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Zitiervorschlag

"Hilferufe". Maria Montessoris Plädoyer für einen anderen Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern

Wiebke Ammann

 

1. Einleitung

"Komm sofort rein!" - "Sei jetzt endlich ruhig!" - "Tu, was ich dir sage!" - "Heb das auf, aber ganz fix!" - "Entschuldige dich auf der Stelle!" So oder ähnlich lauten die Befehle, die wir unseren Kindern, oft in dichter Abfolge, erteilen. Die Liste der Imperative ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Und wir dulden keinen Aufschub, erwarten prompten Gehorsam.

In aller Regel versuchen wir als Erwachsene, als Eltern, als Erzieherin oder Erzieher, durch direkte Intervention ein Kind dazu zu bewegen, eine Handlung zu vollziehen, die wir in einer Situation für richtig halten. Doch nur sehr selten haben wir damit Erfolg; die Kinder hören nicht, sind ungehorsam, man muss ihnen alles drei mal sagen. Und wenn sie dann immer noch nicht das machen, was sie machen sollen, sagen wir es noch mal etwas lauter, ärgerlich - schließlich ist auch unsere Geduld am Ende. Entweder wir stellen eine Belohnung in Aussicht oder aber - wahrscheinlicher in diesem Stadium - wir schreien die Kinder an, wir drohen mit Strafen und strafen schließlich mit mehr oder minder offener Gewaltanwendung. Es kommt zu einem offenen Kampf zwischen dem Erwachsenen und dem Kind, das sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Übermacht zur Wehr setzt (Schreien, Trampeln, zu Boden schmeißen u.a.). Wie solche Situationen enden, wissen wir nur allzu genau. Wer einmal versucht hat, ein dreijähriges Kind gegen seinen Willen anzuziehen, der weiß, wovon ich spreche, (doch in den meisten Fällen brechen wir nicht zu einer Polarexpedition auf, und das Kind wäre ohne Jacke sicher nicht auf dem Weg zum Auto erfroren). Wenn sich Situationen dieser Art häufen, herrscht ein Kriegszustand zwischen uns und den uns anvertrauten Kindern, der weder uns noch unseren Kindern gut tut.

Die bedeutende Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) beschreibt in ihren umfangreichen Schriften viele solcher Kampfszenarien, und sie plädiert für ein fundamentales Umdenken: Statt der - bezogen auf das Ziel einer Verhaltensänderung - meistens vollkommen wirkungslosen direkten Einflussnahme auf das Verhalten des Kindes sollten wir versuchen, das störende Verhalten des Kindes indirekt zu beeinflussen. Wie sie sich das vorstellt, davon soll im folgenden die Rede sein. Doch bevor ich auf Montessoris devianztheoretisches Konzept zu sprechen komme, möchte ich in aller Kürze die Grundgedanken der Montessoripädagogik skizzieren.

2. Grundgedanken der Montessoripädagogik

Maria Montessori sieht das Kind von Geburt an als eigenständige Person, die sich einem inneren Bauplan gemäß entwickelt. Nicht Erwachsene formen das Kind, sondern es ist allein das Kind, das die gewaltige Entwicklungsarbeit leistet: "Das Kind ist der Baumeister des Menschen" (Montessori 1991, S. 13).

Erziehende können das Kind in diesem Prozess lediglich unterstützen und sollten sich dessen in aller Bescheidenheit bewusst sein. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, die Umgebung nach den Bedürfnissen der Kinder zu gestalten, sie in den Umgang mit verschiedenen Materialien einzuführen, sich aber zurückzuhalten, sobald die Kinder selbst tätig geworden sind. Montessori lässt die Kinder zu den Erziehenden sagen: "Hilf mir, es selbst zu tun". Maria Montessori hatte als Ärztin gelernt, Menschen genau zu beobachten. Dabei stellte sie mit Erstaunen fest, dass Kinder in der Lage sind, sich sehr ausdauernd mit Dingen zu beschäftigen, die sie in ihrer Umwelt vorfinden. Nach konzentrierter "Arbeit" machen sie einen überaus zufriedenen, glücklichen Eindruck. Montessori schildert diese Beobachtung als ihre wichtigste "Entdeckung" und stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Pädagogik. Die konzentrierte Ruhe, die in Montessorieinrichtungen zu spüren ist, hat als "Montessori-Phänomen" weltweit Beachtung gefunden. Montessori erforschte dann, unter welchen Bedingungen sich Kinder konzentrieren können und fand heraus, dass dazu Freiheit unbedingt notwendig ist: Kinder müssen ihre Tätigkeit frei wählen können, ihre Spielpartner, ihr Tempo sowie die Dauer ihrer Beschäftigung selbst bestimmen und außerdem in ihrer Umwelt Materialien vorfinden, mit denen sie sich selbständig handelnd auseinandersetzen können. Alle von Maria Montessori speziell erarbeiteten Materialien und Übungen für Kinder im Vorschulalter ermöglichen dies.

3. Montessoris Devianztheorie

Montessoris devianztheoretisches Konzept ist verblüffend einfach: Aggressivität, Rebellion, Zornesausbrüche, Trägheit, Lügen und Stehlen (die Liste ließe sich fortsetzen) sind nicht etwa Ausdruck eines schlechten Charakters, sondern als Hilferufe zu verstehen. Sie sind Montessoris Verständnis gemäß Indikatoren einer gestörten Beziehung zwischen dem Kind und seiner Umwelt (im weitesten Sinne), in dessen Verlauf das Kind immer wieder daran gehindert worden ist, entwicklungsfördernde Erfahrungen zu machen und sich die Welt so zu erschließen. Treten im normalen Entwicklungsgang Hindernisse auf, so ist das Kind gezwungen, Umwege (Deviationen) zu gehen, die einen Energieverlust zur Folge haben, der der primären Entwicklungsarbeit abträglich ist. Um in diesem Bild zu bleiben: Je dichter die Hindernisse aufeinanderfolgen und je höher sie sind, desto größer ist der Energieaufwand, so dass kaum noch Kräfte für die Bewältigung der eigentlichen Aufgabe zur Verfügung stehen. Das Kind setzt seine Kraft ein, um sich den Zugang zu entwicklungsfördernden Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen, notfalls gegen den Widerstand der Erziehenden. So kann es zu einem ständigen Kampf zwischen dem Erwachsenen und dem Kind kommen, der seinen Ausdruck in sehr verschiedenartigen "Verhaltensauffälligkeiten" findet.

Maria Montessori unterscheidet zwischen der Reaktion der "schwachen" und der "starken" Kinder. Während schwache Kinder u.a. zu apathischem Verhalten neigen, das von Erziehenden häufig gar nicht als störend wahrgenommen wird, reagieren starke Kinder eher mit Zerstörungswut und offener Rebellion.

Doch das Kind, sei es noch so "fehlgeleitet", hat nach Montessoris Auffassung die Tendenz, zur Normalität zurückzukehren. Die Therapie ist daher ebenso verblüffend einfach wie die Diagnose und ihre Ätiologie: Das Kind braucht eine entwicklungsfördernde Umwelt, die ihm eine auf Freiheit beruhende konzentrierte Tätigkeit ermöglicht, und Erziehende, die sich mit Freundlichkeit und Ruhe darum bemühen, für das "noch nicht normalisierte Kind" Tätigkeiten zu finden, die es interessieren, und in den Hintergrund treten, sobald das Kind konzentriert arbeitet und sich auf dem Wege der Normalisierung befindet. "Nur das Individuum, das sich selbst mit Hilfe seiner eigenen Tätigkeit aufbauen und jene wahre, mächtige und von seiner eigenen Natur gewollte Energie wiederfinden kann, lässt die normalen Eigenschaften in sich wieder aufstehen" (Montessori 1934, zit. nach Böhm 1996, S. 38).

4. Der Normalisierungsprozess in drei Phasen

Die wundersame Wandlung eines Kindes von einem "noch nicht normalisierten" zu einem "normalisierten" Kind vollzieht sich also durch konzentrierte Tätigkeit ("Die Normalisierung kommt von der 'Konzentration' auf die Arbeit", Montessori 1991b, S. 184). Montessori spricht von "Arbeit", wenn es um die konzentrierte Tätigkeit eines Kindes geht. Sie will damit zum Ausdruck bringen, dass Kinder mit der gleichen Ernsthaftigkeit in ihr Spiel vertieft sein können wie Erwachsene in ihre Arbeit.

Zur Kennzeichnung des Normalisierungsprozesses verwendet Montessori die Metaphern "Krieg" für Phase (1) und "Frieden" für die zu erreichende Phase (3). In der Übergangsphase (2) sind - so sagt die hochbetagte Maria Montessori in einer Rede in Indien 1945 - "Schritte zur Abrüstung" (1989, S. 12) einzuleiten. Unterstellt uns Maria Montessori allen Ernstes, dass wir unsere Kinder hassen und sie - Kriegsgegnern gleich - verfolgen und anschließend vernichtend schlagen wollen? Bewusste Verfolgungsabsichten unterstellt Montessori uns nicht, wohl aber unbewusste. "Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass der Lehrer oft Verfolger des Kindes ist - ein unbewusster Verfolger, gebe ich zu. Dieser Krieg ist nicht auf die Schule begrenzt; er findet sich überall, sogar zu Hause. Väter und Mütter sind stark, und die Kinder sind schwach. Väter und Mütter sind Diktatoren und Richter, gegen die man keinen Einspruch erheben kann. Alles, was erwachsene Leute sagen, ist richtig. Wenn das Kind nicht mit ihnen übereinstimmt, ist es notwendigerweise im Unrecht" (1989, S. 10; wenn Montessori hier von "Lehrern" oder "Müttern" bzw. "Vätern" spricht, sind Erziehende im weitesten Sinne gemeint, also auch Erzieherinnen und Erzieher).

Was in der ersten Phase passiert, davon war in der Einleitung bereits die Rede, und das gehört zu unseren alltäglichen erzieherischen Erfahrungen. Doch was ist zu tun, um als dies zu verändern? Drei Aspekte sind dabei von grundlegender Bedeutung:

  1. Änderung der Grundhaltung dem Kind gegenüber,
  2. Verzicht auf Strafe,
  3. Eröffnung von Tätigkeitsmöglichkeiten.

Der Normalisationsprozess kann nach Montessoris Verständnis nur durch fundamentales Umdenken eingeleitet werden: "Das Einzige, was wir wirklich tun müssen, ist, unsere Grundhaltung gegenüber dem Kind zu ändern und es zu lieben mit einer Liebe, die an seine Personalität glaubt und daran, dass es gut ist; die nicht seine Fehler, sondern seine Tugenden sieht, die es nicht unterdrückt, sondern es ermutigt und ihm Freiheit gibt" (1989, S. 12). Das gilt besonders für Kinder, die wir heute als verhaltensauffällig oder gar verhaltensgestört bezeichnen würden. Geradezu unerschütterlich ist Montessoris Glaube daran, dass "jedes noch so fehlgeleitete Individuum die Tendenz besitzt, zur Normalität zurückzukehren" (Montessori 1989, S. 101, Satzumstellung W.A.). Wenn wir uns diese Grundhaltung zu eigen machen, müssen wir auch nicht mehr zornig und wütend über ein verhaltensauffälliges Kind sein, sondern können es - einem kranken Kind vergleichbar- bemitleiden und trösten.

Montessori hält die Phase der Arbeit mit "noch nicht normalisierten" Kindern für ein Durchgangsstadium, und sie lässt den Erziehenden einen großen Handlungsspielraum. Immer wieder betont sie allerdings, dass die Erziehenden die Pflicht haben, Kindern prinzipiell mit Liebe und Achtung zu begegnen, sie niemals zu beleidigen, zu demütigen oder zu strafen.

Der Verzicht auf Strafen ist eine große Herausforderung in dieser Übergangsphase. Nach Montessoris Anthropologie sind Strafen ein Verstoß gegen die Würde des Menschen. Da es gerade in dieser Phase der Arbeit mit "noch nicht normalisierten" Kindern darauf ankommt, dass die Kinder zu der oder zu dem Erziehenden in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule ein Vertrauensverhältnis aufbauen können, das Montessori als Basis für Entwicklung betrachtet, ist es in dieser Phase besonders wichtig, auf Strafen unbedingt zu verzichten.

Liebe und Achtung werden als Grundprinzip akzeptiert. Aber geht es wirklich ohne Ermahnungen und Strafen? Ohne ein deutliches Wort an der richtigen Stelle? Man muss doch den Kindern klare Grenzen setzen - oder?

Die Notwendigkeit der klaren Grenzsetzungen wird von Montessori gar nicht bestritten, und sie ermutigt uns durchzugreifen: "Fürchtet Euch nicht davor, das Schlechte zu zerstören. Wir müssen uns nur fürchten, das Gute zu zerstören" (Montessori 1991b, S. 241/242).

Wenn wir Strafe gänzlich aus unserem Erziehungsrepertoire streichen, was können wir statt dessen tun, um ein Kind oder eine Gruppe von Kindern zu normalisieren? Dazu Maria Montessori in einem 1946 gehaltenen Vortrag: "Wir mögen alle Mittel gebrauchen, die wir besitzen, um die Aufmerksamkeit der Kinder anzuziehen. Ihre Aufmerksamkeit wird durch Aktivität angezogen. Lassen Sie ihnen Tätigkeit, und ziehen Sie sie durch liebevolle Freundlichkeit an" (1989, S. 108).

Die Rolle des Animateurs in einem Ferienclub (die Maria Montessori wohl kaum gekannt hat), kennzeichnet meines Erachtens das Spezifikum der Tätigkeit von Erziehenden in dieser Phase treffend: Er/Sie soll "anregen, ermuntern, ermutigen, anreizen, im Stimmung versetzen, Lust zu etwas erwecken", so steht es im Fremdwörterlexikon unter dem Stichwort "animieren". Einen passiven Animateur können wir uns nicht vorstellen. Montessori hat ganz offenkundig Mitleid mit denjenigen Erziehenden, denen es nicht gelingt, die Kinder zu animieren und die hilflos das Chaos verfolgen. Es ist ihr bewusst, wie schwer der Weg zur indirekten Methode der Intervention ist. Sie spricht in ihrem bedeutendsten Spätwerk, das 1949 in Indien veröffentlicht worden ist, von einem "fast unvorstellbaren Durcheinander und Lärm", der "kleinen Hölle, die unter den Kindern auszubrechen beginnt, ... wenn die Lehrerin passiv bleibt" (S. 241/242).

Aktivität der Erzieherinnen und Erzieher ist demnach in dieser Phase besonders wichtig. Hinzu kommt Montessoris Aufforderung, die Summe der Verbote, die wir einzelnen Kindern und/oder einer Kindergruppe gegenüber aussprechen, auf einen selbstkritischen Prüfstand zu stellen. Wenn wir, wie Montessori es fordert, nur das verbieten, "was die anderen kränken oder ihnen schaden kann" und ihnen "jede Äußerung erlauben, die einen nützlichen Zweck verfolgt, ganz gleich welcher Art und Form" (1991, S. 57, Satzumstellung W.A.)", könnten wir auf viele Verbote, Strafandrohungen und auf viele Strafen verzichten.

Der gänzliche Verzicht auf Strafen wird sicher nicht auf Anhieb gelingen, er erfordert vom Erziehenden unendlich viel Geduld und Durchhaltevermögen, verbunden mit einer klaren Zielorientierung. Erst wenn man es für möglich hält, dass Kinder sich so fundamental verändern, wie Montessori es in Aussicht stellt, wird man die in dieser Phase notwendige pädagogische Knochenarbeit auf sich nehmen können.

Da sich eine Erzieherin (ein Erzieher) nicht jedem "noch ungeordneten" Kind einzeln widmen kann, sind Gruppenaktivitäten in dieser Phase besonders wichtig. Selbst Aktivitäten, die Wettkampfcharakter haben (z.B. wer kann am leisesten einen Stuhl tragen?), und die Montessori in der Arbeit mit normalisierten Kindern für entbehrlich hält, schlägt sie in dieser Phase vor. Von den Montessori-Materialien können vor allem die "Übungen des täglichen Lebens" angeboten werden, dazu gehört zum Beispiel "Schuhe putzen", "Tisch decken", "Wassergießen", "Gehen auf der Linie" (vgl. von Oy 1999). Diese Übungen lassen sich im Kindergarten ohne allzu großen Aufwand durchführen, sie bieten einzelnen Kindern oder einer Gruppe von Kindern selbsttätige Handlungsmöglichkeiten.

Montessori lässt den Erziehenden - wie gesagt- in dieser Phase große Freiheiten. Dass sich die Knochenarbeit wirklich lohnt, wird deutlich, wenn wir uns einen Eindruck von der Arbeit mit normalisierten Kindern (Phase 3) verschaffen, z.B. in einem Montessori-Kindergarten (häufig "Kinderhaus" genannt) oder in einer Montessori-Schule. Die als "Montessori-Phänomen" beschriebene konzentrierte Ruhe, zu der Kinder offenkundig fähig sind, lässt sich nur schwer beschreiben, man muss sie erleben. Man gewinnt fast den Eindruck, als handele es sich um eine ganz andere Spezies Kind als die, die wir normalerweise gewohnt sind: Die Kinder sitzen entweder einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen auf dem Teppich oder am Tisch im Gruppenraum oder im Vorraum und sind in je verschiedene Aufgaben vertieft. Die Erzieherin entdeckt man erst beim zweiten Hinsehen. Sie beschäftigt sich mit einem einzelnen Kind oder steht als Beobachterin scheinbar passiv an der Seite, solange sie nicht von einem Kind um Hilfe gebeten wird. Ein Kind, das seine Arbeit beendet hat, trägt unaufgefordert die Materialien zurück an ihren Platz, bespricht leise mit einem anderen Kind weitere Arbeitsvorhaben, holt sich das dazu nötige Material, und sie beginnen gemeinsam eine neue Arbeit. Ein anderes Kind fragt den erstaunten Besucher, ob er Appetit auf einen kleinen Imbiss habe, den es dann mit großer Selbstverständlichkeit serviert. Man fühlt sich in eine andere Welt versetzt, und doch sind es ganz normale Kinder in einem ganz normalen Kindergarten. Die Mädchen und Jungen sind konzentriert bei der Sache, und ihnen machen das Spielen und Lernen, die "Arbeit" wie Montessori sagen würde, ebenso wie den Erzieherinnen und Erziehern ganz offenkundig Spaß.

Sogar auf Lob kann verzichtet werden. Dazu Montessori: "Ein Kind braucht kein Lob. Lob durchbricht die Bezauberung" (1989, S. 106). Hier hat Montessori das ganz in seine Arbeit versunkene Kind vor Augen, das von der Erzieherin oder dem Erzieher durch welche Äußerung auch immer, mag sie noch so freundlich und lieb gemeint sein, gestört wird. Manchmal ist es sogar die schlichte Anwesenheit einer Person, die ein Kind stört, und manchmal bringt es das auch ganz deutlich zum Ausdruck. Doch wer möchte sich als Erwachsener schon gern sagen lassen, dass seine Anwesenheit, sein Interesse an der Tätigkeit des Kindes, sein Lob nicht erwünscht sind, und das von einem Kind! Ständiges Loben erzeuge - so Montessori - beim Kind Abhängigkeit vom Erzieher, wo es doch eigentlich nach Unabhängigkeit strebt, die wir ihm ermöglichen sollten. Doch es ist uns natürlich unbenommen, uns gemeinsam mit einem Kind über ein gelungenes Werk zu freuen (vgl. Ammann 1997).

Strafe hält Montessori in dieser Phase, mehr noch als in der vorausgehenden, für überflüssig, denn ein Kind, das gelernt hat, die Dinge in seiner Umwelt zu achten und zu pflegen, wird bereits selbst betroffen über eine misslungene Handlung sein.

Mit der Korrektur von Fehlern verhält es sich ebenso wie mit Belohnungen und Strafen, auch sie hält Montessori für entbehrlich, zumal das von ihr entworfene didaktische Material eine immanente Fehlerkontrolle enthält. Das Kind merkt also selber, wenn eine Aufgabe nicht "aufgeht" und noch mal anders angegangen werden muss. Hasler und Raapke haben es in ihren Thesen zur Montessoripädagogik sehr prägnant formuliert: "Sage nie einem Kind, dass es etwas falsch oder schlecht gemacht hat. Biete dem Kind bei nächster Gelegenheit wieder dieses Material/diese Aufgabe an, bis es selbst am Material/an der Aufgabe seinen Fehler merkt und korrigiert. Das ist eine schwere Zumutung für Pädagogen. Aber: Wer Fehler macht, hat meistens schon eine Innenansicht davon, wie es richtig sein müsste. Warum müssen Pädagogen ihre Außenansicht noch da drauf setzen? Erwarten wir nicht von unseren erwachsenen Mitmenschen, dass sie nicht unaufgefordert unsere Fehler vermerken, weil wir doch selbst schon längst gemerkt haben, dass uns da etwas schief gegangen ist?" (1988, S. 8).

5. Schlussbemerkungen

Montessori lehrt uns, die Sicht des Kindes einzunehmen. Das erfordert die Bereitschaft und den Mut, uns selbst in unserem pädagogischen Handeln zu beobachten, in Frage zu stellen sowie pädagogische Grundannahmen zu überdenken. Wenn wir das tun, können wir ganz erstaunliche Entdeckungen machen, auch und gerade im Umgang mit Kindern, die als verhaltensauffällig gelten.

Ob Montessori ihren unerschütterlichen pädagogischen Optimismus auch an den Tag gelegt hätte, wenn sie die Diskussion um das so genannte "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS)" gekannt hätte (vgl. Imhof u.a. 2000)? Hätte sie als Ärztin nicht auch zu einer medikamentösen Therapie geraten? Oder ist der mögliche Griff nach der rettenden Pille gerade ein Hindernis auf dem Weg, Verhaltensauffälligkeiten von Kindern als Hilferufe zu verstehen?

Auffällig ist es, dass viele pädagogische, heilpädagogische und therapeutische Maßnahmen, die für aufmerksamkeitsgestörte Kinder empfohlen werden, zu den konstitutiven Merkmalen der Montessoripädagogik gehören (z.B. Wahlfreiheit, Strukturierung der Tätigkeit, Bewegung, selbstständige Fehlerkontrolle).

Wenn wir auffällige Verhaltensweisen Montessori gemäß als "Hilferufe" eines Kindes verstehen können, wird es uns eher gelingen, "Schritte zur Abrüstung" einzuleiten. Die indirekte Methode der Intervention erweist sich dabei als sehr wirkungsvoll. "Was Wunder, dass das Böse verschwindet, sobald kein Grund mehr zur Widersetzlichkeit vorliegt, wenn wir dem Kinde die rechten Mittel zur Entwicklung bieten und ihm die volle Freiheit in ihrer Anwendung gewähren" (Montessori 1991, S. 102).

Was dabei vor allem zu tun ist, hat Montessori (1989, S. 106/107)auf die einprägsame Formel gebracht: "Lassen Sie ihnen (den Kindern, W.A.) Tätigkeit und ziehen Sie sie durch liebevolle Freundlichkeit an".

Literatur

Ammann, Wiebke: Die Pädagogik einer außergewöhnlichen Frau: Maria Montessori. In: Burbach, Ch. (Hrsg.): Aus weiblicher Sicht. Erfahrungen, Analysen und Anstöße zu frauenspezifischen Themen. Hannover 1993

Ammann, Wiebke: "...Wenigstens das täglich Brot". Maria Montessori: Unternehmerin und Chefin des Montessori-Konzerns. In: DAS KIND 2. Halbjahr 1995

Ammann, Wiebke: Die Pädagogik Maria Montessoris - eine Zumutung für Erziehende? In: Busch, F.W. (Hrsg.): Programme - Prospekte - Projekte. Hans-Dietrich Raapke: 35 Jahre Forschung, Lehre, Weiterbildung. Oldenburg 1997

Böhm, Winfried (Hrsg.): Maria Montessori - Texte und Gegenwartsdiskussion. Bad Heilbrunn/Obb. 5. Auflage 1996

Hasler, H./Raapke, H.-D.: Montessori - aktuell. Die Pädagogik einer Kinderärztin. In: Universität Oldenburg, Zentrum für pädagogische Berufspraxis (Hrsg.). Oldenburger Vor-Drucke 1988

Imhof, M./Skrodzki, K./Urzinger, M.S.: Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder und Jugendliche im Unterricht. Herausgegeben vom Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München. Donauwörth1999, 2. Auflage 2000

Montessori, Maria: Die Macht der Schwachen, herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Kleine Schriften Maria Montessoris 2. Freiburg 1989

Montessori, Maria: Die Entdeckung des Kindes. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch, Freiburg 1991a, 10. Auflage

Montessori, Maria: Das kreative Kind. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch, Freiburg 1991b

Montessori, Maria: Schule des Kindes. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch, Freiburg 1995, 5. Auflage

Von Oy, Clara Maria: Montessori-Material zur Förderung des entwicklungsgestörten und des behinderten Kindes, Heidelberg 1987

Raapke, H.-D.: Montessori heute. Eine moderne Pädagogik für Familie, Kindergarten und Schule. Reinbek bei Hamburg 2001

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