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Zitiervorschlag

Aus: WWD 2002, Ausgabe 76, S. 7-9

Mit beiden Beinen im Leben stehn

Karin Schaffner


Offen und voller Vertrauen, neugierig und erwartungsvoll will das Kind die Welt entdecken, will Zusammenhänge be-greifen und lernen, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Dazu braucht es Körper, Geist und Seele, dazu braucht es vielfältige Sinnes- und Bewegungserfahrungen. Unsere Lebensbedingungen schränken diese Erfahrungen aber immer mehr ein - mit erschreckenden Folgen: 40-60 % unserer Kinder kommen mit Haltungsschäden oder -schwächen in die erste Klasse. Auch im psychosozialen und geistigen Bereich zeigen sich Auswirkungen: Verhaltensauffälligkeiten, Störungen in der Wahrnehmungsverarbeitung, Ängste, Aggressivität und Konzentrationsmängel sind Dauerklagen in Kindergärten, Schulen und zunehmend auch in den Medien.

Pädagog/innen, Erzieher/innen, aber auch Eltern, müssen sich fragen, wie diese Situation zu verbessern ist. Sicher wissen fast alle, dass sich Bewegung positiv auf die körperliche Entwicklung auswirkt. Trotz dieser Erkenntnis blieb die Bewegungssituation der Kinder in den vergangenen Jahren erstaunlicherweise unverändert schlecht. Inzwischen gibt es viele wissenschaftliche Untersuchungen der verschiedensten Fachrichtungen über die positiven Auswirkungen der Sinnes- und Bewegungserfahrungen auf die kindliche Entwicklung - und davor darf nun wirklich niemand mehr die Augen verschließen. Ich will hier einige Beispiele nennen:

  • Die Entwicklung der Knochendichte wird durch Bewegung positiv beeinflusst (Jürgen Weineck: "Bewegungsmangel und seine Auswirkungen auf die psychophysische Leistungsfähigkeit" in "Bewegte Kindheit", Karl-Hofmann-Verlag).
  • Die für das Erwachsenenalter so typischen Rückenbeschwerden entwickeln sich bereits im Kindesalter durch Bewegungsmangel (Jürgen Weineck, s.o.).
  • Die Gehirnvernetzung entwickelt sich über Sinnes- und Bewegungserfahrungen. Kinder mit mangelnden Erfahrungen auf diesem Gebiet kommen mit einem nicht ausreichend vernetzten Gehirn in die erste Klasse - mit den oben angeführten Folgen (Jürgen Weineck s.o.).
  • Eine Studie von Renate Zimmer ergab, dass psychomotorisch geförderte Kinder unter anderem auch bessere Leistungen im Intelligenztest zeigten.
  • Die gesamte Persönlichkeitsentwicklung, die Entstehung eines positiven Selbstbildes und auch die soziale Kompetenz werden durch Sinnes- und Bewegungserfahrungen positiv beeinflusst (Renate Zimmer "Identität und Selbstkonzept - zur Bedeutung von Bewegungserfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung" in "Kindheit in Bewegung", Karl-Hofmann-Verlag).
  • Eine andere empirische Studie von Renate Zimmer ergab, dass Kinder mit breiter psychomotorischer Förderung im Vergleich mit der Kontrollgruppe bessere Leistungen im Grad ihrer Selbstständigkeit und in der Gruppenintegration zeigten.

Sprachtherapeuten fordern schon lange mehr Bewegung für Kinder, denn auch Sprache und Bewegung hängen eng zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Enorme Fortschritte hat die Gehirnforschung in den letzten Jahren gemacht. So kam durch Kohin Raz, einen israelischen Neurologen, heraus, dass Kinder, die schlecht lesen, durch Balancespiel gefördert werden können. Da erstaunt es schon nicht mehr zu hören, dass Kindern, die nicht rückwärts gehen können, auch das rückwärts Zählen schwer fällt.

Verkehrsexperten empfehlen mehr Sinnes- und Bewegungsaktivität, da diese Erfahrung das Unfallrisiko der Kinder senke! Torsten Kunz wies in einer Studie für die Stadt Frankfurt nach, dass Kinder verunglücken, weil ihnen die Bewegungsroutine fehlt!

Erzieher/innen und Pädagog/innen, aber auch Eltern, können sich diese faszinierenden Erkenntnisse im Interesse ihrer Kinder zu Nutze machen und z.B. die Lebensräume der Kinder (Kinderzimmer, Gruppenräume, Klassenzimmer, Gärten, Pausenhöfe usw.) sinnen- und bewegungsfreundlicher gestalten und verstärkt gemeinsamen Bewegungsaktivitäten nachgehen.

Es geht allerdings nicht darum, die Kinder nun mit Bewegung zu "behandeln"! Denn solange die Bewegungsaktivitäten nicht aus eigenem, inneren Antrieb erfolgen können, werden alle gut gemeinten Programme gegen Bewegungsmangel ein Strohfeuer bleiben (Dieter Brodtmann: "Kinder, Bewegung, Gesundheit - Was sind die wirklichen Risikofaktoren?" in "Kindheit in Bewegung", Karl-Hofmann-Verlag). Entscheidend sind die kindliche Freude und Lust am selbstständigen Bewegen, Entdecken, Ausprobieren und Lösen.

Schaut man sich Kinder in ihrem Lebensalltag an, kommt man zu dem Schluss, dass sie sich eigentlich intuitiv richtig verhalten - wenn man sie nur lässt. Denn Kinder sind neugierige, selbsttätige Menschen mit ausgeprägtem Bewegungs- und Entdeckungsdrang. Es scheint nichts Schöneres zu geben als herumzutoben. Unbeirrt sind sie am Spielen, Rennen, Springen, Klettern, Balancieren, Kullern, Greifen oder Tasten und entwickeln dabei ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Aber wo können und dürfen sie das noch?

Der Bewegungskindergarten in Schweinfurt

Ich möchte Ihnen einen Kindergarten vorstellen, in dem seit 1985 Sinneserfahrung und Bewegung zur fächerübergreifenden, pädagogischen Leitidee wurden: Der evangelische Kindergarten Christuskirche in Schweinfurt ist ein Modellprojekt der Bayerischen Sportjugend, das inzwischen bundesweit und darüber hinaus bekannt geworden ist. Atmosphäre und Umgebung unseres Kindergartens fördern Neugierverhalten, Kreativität, Spontaneität und Sozialverhalten, damit unsere Kinder zu SELBSTbewussten, gesunden und fröhlichen Menschen heranwachsen können.

Wir beziehen die Bewegung in alle anderen Lebensbereiche mit ein, was ohnehin dem Ziel einer ganzheitlichen Förderung entspricht. Egal ob Religion, Sprach- oder Kunsterziehung, ob Werken, Umwelt- und Sachbegegnung oder Rhythmik und Musik - wir vermitteln alles auch über Bewegung und Sinneswahrnehmung.

Schon auf dem Gehweg vor dem Kindergarten laden gemalte Phantasiefiguren zum Balancieren und Hüpfen ein. Im Haus finden die Kinder in der Freispielzeit neben den üblichen Angeboten z.B. mehrere Spielebenen, Tobeecken, Kletterwände und Klettertaue, Möglichkeiten zum Höhlenbauen und Basteln an der Werkbank, Hängematten zum Schaukeln und Träumen, Staffeleien zum Malen im Stehen, eine Bewegungsbaustelle und Spiele zur Sinneswahrnehmung, Rollbretter, Minitrampoline und Riesenkreisel. Die Stockwerke sind nicht nur durch Treppen verbunden, sondern auch über eine Feuerwehrstange zu erreichen. Die Kinder können sich ohne zeitliche oder zahlenmäßige Begrenzung in der Freispielzeit im Haus bewegen und entscheiden, was sie wie lange mit wem spielen wollen (die Gruppen- und Nebenraumtüren sind geöffnet und alle Angebote frei zugänglich). Selbstverständlich sind die Erzieherinnen für die Kinder da, wenn sie gebraucht werden.

Der Garten ist ein Paradies. Er hat zwei Ebenen, die durch eine Rutschbahn verbunden sind. Zum Klettern, Baumeln, Schaukeln laden Taue, Tauschlingen, Autoreifen am Tau und ein richtiger Kletterbaum ein. Wir haben ein echtes Boot, Reckstangen, Schwebebalken, Wipptiere, Fußballtor, Korbballständer, psychomotorische Fahrzeuge, eine Zisterne mit Pumpe sowie viele Kleingeräte und Materialien zum Spielen und Bauen. Die Mädchen spielen mit Vorliebe im Indianerdorf, die Jungen an der echten Baustelle, und der Summstein vermittelt erstaunliche Erfahrungen mit der eigenen Stimme. Im Sommer darf barfuß gelaufen werden - ein tolles Erlebnis für die Füße ist z.B. die Fußfühlstraße.

In der Erntezeit pflücken wir Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Äpfel und Zwetschgen, und im Kräuterbeet gibt es Interessantes für die Nase zu entdecken: Lavendel, Zitronenmelisse, Pfefferminze (riecht und schmeckt wie Kaugummi - so die Kinder) und Thymian (macht gute Laune). Im Kräuterbeet steht unser "Insektenhotel", wo "Ohrzwicker" und anderes Getier zu beobachten sind.

Wir kooperieren mit Sportvereinen, und das hat zur Folge, dass 90% unserer Vorschüler Mitglied in einem der vielen Schweinfurter Sportvereine sind - ganz nebenbei eine ganz wunderbare Suchtprävention, denn Kinder und Jugendliche, die im Verein Sport treiben, purzeln nicht auf der Straße herum und nehmen auch keine Drogen. Wir besuchen z.B. im Winter die Schlittschuhbahn des Eis- und Rollschuhvereins und im Sommer den Rasenhockeyverein und werden dort von den Übungsleitern spielerisch betreut. Regelmäßig benutzen wir die Außensportanlagen der "Freien Turner", und einmal wöchentlich gehen wir mit den Vorschulkindern zur "spielerischen Wassergewöhnung" ins Lehrschwimmbecken der nahe gelegenen Grundschule. Fast alle unsere Kinder können, wenn sie in die Schule kommen, Schlittschuh laufen und schwimmen.

Auch mit den Eltern treiben wir sporadisch gemeinsam Sport und besuchen z.B. eine Gymnastikgruppe der Turngemeinde.

Einmal im Jahr gehen wir gemeinsam mit unseren "Kleinen" zwei Tage und mit unseren "Großen" zwei Wochen in den nahen Stadtwald, wo Erholungsheime der Wohlfahrtsverbände zur Verfügung stehen. Früh holt uns der städtische Bus ab und bringt uns am Abend wieder zurück. Wir erkunden den Wald, beobachten Pflanzen und Tiere, bauen Baumhäuser, besuchen Spielplätze usw. Diese zwei Wochen sind der Höhepunkt und Abschluss der Kindergartenzeit.

Durch unsere intensive Eltern- und Öffentlichkeitsarbeit und die enge Kooperation mit dem Träger hatten wir immer die erforderliche Rückendeckung. Unsere anfängliche Unsicherheit oder Ängstlichkeit bauten wir nach und nach durch die Beobachtung der Kinder und unsere Erfahrungen ab. Es ist faszinierend, wie die Kinder in Bewegung und am Entdecken sind, wie sie immer sicherer und selbstbewusster werden und hoffentlich - das wünschen wir ihnen - eines Tages mit beiden Beinen im Leben stehen.

Literatur

Schaffner, K.: Aus der gymnastischen Lehrarbeit; Pohl-Verlag, 2. Aufl. 1984

Schaffner, K.: Bewegen, Spielen und Tanzen für Kinder von drei bis acht Jahren; Pohl-Verlag, 4. Auflage 1989

Schaffner, K.: Schweinfurter Geschichten - Spiellieder; Teutsch-Verlag 1988

Schaffner, K.: Würzburger Geschichten - Spiellieder; Teutsch-Verlag 1989

Schaffner, K.: Die Welt ist schön - Kreisspiele, Spiellieder und Tänze; Band 1; Pohl-Verlag, 2. Aufl. 1991

Schaffner, K.: Die Welt ist schön …; Band 2; Pohl-Verlag 1996

Schaffner, K.: Die schönsten Turnstunden für Kinder im Vor- und Grundschulalter; Pohl-Verlag 1997

Schaffner, K.: Mit allen Sinnen die Welt erfahren - Geschichten und Spielanregungen für Kinder und Eltern; Herder-Verlag 1997

Schaffner, K.: Kunterbunte Laternen - mit lustigen Liedern; Augustus-Verlag 1997

Autorin

Karin Schaffner, Jahrgang 1940, ist nach einem technischen Beruf auf dem zweiten Bildungsweg Erzieherin geworden. Sie leitet seit 1985 das Modellprojekt der Bayerischen Sportjugend "Bewegungskindergärten in Bayern". Sie ist Autorin, Liedermacherin, Referentin in der Erzieherinnen- und Übungsleiteraus- und Fortbildung und ist natürlich auch bei den großen "Bewegungskongressen" im Einsatz.