihre Standpunkte, lernen Situationen und Gegenstände einzuschätzen, können Dinge/Geschehnisse wiedererkennen und entsprechend ihrer besonderen Sinnhaftigkeit zuzuordnen.

Kinder, die viel und intensiv (beachtenswert: Quantität und Qualität) spielen, nehmen dabei ihre Besonderheit, ihre Einmaligkeit, ihre Handlungsmöglichkeiten und -grenzen, ihre Gefühls- und Gedankenwelt wahr. Diese provozieren sie, noch tiefer in das entsprechende Spielgeschehen einzutauchen. Seit Jahren ist aus dem Feld der Spielforschung bekannt, dass Kinder, die viel und intensiv spielen, gerade in allen vier Kompetenzbereichen einer erfolgreichen Lebensgestaltung folgende Verhaltensmerkmale auf- und ausbauen:

a) im emotionalen Bereich: Erkennen, Erleben und Verarbeiten von Gefühlen; besseres Verarbeiten von Enttäuschungen und Versagungen; leichteres Ertragen von eindeutigen Situationen; geringere Aggressionsbereitschaft; stärker ausgeprägte Belastbarkeit; größere Ausdauer; Erleben einer größeren Zufriedenheit; ein gleichwertigeres Verhältnis der Grundgefühle Angst, Freude, Trauer, Wut.

b) im sozialen Bereich: besseres Zuhören-Können bei Gesprächen; geringere Vorurteilsbildung anderen Menschen gegenüber: bessere Kooperationsbereitschaft; höheres Verantwortungsempfinden; höhere Regelakzeptanz, bessere Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten; intensivere Freundschaftspflege.

c) im motorischen Bereich: Kinder besitzen hier eine raschere Reaktionsfähigkeit, eine fließendere Gesamtmotorik, eine bessere Auge-Hand-Koordination und eine differenziertere Grob- und Feinmotorik, ein besseres Balance-Empfinden für ihren Körper sowie eine gelungenere Absichtssteuerung.

d) im kognitiven Bereich: Kinder zeigen ein besseres sinnverbundenes Denken (logisches Denken), eine höhere Konzentrationsfertigkeit, bessere Gedächtnisleistungen, eine höhere Wahrnehmungsoffenheit, einen differenzierteren Wortschatz, eine differenziertere Sprache, ein besseres Mengen-, Zahl-, Farb- und Formverständnis, eine größere Fantasie und ein klügeres Durchschauen von Manipulationsversuchen. Kinder lernen im Spiel also gerade die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die notwendig sind, ein selbstständiges, selbstverantwortlicheres und teilautonomes Leben zu führen, Situationen zu entschlüsseln und mitzugestalten, Notwendigkeiten für ein soziales Verhalten zu erkennen und fremde sowie eigene Wünsche und Bedürfnisse miteinander abzuwägen. Es ist erstaunlich, das also gerade das Spiel der Kinder die in ihnen liegenden Potentiale unterstützt und sie in der Lage sind, gerade die Fertigkeiten zu entwickeln, die auch für einen späteren Schulbesuch erforderlich sind.

Spielen ist Lernen

Solange der Begriff "Lernen" als eine Ansammlung von Wissen verstanden wird, solange wird sich auch das Vorurteil halten, Lernen sei lediglich das Ergebnis von gezielten Angeboten zur Erweiterung des Wissens. Vielleicht liegt darin auch der Grund, dass Lernen immer noch als ein Produkt sichtbarer Arbeit des Kindes bewertet wird, welche Liedtexte es kann und welche Bücher es kennt, ob es seinen Namen schreiben kann oder welche geometrischen Formen es zu unterscheiden in der Lage ist. Diese Vorstellung von Lernen bzw. Schulfähigkeit gehört schon lange der Vergangenheit an, und es ist erschreckend festzustellen, dass manche Erzieher(innen) und Grundschullehrer(innen) immer noch an dieser überholten, falschen Einschätzung festhalten. Kinder "lernen" notwendige Kompetenzen "nebenbei" - gerade ohne gezielte kognitive Lernangebote. Insoweit wird seit langem das Lernen als ein "Auf- und Ausbau von Verhaltensweisen und deren Verinnerlichung" verstanden. Das Spiel(en) bietet dafür die reichhaltigste Palette. Kinder handeln in sinnverbundenen Lebensbezügen und qualifizieren dadurch ihre Kompetenzen, die sie für ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben brauchen.

Allerdings - und das erscheint in heutiger Zeit besonders beachtenswert - nur dann, wenn sie auf eine Pädagogik im Elternhaus und Kindergarten treffen, die ihnen auch die ganze Erfahrungsfacette des Spiels ermöglicht, sie gemeinsam mit Kindern erleben und lebendig in Spielhandlungen umsetzen: Entdeckungs- und Wahrnehmungsspiele, Gestaltungs- und Geschicklichkeitsspiele, Konstruktions- und Bauspiele, Steck- und Strategiespiele, Bewegungs- und Musikspiele, Finger- und Handpuppenspiele, Schatten- und Marionettenspiele, darstellendes Spiel und Interaktionsspiele, Aggressionsspiele zum Austoben und Ruhe-/Meditationsspiele, Rollen- und Emotionsspiele, Imitations- und spannende Planspiele, Märchen- und Mobilitätsspiele. Aufgabe der Pädagogik ist es daher, nicht primär dem sogenannten "freien Spiel" die Hauptbedeutung zuzuweisen. Vielmehr geht es darum, Kindern dabei zu helfen - aktiv und engagiert - , diese vielen Spielformen zu entdecken, um dadurch erst eine Spielfähigkeit auf- und anschließend auszubauen. Kinder "spielen lassen" ist daher ebenso wenig hilfreich wie eine spielunterdrückende Atmosphäre. Kinder können selbstverständlich erst dann im freien Spiel ihre Möglichkeiten ausschöpfen und erweitern, wenn sie die Grundlage einer Spielfähigkeit verinnerlicht haben. Erst dadurch können Kinder mit dieser Basisfähigkeit eine Vernetzung der zwei Welten herstellen: ihrer seelischen Innenwelt und der dinglichen Außenwelt.

Konsequenzen für die Elementarpädagogik

Die Notwendigkeiten für die Elementarpädagogik liegen auf der Hand: die Spielfähigkeit als eine kindeigene, lebensnotwendige Ausdrucks-, Erfahrungs- und Erlebniswelt muss verstärkt aufgebaut werden, um Kindern ihren ursprünglichen Reichtum an Ausdrucksverhalten und den vielfältigen, damit verbundenen Lernmöglichkeiten wiedererlebbar zu machen. Kinder brauchen daher keine neuen Lernprogramme, geschweige denn spielzeugfreie Kindertagesstätten. Was Kinder brauchen, ist eine unmittelbare Welt und ein entsprechendes Bedingungsgefüge, die ihnen erlauben, intensives Spielen mit aktiven Erzieher(inne)n und Eltern als Mitspieler(innen) zu erleben. Spielen unterstützt die Lernfreude, die Lernmotivation und damit die Neugierde. Albert Einstein hat einmal über sich berichtet, dass er bekannterweise nicht besonders begabt sei oder in irgendwelcher Art und Weise vorschulisch getrimmt wurde. Allerdings sei er stets besonders neugierig gewesen. Heute weiß man, dass Neugierde die Voraussetzung zum Lernen ist. Und der allen bekannte Entwicklungspsychologe Piaget meinte: "Alles, was wir die Kinder lehren, können sie nicht mehr selbst entdecken und damit wirklich lernen." Spiele vollziehen sich nicht in Linie auf irgendwelchen Tischen, sondern geschehen dort, wo das Leben pulsiert: in spannenden Projekten, in Höhlen und Buden, auf Bäumen und auf dem Boden, in selbst gebauten Hütten, im Wald und auf Wiesen, in Knicks und im Buschwerk, beim Hämmern und Sägen, Laufen und Buddeln, Schätzeentdecken, bei lebendigen Festen und geheimnisvollen Erkundungen. Dort spielt sich das wirkliche Leben ab.

Literatur

Gottman, Hohn: "Kinder brauchen emotionale Intelligenz", München, 1997

Huber, Andreas: "Stichwort Emotionale Intelligenz", München, 1996

Mogel, Hans: "Psychologie des Kinderspiels", Berlin, 1994

Oerter, Rolf: "Psychologie des Spiels", Weinheim, 1999

Seitz, Rudolf: "Phantasie und Kreativität"; München, 1998

Biographie

Dr. Armin Krenz, Jahrgang 1952, Dozent am "Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik" Kiel, zugelassen zur heilkundlich, psychologisch-therapeutischen Tätigkeit. Schwerpunkt der Arbeit: Forschung und Fortbildung im Arbeitsfeld der Elementarpädagogik (kindeigene Ausdrucksformen) mit Lehraufträgen.