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Zitiervorschlag

Die Kindergartenpraxis an der Schwelle der Industrie- und Konsumgesellschaft zur Wissensgesellschaft

Barbara Perras-Emmer

 

Die Rahmenziele laut Bayerischem Kindergartengesetz (BayKiG) haben nach wie vor ihre Gültigkeit. Ihre Umsetzung und die angewandten Methoden orientieren sich an den Bedürfnissen der Kinder. In einer sich rasant verändernden Umwelt müssen die Kinder Gelegenheit haben, Flexibilität und Mobilität zu erlernen; mindestens genauso wichtig aber ist die Stabilität ihrer Umwelt.

Intelligenz entwickelt sich zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht. Beim Schaukeln wird dieses einfache Prinzip täglich geübt. Wir müssen die Gegensätze nicht verleugnen, pädagogische Klarheit ist gefragt. Die Kinder brauchen Grenzen, um daran wachsen zu können. Sie brauchen Halt, um aus der Sicherheit auf eine unsichere Umgebung und Zukunft zugehen zu können.

Grenzen sind

  • Verhaltensregeln, welche eingehalten werden müssen,
  • Körperkontakt, der Geborgenheit vermittelt,
  • eigene Grenzen der Kinder, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen und die auch die Eltern akzeptieren lernen müssen.

Kinder lernen durch Bewegung

Die Wahrnehmung der Kinder ist auf die Kontrolle durch die Bewegung angewiesen, z.B. beim Einschätzen von Entfernungen, Erkennen von Formen (Jedes Kind rührt gerne in einem Topf und integriert dabei die Form "rund") usw.

Unsere Schrift ist ein Auf und Ab mit Kreuzungen. Die unzähligen Hoch- und Nieder-Bewegungen beim Schreiben muss ein Kind mindestens so oft mit dem eigenen Körper erlebt haben. Nur durch die Bewegung wird die Form integriert. Kann ein Kind seine Körpermittellinie nicht kreuzen, so hat es auch Probleme mit den Schwungübungen im Heft. Es ist auf die Wahrnehmung mit allen Sinnen angewiesen, z.B. indem es einen Stift von der rechten Seite mit der rechten Hand ganz weit links neben den Körper legt und dies mit den Augen verfolgt, ohne den Kopf zu drehen. Sehr wichtig für die Einschulung ist die Entwicklung einer Handdominanz.

Kinder lernen im Spiel, das Spiel ist zweckfrei

Wir meinen mit Spiel jede kindliche Betätigung - auch wenn Kinder in eine Pfütze treten, auf einen Baum klettern oder eine Mauer herunterspringen. Die eingeschränkte Form der Tischregelspiele im Sitzkindergarten hat ausgedient, weil sich die familiären und häuslichen Bedingungen drastisch verändert haben.

Lust, Freude und Spaß sind die Hauptkriterien kindlicher Beschäftigung

Sollen unsere Kinder nicht rechtzeitig lernen, dass das Leben nicht spaßig ist? Hier geht darum, dass die Kinder bis zu 6 Jahren ein Können entwickeln und Wissen erwerben, welches als Basis für spätere Bildung dient. Sie wollen und dürfen gerne lernen. Nur positiv bewertete Erfahrungen werden letztendlich gespeichert und machen Mut auf Neues und Veränderung. Wir dürfen nicht die kindliche Neugierde "niedermachen", um anschließend mit Lob oder Belohnung Motivation von außen einzuführen.

Kindliches Lernen muss sinnvoll sein

Nur durch Wahrnehmung mit allen Sinnen, werden unsere bevorzugten Fernsinne - das Sehen und das Hören - stabilisiert. Viele Dinge, welche anfangs überprüft werden müssen, werden später selbstverständlich als Wissen dazugezählt. Lernen mit allen Sinnen ist kindgerecht und liefert über die Bewegung die nötige Energie.

Offene Konzepte fördern die Kommunikation

Die Kinder brauchen eigene Erlebnisse aus erster Hand, damit sie Sprechanlässe haben. Erlebnisse im Elementarbereich sind an Bewegung gebunden. Das Kind erlebt Selbstwirksamkeit und Selbsttätigkeit, wenn es z.B. einen Stuhl transportieren oder ein anderes Kind auffordern kann, dies zu tun, und der andere kommt der Aufforderung nach. Schwerer ist es, in der Kinderkonferenz die Selbstwirksamkeit zu erkennen. Für die Entwicklung der Kinder ist es deshalb besser, von einfachen Bewegungsanlässen zu verbalem Verständnis zu kommen.

Dreidimensionale Wahrnehmung ist mit dem Einschulungsalter meist abgeschlossen

Formwahrnehmung findet bereits mit zwei bis drei Jahren statt, Auseinandersetzung mit der Schwerkraft noch früher ... Wir bieten den Kinder die Gelegenheit, ihre eigenen Erfahrungen zu sammeln, ohne diese jedoch gleich zu zerreden und die Kinder mit unseren Informationen zu überschütten. Die Bewegungserfahrung wird zunächst mit sehr einfachen Sätzen begleitet. Das Können der Kinder entwickelt sich dabei unter Aussortieren von Exformationen; es will selbst feststellen, was wichtig ist. Das Kind denkt, es benutzt vermehrt dazu die Sprache, und wir stehen dann für die Fragen mit Antworten zur Verfügung.

Das Wiedererkennen der räumlichen Welt auf zweidimensionalen Bildern in Bilderbüchern schaffen den ersten Bezug zur Literatur. Die größte Freude haben Kinder daran, Dinge wieder zu erkennen. Bei Texten ist es dann ebenso; Themen, welche die Kinder selbst kennen, sprechen besonders an. Erst später können sie fremde Themen zu ihren eigenen machen.

Gut qualifizierte Erzieherinnen gefragt

Erzieher werden auch dann gebraucht, wenn sie nicht alle Vorgänge lenken. Wir haben das nötige Wissen, was Kinder wann benötigen, - auch aus der Hirnforschung - und müssen oft "passiv" beobachten, auch wenn dies für Eltern oder Außenstehende nach "Nichtstun" aussieht.

Allgemeine Fortbildungen und spezielle, z.B. zur Motopädagogik, Psychomotorik, Ergotherapie usw. helfen, unser Wissen weiterzuentwickeln, aber vor allem, es praktisch anzuwenden. Wir haben einen Arbeitskreis Naturwissenschaft im Kindergarten gegründet und organisieren Teamfortbildungen und Supervision, um die tägliche Arbeit in der Praxis zu verbessern. Eigeninitiativen sind gefragt.

Viele Fachakademien zur Erzieherausbildung (leider nicht alle) fördern die Selbständigkeit ihrer Studierenden, lassen innovative Ideen und wirkliche Diskussionsrunden zu. Wer selbst erlebt hat, dass ihm etwas zugetraut wird, wird auch Vertrauen in die Kinder setzen - wer selbst im Frontalunterricht für die nächsten Schulaufgaben gelernt hat, glaubt, dass Lernen auch bei anderen nur unter Druck stattfinden kann.

Leider hat der soziale Zweig an den Schulen oft den Beigeschmack des einfachsten Wegs. Wer selbst nicht gerne liest oder lernt, also nicht lebenslang neugierig ist, hat im Kindergarten nichts zu suchen. Das "negative" Lernmodell des Erziehers wird vom Kind übernommen. Ein Erzieher muss ein Allroundgenie sein, spontan, kreativ und flexibel. Wir haben Interesse an Naturwissenschaft und Technik, auch wenn wir überwiegend weiblich sind.

Unser Kindergarten

In unserem Kindergarten haben wir den Mut, unsere vier Gruppen nur einfach zu nummerieren. Unsere Eltern wollen lieber niedliche Namen wie Häschengruppe ... Unserer Gruppe I gehört das gelbe Dreieck, der Gruppe II das grüne Rechteck, der Gruppe III der rote Punkt und der Gruppe IV das blaue Quadrat. Wir finden diese Formen sehr ansprechend und unsere Kinder haben so viel Phantasie, dass der rote Punkt auch Besuch bekommen kann, z.B. vom gelben Dreieck; und wenn sich beide dann balgen, haben wir den schönsten orangefarbenen Weihnachtsstern.

Kinder erhalten in unserem Kindergarten

  • Entscheidungsfreiraum: Spielpartner und Tätigkeiten frei wählen können, z.B. Spielstationen in der Turnhalle anstatt Anstellen in einer Reihe mit Warten...
  • Handlungsspielraum: den Rahmen selbst stecken können, Aufgaben individuell sehen und variieren, eigene Stärken und Schwächen wahrnehmen und akzeptieren können.
  • die Möglichkeit zur Neubewertung von Erfahrungen, Betrachten von einem anderen Standpunkt aus (jedes Ding hat zwei Seiten).
  • Erwachsene, die sich selbst zurücknehmen können und nicht vorschnell Hilfestellung geben (bei Beachtung der Aufsichtspflicht).
  • anspruchsvolle Tätigkeiten, welche sie ohne fremde Hilfestellung ausführen können; weder Über- noch Unterforderung.
  • die Möglichkeit, auf einfachere Varianten zurückgreifen zu können, ohne dies als Versagen zu sehen (z.B. Bewegungsbaustelle mit unterschiedlichen Höhen).
  • Tätigkeiten, deren Schwierigkeitsgrad sie selbst staffeln können (z.B. bei Faltarbeiten Sterne, die sich steigern lassen).
  • Erfolgserlebnisse, die generalisiert werden können, um Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein aufbauen zu können.
  • Konsequenzen, um selbst entscheiden zu können: Bin ich mit dem Ergebnis zufrieden oder möchte ich durch Üben weiter kommen?
  • Grenzen, um dem eigenen Denken und Handeln eine andere neue Richtung zu geben.
  • Ursachenfindung und -zuschreibung und deren verbale Bearbeitung.
  • die Sicherheit, wo sie sich Hilfe holen können und welche Hilfe sie bekommen können.
  • die Differenzierung zwischen inneren und äußeren Faktoren.
  • Selbst- und Fremdbestimmung.
  • stabile und variable Faktoren.
  • eine anregende Umwelt.
  • Räume als dritte Erzieher.
  • einen besseren Motorik-Quotienten.
  • Antworten auf die veränderten Lebensbedingungen...

Autorin

Barbara Perras-Emmer ist Leiterin des Städt. Kindergartens Parsberg.