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Zitiervorschlag

Aus: "Das andere Theater", 1999, 9. Jg., Heft 4, S. 4 - 8. Copyright bei der Autorin

Lust an Berührung: "Unter dem Tisch" - Festival für die ganz Kleinen an der Schaubude. Puppentheater Berlin

Anke Meyer

 

"Keine Theaterform wird so mit Klischees bedacht wie das Puppentheater. Am vollkommensten dann, wenn es sich um eine Inszenierung für ganz kleine Kinder handelt. Erwachsene glauben oft zu wissen, welche Art Theater kleine Kinder brauchen, welche Theatersprache sie verstehen. Der Kanon der Irrtümer ist in diesem Falle missklingender als sonst, denn die Vorstellungen und Ideen kollidieren ungewöhnlich hart mit einer kreativen Welt, in der die kleinen Kinder leben und die für die meisten Erwachsenen kaum noch erahnbar ist" (Silvia Brendenal, Künstlerische Leiterin des Festivals "Unter dem Tisch").

Da nützt es auch nichts, sich die eigenen kleinen Kinder als Mit-Performer auf die Bühne zu holen und den Zuschauern gemeinsam etwas vorzukrabbeln, wie unlängst unter dem Titel "Kinderseelenstücke" in Bochum geschehen. So billig ist der Eintritt in das vermutete Traumland der Kinder nicht zu haben - wenn er denn überhaupt zu haben ist und wenn dieses Traumland, das doch jeder Erwachsene in seiner Kindervergangenheit verloren zu haben glaubt, überhaupt je existierte. Nein, wie es ist, ein kleines Kind zu sein, als Kleinkind zu träumen, zu staunen, sich zu ängstigen - das kann ernsthaft kein Erwachsener zu wissen behaupten. Auch wenn er die "Kindheit in die Tasche gesteckt hat", wie Max Reinhardt es genannt hat, und Schauspieler geworden ist. Oder Puppenspieler. Aber er kann beobachten, zuhören, zusehen, vielleicht gar mitfühlen. Er kann Fragen stellen und sich Fragen stellen lassen - mit oder ohne Worte. Und dabei (vielleicht) herausfinden, welche davon für ihn selbst noch ebenso wichtig sind wie für ein kleines Kind. Und sich gemeinsam mit den Kindern auf die lustvolle Suche begeben nach sinnen-reichen Antworten und neuen Fragen. Und so den Kindern nicht ihre vermeintlichen Phantasien spiegeln, sondern ihnen als kreativer, mit und in der Welt spielender Erwachsener begegnen.

Dass es Künstler gibt, die diesen Weg zu gehen versuchen, dass sie Inszenierungen geschaffen haben, die "ganz Große" wie "ganz Kleine" gleichermaßen bewegen - davon konnte man sich auf dem Festival "Unter dem Tisch" vom 12. bis 17. Oktober 1999 in der SCHAUBUDE Puppentheater Berlin überzeugen. Obwohl inzwischen auch in Deutschland einige interessante Produktionen für Kinder unter drei Jahren herausgekommen sind, zum Teil Inszenierungen der Stücke Roberto Frabettis, des italienischen Pioniers des Theaters für die ganz Kleinen (z.B. "Als die Walfische sich die Schuhe ausgezogen haben", MicroMacro Theater Tromm, "Geschichte eines Schrankes oder Dinosaurier", Thalia Theater Halle), aber auch Eigenentwicklungen (z.B. "Waschtag", Theater Pilkentafel Flensburg), hat Silvia Brendenal mit der ersten Festwoche für ganz Kleinen in Deutschland bewusst den Akzent auf Frankreich gelegt. Dort wird schon sehr viel länger als hier das Theater für die Allerkleinsten auch mit grundlegenden künstlerischen Fragestellungen verbunden. Und dort gibt es schon seit Jahren ein Festival für dieses Publikum, das in den meisten Kindertheaterproduktionen "außen vor" bleibt. Jedenfalls theoretisch. In der Praxis sind eingeschleuste Kleinstkinder und Säuglinge ja schon lange - den Verlauf der Veranstaltung oft massiv mitbestimmende - Zaungäste der Vorstellungen für größere Kinder (ab Vorschulalter).

Hier nun "Unter dem Tisch" waren sie eingeladen, in der ersten Reihe zu sitzen - oder, wie beim titelgebenden "Sous la Table" der Compagnie ACTA-Agnès Defosses, auch zu "rutschen, rollen, klettern und kriechen, tasten, berühren, horchen, spähen, tanzen". So jedenfalls wird Agnès Defosses, Gründerin von ACTA und Regisseurin von "Sous la Table" im Programmheft zitiert. Vielleicht war es aus der Lektüre dieser Äußerung zu erklären, warum im recht zahlreich vertretenen Erwachsenenpublikum schon während der allerersten Minuten der Vorstellung, in denen die Schauspieler sich und die Kinder schminken, zu hören war: "Ist ja ganz schön, sie sind beschäftigt, aber das ist doch kein Theater!" Dieser Satz war sicher schon fertig, bevor die Saaltür geöffnet wurde. Viel zu früh, wie sich zeigte. Denn das kleine, aber für die Einstimmung der Kinder und die Herstellung einer Atmosphäre wichtige Vorspiel wird deutlich beendet und eine andere Ebene des Spiels eingeführt: mit Gesang geht es zu dem von ganz Großen und ganz Kleinen gleichermaßen mit Neugierde beäugten, geheimnisvoll leuchtenden, stoffüberdachten TischBootZelt. Die Kinder werden mitgenommen auf eine Schiffsfahrt, Anne Cammas und Thiery Gary sind Matrose und Admiral (leider für die Kinder nicht verständlich).

Was sich dann abspielt, ist eine ganz eigenwillige, faszinierende Mischung aus fast konventionellem Puppentheater: wenn die kleinen Tellerchen und Muscheln wie Schiffe auf dem aus glänzendem Tuch gespannten Tisch herumfahren, sich nahe kommen und wieder trennen, in den Tiefen des Tuch-Ozeans verschwinden; einem kleinen Gastmahl: wenn die Kinder die süße Last der Schiffchen, lauter Gummifische, genüsslich verspeisen (oder gierig in sich hineinstopfen); einer Initiation: wenn die sperrige Reling hinter den Kindern hochgeklappt und festgestellt wird und sie die Ängste des Getrennt- und Eingesperrt-Werdens erleben und auch, wenn sie unter den Tisch kriechen, sich hineintrauen in die Höhle, die Tiefe des Ozeans; Schauspiel: wenn sie dort dem Nök und der Nixe begegnen, die keine Beine haben, sondern einen seltsam an Windeln gemahnenden Fischschwanz, und wenn diese miteinander zu parlieren beginnen über ihren Wunsch, auch solch hübsche Beine zu haben wie die Kinder; einer Mitspielaktion: wenn die Kinder sich animieren lassen, Nök und Nixe von den Fischschwänzen zu befreien und ihnen zu zeigen, wozu sie die Beine gebrauchen können; und schließlich einem Tanz, einem Fest: wenn alle am Ende zusammen tanzen und ihre Beine, die neugewonnene Bewegungsfreiheit feiern.

Ein hochkomplexes, unbezweifelbar theatrales, kunstvolles Spiel, an dem etliche Kinder großes Vergnügen hatten und das sicher für alle ein einprägsames Erlebnis war, das mir aber dennoch eine Irritation hinterließ. Nicht wegen mangelnder Nähe zum Theater, sondern wegen zu großer Nähe zu den Kindern. Nähe hier ganz räumlich verstanden.

Das Erleben und Auflösen von Angst kann, wie in "Sous la Table", ganz selbstverständlich zum Theatererlebnis gehören. Aber hier schien mir das individuelle Distanzbedürfnis der Kinder nicht genügend wahrgenommen, daraus entstand Gedränge, Bedrängnis. Eine der Unstimmigkeiten in diesem sehr mutigen und gerade in der Rückbesinnung an rituelle Ursprünge des Theaters neue Wege weisenden Ansatz.

Bei "L'air de l'eau" des Théâtre Athenor und Tam Teatromusica ist mit kleinen Kissen, die eine "Sitzordnung" für die Kinder vorbereiten, eine klare Trennung von Bühne und Zuschauerraum vorgegeben. Auf der Bühnenfläche, direkt vor den Kindern, Sand, Wasser, Kalebassen und Holzstöcke. Brigitte Lallier-Maisoneuve und Laurent Dupont beginnen ein vorsichtiges, fast zärtliches Spiel mit dem Material, den Elementen, die den Kindern noch so nahe sind. Wie fühlt es sich an, Sand durch die Hand rieseln zu lassen (jedes Kind weiß das), und wie hört es sich an? Zum Geräusch des Sandes, des bewegten Wassers, der Kalebassen kommen die Stimmen mit langanhaltenden, vibrierenden Tönen, eine fast archaisch anmutende Musik. Immer neue Akkorde entstehen in dieser sanften Zeremonie - Akkorde der Elemente Feuer, Wasser und Erde, immer wieder verbunden durch den Luftstrom der menschlichen Stimme, das Lied (l'air). Nach und nach, in aller Ruhe, entwickelt sich ein Projekt: ein Wasserweg durch den Sand, über den Sand hinweg, ein kleines Aquädukt wird gebaut. "Brauchen die das, was die machen?" fragt ein Kind, als die ersten Wasserrinnen gelegt werden. Ja, die brauchen das -, und ihre eigene Sehnsucht nach einem heiteren, hellen Ritual der Verbindung des Menschen mit den Dingen trifft sich ganz offensichtlich mit einer kindlichen. "Weitermachen", sagt dasselbe Kind am Ende und kann sich gar nicht von Brigitte trennen.

In einer Welt, in der sich die gelebten Rituale auch für viele Kinder schon auf Schlangestehen an Kasse und Autobahnausfahrt reduzieren, wird das Erlebnis einer spielerisch-rituellen Atmosphäre zu einem recht ernsthaften Vergnügen - so auch wieder bei "Valse Mathilda" der Compagnie Mediane. Hier gehören das Plappern, Wispern und die Zwischenrufe dazu. Die Kinder und die Erwachsenen erzählen sich während des stummen Spiels von Catherine Sombstay ihre eigenen Geschichten zu den langsam rotierenden und immer wieder neu gruppierten, auf Kekse geklebten Bildern von Menschen und Tieren, von heute und gestern. Gemächliche und aufregende, traurige und lustige Geschichten vom Werden und Vergehen in diesem kleinen Universum. Und mit den Butterkeksen am Schluss dürfen wir uns die Schönheit dieser präzisen Vorgänge als nahrhafte Süßigkeit einverleiben. Kommentar meiner Tochter: "Das war das leckerste Stück. Ganz egal, wie alt man ist."

Egal, wie alt man ist: nicht nur die kleinen Kinder, auch die Erwachsenen waren von vielen Momenten dieser Inszenierungen berührt und gefangen, auch belustigt und verblüfft. Manchmal war auch, wie bei Isabelle Hervouëts (Cie. Skappa) "Uccellini" ein gewisser Nebenton nur für die Großen hörbar. "Nebenton" metaphorisch gebraucht, denn "Uccellini" (Die kleinen Vögel) und ihre Kollegen Fische, Käfer und seltsame Menschentiere kommen vorwiegend im Bild zum Schwimmen, zum Krabbeln, zum Laufen, zum Fliegen. Eine ganze Evolution, eine großes Wachsen passiert auf erst weißer, dann zurückhaltend und schließlich immer wilder bemalter Leinwand. Es "passiert" aus Spieltrieb und Assoziation, aus konsequenter Fortsetzung von spontanen Aktionen, aus Lust an Bewegung, Berührung und Farben. Auf heller Fläche gemalte Tiere krabbeln imaginär ins dunkle Ungewisse - zum glucksenden Vergnügen der Kleinen. Die Sätze "Ich bin klein" und "die Welt ist groß" werden durch Überschreiben zu "ich bin groß", auch zu lesen als "ich bin die Welt" - zum glucksenden Vergnügen der Großen.

Ausdrücklicher ans kleine Publikum richtet sich Phénomène Tsé-Tsé mit "Griboullie": schwarz und weiß, eckig und rund, drinnen und draußen, hinter und vor etwas sein. Mit diesen Gegensatzpaaren spielt Françesca Sorgato als Griboullie clownesk und quasi graphisch durchgezeichnet auf ein Bewusstsein von einfachen Gesetzmäßigkeiten ebenso an wie auf die Freiheit des Spiels, der Erfindung. Weißes Papier, schwarze Tinte, Klebeband und ein kleiner Karren sind ihre Mitspieler in einer schwarz-weißen Welt, in der ein Mensch und ein Krikel-Krakel sich die Hände reichen können -, und zunehmend beteiligen sich auch die Kinder mit Zurufen, Zeigen und Deuten. So dass es nur folgerichtig ist, wenn sie am Schluss - ebenso wie die Griboullie - einen schwarzen Punkt auf der Nase haben, einen, der "öngt", wenn man darauf drückt.

Ein wenig schwierig wird es, in dieser Reihe von Inszenierungen, die alle mit einem starken, individuellen künstlerischen Impuls beinahe "alterslose" Fragen des Selbstverständnisses in einer Welt der Elemente und Töne, der Gegensätze, des Wachsens, Werdens und Vergehens aufgreifen, in dieser Reihe bruchlos auf "Wo ist mein Bär?", einer am Schluss des Festivals stehenden Premiere des Puppentheaters auf der Zitadelle, überzugehen. Zu groß der Abstand durch die Andersartigkeit der künstlerischen Mittel, der Thematik, der Vorgehensweise, womöglich auch der Einschätzung des Publikums.

Die Inszenierung von Regina Wagner und Therese Thomaschke besticht zunächst durch ein klares Bild - eine überdimensionale Kiste öffnet sich und es erscheint eine witzig-imposante menschliche Spieldosenfigur, deren ganze Welt diese Kiste ist, mit Klappen und Kläppchen, hinter denen sich Unmengen an Bären, ein Kasper und ein ganzer Zug verstecken. Doch allzuschnell fühlt man sich in eine moralisierende "Das-Kind-hat-zu-viel-Spielzeug-und-vernachlässigt-seine-Kuscheltiere"-Geschichte hineingezogen und nimmt nebenbei irritiert wahr, dass ja dieses phantasiebegabte und spielfreudige Kind selbst auch als Spielzeug dargestellt wird. Nanu. Nach französischen Wasserliedern und Vogelflügen eine harte Landung in der Berliner Realität. Abgefedert durch kleine poetische Momente, in denen auch hier die Dinge zu einem Eigenleben finden - und durch den insgesamt runden und stimmigen Eindruck, den die sechs Tage der Begegnung mit dem Theater für die ganz Kleinen hinterlassen haben.

Quelle

"Das andere Theater" ist zu beziehen über
UNIMA Zentrum Bundesrepublik Deutschland
c/o DIE SCHAUBUDE . Puppentheater Berlin
e-mail:
[email protected]
Website: http://www.schaubude-berlin.de

Informationen auch beim
Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst, Bochum
e-mail:
[email protected]
Website: http://www.dfp-fidena.de

Informationen zu den französischen und belgischen Produktionen bei
AN.THEA, Himmeroder Hof, Eltzerhof 11, 56867 Briedel, Fax 06542/961129