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Zitiervorschlag

Erziehung zur Selbständigkeit: Montessoris Entwicklungspädagogik

Ingeborg Becker-Textor

 

Im Kindergartenbereich grenzt der Gesetzgeber keinen pädagogischen Ansatz aus. So ist in jedem Bundesland die Möglichkeit gegeben, nach Methoden und Pädagogik Pestalozzis, Fröbels, Montessoris oder Steiners, nach dem Situationsansatz, der Reggio-Pädagogik oder der offenen Kindergartenarbeit - um nur einige zu nennen - zu arbeiten.

Landesgesetzlich geregelt werden lediglich Sonderformen der Gruppengestaltung in Kindertagesstätten wie z.B. Integrationsgruppen oder -kindergärten, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut werden. Ob hier dann nach Fröbel, Montessori oder einem anderen Ansatz gearbeitet wird, hat keinen Einfluß auf die Bildung solcher Gruppen (hier gilt es, explizit darauf hinzuweisen, daß die Meinung, daß Montessori-Kindergärten grundsätzlich Integrationskindergärten seien, nicht zutreffend ist!). Sie unterscheiden sich vielmehr von Regelgruppen nur durch geringere Gruppenstärke, erhöhten Personalschlüssel u.ä. In einer Vielzahl von Integrationseinrichtungen wird jedoch die Montessori-Pädagogik angewandt.

Eine weitere Sonderform sind altersübergreifende Gruppen für Kinder - im Extremfall zwischen 0 und 15 Jahren. Auch hier kann frei entschieden werden, welches pädagogische Konzept Anwendung findet.

Ich möchte Sie heute mit den Ansätzen der Montessori-Pädagogik bekannt machen und diese diskutieren. Mein besonderer Bezug zur Montessori-Pädagogik resultiert zum einen aus meinem Interesse an der Geschichte der Pädagogik und hier an den Vertreter/innen der Reformpädagogik, der "Pädagogischen Bewegung vom Kinde aus".

In vielen Jahren praktischer Arbeit habe ich immer wieder nach dem "gewissen Etwas" gesucht, nach Begründungszusammenhängen. Schon bald habe ich erkannt, daß pädagogische Arbeit im Kindergarten etwas ist, was nicht nur immer im Fluß sein, sich weiterentwickeln und konzeptionell verändern muß, sondern daß viele pädagogische Ansätze eine "innere Verwandtschaft" zueinander haben und somit nur selten in absoluter "Reinkultur" praktiziert werden, daß diese Ansätze nicht losgelöst vom aktuellen Zeitgeist, den gesellschaftlichen Bedingungen und den Bedürfnissen von Kindern und Familien gesehen werden können.

Während meiner Ausbildung am Kindergärtnerinnenseminar spielte die Geschichte der Pädagogik nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Lediglich die Lebensläufe namhafter Pädagogen wurden "angetippt". An der Fachhochschule wurde der Bereich der Geschichte der Pädagogik total ausgeklammert. Erst viel später - ich war schon dabei, aus der praktischen Arbeit "auszusteigen" - an der Universität, bot sich mir die Chance, mich intensiv mit Quellentexten zu beschäftigen. Insbesondere die Reformpädagogen überzeugten mich durch ihre Sichtweise vom Kind und durch ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Erziehungshandeln der Erwachsenen.

Ich zitiere hier die Schwedin Ellen Key aus ihrem Buch "Das Jahrhundert des Kindes": "Der Erzieher will das Kind mit einem Schlage fertig und vollkommen haben; er zwingt ihm eine Ordnung, eine Selbstbeherrschung, eine Pflichttreue, eine Ehrlichkeit auf, die die Erwachsenen sich dann mit staunenswerter Geschwindigkeit abgewöhnen! Wenn es sich um die Fehler der Kinder handelt, siebt man im Hause wie in der Schule Mücken, während man täglich die Kinder die Kamele der Erwachsenen schlucken läßt! ... Ein Kind erziehen - das bedeutet, seine Seele in seinen Händen tragen, seinen Fuß auf einen schmalen Pfad setzen. Das bedeutet, sich niemals der Gefahr aussetzen, im Blick des Kindes der Kälte zu begegnen, die uns ohne Worte sagt, daß das Kind uns unzureichend und unberechenbar findet; das bedeutet, demutsvoll einsehen, wie der Möglichkeiten dem Kinde zu schaden, unzählige sind, der ihm zu nützen, wenige. Wie selten erinnert sich der Erzieher, daß das Kind schon im Alter von vier, fünf Jahren die Erwachsenen durchforscht und durchschaut, mit einem wunderbaren Scharfsinn seine bewußten Wertungen anstellt, mit bebender Sensitivität auf jeden Eindruck reagiert! Das leiseste Mißtrauen, die geringste Unzartheit, die kleinste Ungerechtigkeit, der flüchtigste Spott können lebenslängliche Brandwunden in der feinbesaiteten Seele des Kindes zurücklassen, während andererseits die unerwartete Freundlichkeit, das edle Entgegenkommen, der gerechte Zorn sich ebenso tief in diese Sinne einprägen, die man weich wie Wachs nennt, aber behandelt, als wären sie aus Ochsenleder!"

Soweit Ellen Key, die als Reformpädagogin das "Jahrhundert des Kindes" ausgerufen hat.

Durch meine Montessori-Ausbildung, vor allem aber durch viele Hospitationen in Montessori-Einrichtungen in Deutschland, den Niederlanden und Italien, begann ich, mich immer mehr mit der Montessori-Pädagogik - vor allem auch theoretisch - auseinanderzusetzen. Je mehr ich dies jedoch tat, desto unzufriedener wurde ich mit der in der Praxis angewandten Pädagogik. Es fiel mir immer wieder auf, daß die Erziehungstheorien Montessoris nur von ganz wenigen Pädagogen wirklich aufgenommen und - um mit den Worten Maria Montessoris zu sprechen - absorbiert wurden. Ich erlebte vielerorts, vor allem in der Bundesrepublik, eine sehr "verkürzte Anwendung" der Montessori-Materialien und Umsetzung ihrer pädagogischen Gedanken.

Ich möchte deshalb zu einigen wichtigen Aspekten überleiten, die immer wieder als Kennzeichen der Pädagogik Maria Montessoris dargestellt, aber eben nur verkürzt wiedergeben werden. Worauf kommt es Maria Montessori an?

Durch den Einsatz von Montessori-Material wird eine Einrichtung nicht automatisch zu einem Montessori-Kindergarten, Erst wenn die Sichtweisen vom Kind Eingang finden, kann Montessori-Material wirklich angeboten werden. Dann wird sich aber auch die Atmosphäre im Kindergarten verändern, ein anderer "Geist" wird spürbar sein, und der Kindergartenalltag wird durchdrungen werden von Freiheit, Ordnung, Stille, Konzentration, Selbstentfaltung, Selbständigkeit usw.

Ich durfte diese so "andere" Atmosphäre in den Niederlanden erleben und bin sehr froh darüber. Erst durch die Hospitation dort - lange nach meiner Montessori-Ausbildung - habe ich wirklich begriffen, wie Maria Montessori sich die Erziehung unserer Kinder wünscht, wie bedeutsam der Aufforderungscharakter der Materialien ist und wie unverzichtbar die neue Lehrerin für die Umgebung des Kindes Sorge zu tragen hat. So meine ich, daß man Montessori-Pädagogik selbst erleben, an sich selbst erfahren muß, wenn man sie begreifen will. Letzteres ist aber die Bedingung, wenn die Umsetzung in die Praxis gelingen soll.

Heute wird vielfach die Auffassung vertreten, daß Montessori-Kindergärten Integrationskindergärten seien bzw. daß ein Kindergarten, der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam erzieht und betreut, ein Montessori-Kindergarten wäre. Zu dieser Interpretation ist es nicht zuletzt deshalb gekommen, weil viele sonderpädagogische Einrichtungen nicht ohne Erfolg auf das Montessori-Material zurückgreifen und es quasi als therapeutisches Mittel einsetzen. Maria Montessori hat viele Erziehungsmethoden und Materialien von den beiden französischen Ärzten Itard und Séguin übernommen. "Es waren nur gewisse Prinzipien, denen von mir in der Erziehung normaler Kinder ein Platz eingeräumt wurde, z.B. die Berücksichtigung ihrer physiologischen Bedürfnisse, soweit sie das vegetative Leben betreffen, sondern auch derjenigen, die sich auf das Nervensystem beziehen..." (Maria Montessori: On my method, Kalkutta 1960 - aus dem Englischen von K. Hünig und W. Böhm).

Warum hat Maria Montessori heute derartig an Aktualität gewonnen? Von vielen Eltern wird die Montessori-Methode als Allheilmittel gesehen zur Behebung von Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen, aber auch zur Behebung von Verhaltensauffälligkeiten. Hinzu kommt die Anwendung ihrer Methode in Integrationseinrichtungen. Pädagogen, die nach Maria Montessori arbeiten, bezeichnen sich nicht selten als "Montessori-Therapeuten". Montessori hat ihre Pädagogik jedoch keineswegs als Therapie verstanden, sondern explizit von der Anwendung in der Arbeit mit normalen Kindern gesprochen. Leider aber bleibt es in vielen Einrichtungen bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise, und die Montessori-Methode wird eben nur als Mittel zur "Besserung" des Kindes eingesetzt.

Darüber hinaus kann die Aktualität der Montessori-Pädagogik aber auch als Kritik am bestehenden Bildungssystem verstanden werden, dessen Entwicklung in manchen Bereichen stagniert. So erhoffen sich Eltern und Pädagogen Impulse für den pädagogischen Alltag (hiermit erklärt sich übrigens auch das derzeit wachsende Interesse an den Vertretern der Reformpädagogik und der Pädagogischen "Bewegung vom Kinde aus").

Maria Montessori - ihre Grundprinzipien

Zentraler Punkt aller Überlegungen Maria Montessoris und somit ihres ganzen Erziehungskonzeptes ist ihre Grundhaltung dem Kind gegenüber. Sie glaubt an die verborgenen schöpferischen Kräfte im Menschen und erachtet ihre Aufgabe darin, diese zu wecken, zu aktivieren und zu motivieren, um den Menschen dadurch zu harmonisieren und zu normalisieren. Nur darin sieht Maria Montessori eine Möglichkeit zur Lösung der Menschheitsprobleme. Sie vergleicht ihre Arbeit im erzieherischen Bereich mit der Arbeit des Arztes, ihre Erziehungsmethoden mit der Hygiene. Deshalb stellt sie die Normalität des Menschen gleich mit seiner absoluten Gesundheit, sowohl im physischen als auch im psychischen Bereich.

1946 führte Maria Montessori bei einem Vortrag in London aus: "Es gibt viele Fehler im Benehmen der Kinder, welche die Leute korrigieren wollen. Dieses besondere moralische Benehmen nennt man bei all den kleinen Kindern 'Unartigkeit'. Diese Unartigkeit ist aber nicht eine wirkliche sittliche Frage. Heutzutage nennen wir diese Kinder nicht 'böse', sondern 'schwierig'. Es handelt sich um ein modernes Problem. Dieses Problem der schwierigen Kinder ist fast unlösbar. Der gute Wille der Eltern und der Lehrer berührt die Unartigkeit dieser schwierigen Kinder nicht. So hat sich eine andere Gruppe von Leuten erhoben, um eine Antwort auf diese praktische Schwierigkeit in der Gesellschaft zu geben: Da gibt es Psychologen. Diese Psychologen haben besondere Institute gegründet, die man Child Guidance Clinics nennt. Die neue Idee ist Führung, nicht Zwang. Das also ist die große Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Schwierige Kinder werden in Hospitäler gebracht, statt daß man sie im Klassenzimmer in die 'Ecke stellt'. Diese unverbesserlichen Unarten sind Krankheiten. Die Eltern und der Lehrer können nichts tun und auch der Arzt nicht, denn die schwierigen Kinder werden immer zahlreicher. In den alten Tagen war die Frage nicht so wichtig, weil die Kinder durch Strafen unterdrückt wurden; aber heutzutage ist es wie eine Überschwemmung. Es ist, als ob die Themse, dieser schöne Fluß, über die Ufer trete. Das würde ein Unglück sein. Die Zahl ungezogener, unverbesserlicher Kinder vermehrt sich in unserer heutigen Welt, und die Erwachsenen beginnen, hilflos zu werden. Jedermann versucht den Grund für diese Schlechtigkeit in den Kindern zu finden. Wir dürfen aber nicht denken, daß 1946 die Kinder plötzlich schlimmer sind. Es handelt sich nicht um ein Ergebnis der Evolution. Die Kinder dürften ungefähr die gleichen sein, wie sie immer gewesen sind. Es handelt sich also nicht um den Fehler der Kinder. Es handelt sich nicht um eine Frage, die nur die Kinder betrifft. Die Lebensbedingungen für Kinder scheinen heutzutage besser zu sein denn je... Die Ursache muß im Mangel eines wesentlichen Elements des Lebens liegen. Wir müssen versuchen, dieses fehlende Element zu finden. Das ist die Forschung, die heute notwendig ist, um jedem helfen zu können. Dieses fehlende Element muß etwas Psychologisches sein, das man entweder nicht weiß oder das man nicht beachtet. ... Wenn ich sehe, wie die Zahl von unartigen und schwierigen Kindern sich heutzutage vermehrt, so erkenne ich, daß es sich nicht um eine Frage der Moral der Kinder handelt, um etwas Schlechtes im Inneren individueller Kinder. Es handelt sich um eine Frage, wie die Welt um die Kinder herum sie beeinflußt. Es handelt sich mehr um einen Mangel bei den Eltern als bei den Kindern, und man sollte mehr Aufmerksamkeit auf sie verwenden, als auf die kleinen Kinder. Wenn wir bessere Bedingungen für die Kinder herstellen können, so müssen wir an die Eltern denken. Es handelt sich um drei Dinge: Zunächst darum, daß man diese Erwachsenen ändert, die so darum besorgt sind, kleinen Kindern eine moralische Erziehung zu geben. Die Erwachsenen selbst müssen sich den Notwendigkeiten der Zeit anpassen. Der zentrale Punkt für die kleinen Kinder ist ihr Bedürfnis, in einer bestimmten Hinsicht auf die Erwachsenen zuzugehen. Erwachsene sind unwissend und sehen die Kinder nur von einem Gesichtspunkt aus. Sie sehen nur die Unartigkeit der Kinder. Der Schluß daraus ist also, daß, wenn wir eine bessere Menschheit haben wollen, die Erwachsenen besser sein müssen. Sie müssen weniger stolz sein, weniger an sich selbst denken, weniger diktatorisch sein. Die Erwachsenen müssen auf sich selbst sehen und sagen: 'Ja, ich verstehe dieses Problem'." (Montessori, Spannungsfeld Kind - Gesellschaft - Welt, 1979).

Eine Sichtweise vom Kind, vom Erwachsenen, von der Gesellschaft, über die es sich lohnt, nachzudenken!

Welches sind nun die wichtigen Kernpunkte in der Montessori-Pädagogik?

  1. Schulung der Wahrnehmungsfunktionen: Montessori wählt bestimmtes Arbeitsmaterial aus im Hinblick auf die Fähigkeit des Kindes, die Welt erst sinnlich, später auch begrifflich zu erfassen. Das Kind soll dabei seine Beobachtungsgabe, sein Zuordnungs- und Unterscheidungsvermögen üben und so vom konkreten Schauen zum abstrakten Denken gelangen.
  2. Programmierte Vorbereitung durch die Erzieherin, Übung, Präzision und Vervollkommnung durch die Aktivität des Kindes: Durch die programmierte Vorbereitung durch die Erzieherin übt das Kind den Umgang mit dem Material und erreicht damit durch zunehmende Präzision die Vervollkommnung eines sinnlichen Erfahrungsraumes. Montessori sieht diesen Prozeß als Voraussetzung zur Entwicklung zwischenmenschlicher, persönlicher Fähigkeiten.
  3. Selbstwertungsprozeß und Individualität: Durch die Bereitstellung ihres Materials bringt Montessori das Kind zur Selbsterfahrung und gleichzeitig zur Selbsterziehung und Selbstdisziplin. Sie geht davon aus, daß das normalisierte Kind ausreichend Eigenmotivation besitzt. Das Material in Verbindung mit dem Arbeitstempo ist der Individualität und dem Entwicklungsstand des Kindes angemessen.
  4. Bewegung, Aktivität und Arbeit: Die aktive Erziehung hält Maria Montessori für sehr wichtig. Sie versteht unter diesem Begriff Übungen im sensorischen Bereich, Übungen des praktischen Lebens, in denen man "tun durch tun lernt". Das Kind lernt Arbeitshaltungen und Ordnungen kennen und hat einen Ausgleich zur geistigen Arbeit.
  5. Freiheit und Spontaneität: Das normalisierte Kind entscheidet sich spontan für ein bestimmtes Arbeitsmaterial und drückt seine spontane Individualität innerhalb einer "expansiven Erziehung" dadurch aus, daß es sich in interessante, selbstgewählte Aufgaben vertieft.
  6. Die vorbereitete Umgebung: Maria Montessori versteht darunter eine an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtete Umgebung mit geregelten Anreizen in abgestuftem Material. Es ist Aufgabe der Erzieherin/ Lehrerin, aufgrund ihrer Beobachtungen an Kindern die Umsetzung vorzubereiten.
  7. Sensitive Perioden: In bestimmten Altersabschnitten zeigt das Kind eine außergewöhnliche Sensibilität für bestimmte Lernprozesse. Diese Abschnitte bezeichnet Montessori als die sensitiven oder sensiblen Perioden. In dieser Zeit werden Umweltreize aufgenommen, absorbiert und miteinander in Beziehung gesetzt. Es kommt zu Selbsttätigkeit und Konzentration.
  8. Rhythmus, Gleichgewicht, Ordnung: Montessori bezeichnet den Menschen als rhythmisches Geschöpf, das zu seiner optimalen Entfaltung Freiheit innerhalb bestimmter Grenzen braucht. Nur so gelangt der Mensch zur Selbstbeherrschung und ist in der Lage, soziale Beziehungen aufzubauen.
  9. Entdeckungen und Entwicklungen: Durch Beobachtung des normalisierten Kindes und Erforschen seiner normalen, natürlichen Entwicklung glaubt Montessori, die "Pädagogik vom Kinde aus" aufzeigen zu können. Das Ziel ihrer Pädagogik ist deshalb: eine neue Menschheit, die ihr Leben meistern kann.
  10. Das Kind als Baumeister des Menschen: Montessori ist überzeugt, daß das Kind einen Bauplan der Seele in sich hat und sich selbst im Grunde zum Menschen emporarbeitet, so daß die Umwelt ihm eigentlich nur Material zu liefern und seine Entwicklungsbedürfnisse zu erspüren und zu beachten hat.
  11. Der neue Lehrer: Montessori versteht unter dem Lehrer bzw. der Lehrerin vorrangig den Beobachter, der den Lernprozeß des Kindes verfolgt und - wenn nötig - in Kommunikation mit dem Kind tritt. Er muß auf das Kind hören, wenn es sagt: "Hilf mir, es selbst zu tun" und muß dann in diesem Sinne tätig werden (Zurückhaltung ist also angesagt, ohne daß dabei das Kind aus dem Auge gelassen wird!).
  12. Wissen, lieben, dienen: Diese Grundsätze bestätigen sich im praktizierten pädagogischen Konzept Montessoris. Sie sind notwendig, um dem Kind in vorbereiteter Umgebung zur Normalisation zu verhelfen.

Maria Montessori möchte, daß das Kind frei wird von der Abhängigkeit vom Erwachsenen. Es soll seine Fehler selbst erkennen und korrigieren können. Alle ihre Arbeitsmaterialien sind daher mit Fehlerkontrollen ausgestattet. Das Kind kann seine Arbeit selbst überprüfen und, wenn notwendig, verbessern. "Niemand kann frei sein, wenn er nicht unabhängig ist. Das Kind muß durch seine Betätigung zur Selbständigkeit gelangen. Bis das Kind drei Jahre alt geworden ist, sollte es sich in großem Maße frei und unabhängig haben machen können."

Montessori sagt damit deutlich, daß Kinder nicht Puppen sind, die wir bedienen, denen wir alles abnehmen müssen. Kinder sind eigenständige Menschen, denen wir behilflich sein sollen, die Tätigkeiten und Probleme im Alltag selbst zu bewältigen. Wir müssen uns dabei leiten lassen von der Forderung des Kindes: "Hilf mir, es selbst zu tun!"

In der Montessori-Pädagogik hat das Kind ein Recht auf Spontaneität und freie Entfaltung. Das Kind lernt in dieser Freiheit - zum Erstaunen vieler Erwachsener. Es läßt sich nicht stören und nicht ablenken und braucht am allerwenigsten die Gängelung und Hilfestellung durch den Erwachsenen. Die einzige Forderung, die es immer wieder stellt, und die eigentlich ein Leitsatz der Montessori-Pädagogik geworden ist, heißt: "Hilf mir, es selbst zu tun". Und damit meint das Kind: "Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann es selbst und ich will es selbst erfahren und ausprobieren. Hab' Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Bitte beobachte nur und greife nicht ein. Ich werde üben und ich werde Fehler machen, diese erkennen und korrigieren. Das Material zeigt es mir selbst."

Vielleicht fasziniert uns heute auch die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder in einem Montessori-Kindergarten gestalten und sich bewegen - nicht künstlich angeleitet oder befohlen durch die Gruppenleiterin.

In ihrem Buch "Das kreative Kind" schreibt Montessori: "Somit dürfen wir uns in keinerlei intelligente Tätigkeit, die wir beim Kind beobachten, einmischen, auch wenn sie uns widersinnig erscheint oder unseren Wünschen entgegensteht, denn das Kind muß den Zyklus der eigenen Tätigkeit vollenden... Wir können Kinder unter zwei Jahren beobachten, die ohne offensichtlichen Grund Gewichte tragen, die weit über ihre Kräfte gehen. Im Haus von Freunden, wo schwere Pakete standen, sah ich ein eineinhalbjähriges Kind, das sich mit sichtbarer Anstrengung bemühte, diese Pakete von einer Zimmerecke in die andere zu tragen. Die Kinder helfen gerne beim Tischdecken und tragen in den Armen so große Brotlaibe, daß sie ihre Füße nicht mehr sehen können. Sie werden in dieser Tätigkeit, Gegenstände hin- und herzutragen, fortfahren, bis sie müde sind. Im allgemeinen reagieren die Erwachsenen darauf, indem sie das Kind von dem Gewicht befreien, aber die Psychologen haben sich davon überzeugt, daß diese 'Hilfe', die den Zyklus der vom Kind gewählten Tätigkeit unterbricht, eine der gröbsten Unterdrückungen ist, die begangen werden können. Die Störungen vieler 'schwieriger' Kinder können in diesen Unterbrechungen ihre Ursache haben.
Eine andere Anstrengung, zu der das Kind neigt, ist das Treppensteigen. Für uns hat es seinen Zweck, für das Kind nicht. Wenn es oben angekommen ist, wird es nicht befriedigt sein, sondern wird zum Ausgangspunkt zurückkehren, um den Zyklus zu vollenden; es wird es viele Male wiederholen. Die Rutschbahnen aus Holz oder Zement, denen wir auf den Kinderspielplätzen begegnen, bieten Gelegenheit für diese Aktivität; es geht nicht um die Rutschbahn, sondern um die Freude des Hinaufkletterns und die Freude an der Anstrengung.
Es ist schwierig, Erwachsene zu finden, die sich nicht in eine Tätigkeit des Kindes einmischen, daß alle Psychologen auf der Zweckmäßigkeit bestehen, den Kindern Plätze einzuräumen, wo sie ungestört arbeiten können."

Erziehung zur Selbständigkeit und schöpferisches Lernen vollziehen sich nur durch eigenes Tun. Das Kind muß von sich heraus aktiv werden, aus seinen Ideen und Fähigkeiten Aktivitäten entwickeln, sich an seinen eigenen Zielvorstellungen orientieren können. Montessori hat deshalb recht, wenn sie sagt: "Es ist so schwierig, Erwachsene zu finden, die sich nicht in eine Tätigkeit des Kindes einmischen". Jeder Erwachsene müßte von sich selbst wissen, wie wenig es motiviert, wenn die Arbeit immer wieder unterbrochen wird, wenn Vorgesetzte immer wieder meinen, alles besser zu wissen, und wie es hingegen Spaß macht, selbst Dinge zu entwickeln, Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen. Warum also gehen wir mit dem kleinen Kind so dirigistisch und bevormundend um?

Montessoris Entwicklungspädagogik ist sehr stark abhängig vom Erwachsenen und von der pädagogischen Praxis, die die Lehrer einsetzen. Sie legt deshalb größten Wert auf die Vorbereitung der Montessori-Lehrerin. Sie schreibt dazu in ihrem Buch "Das kreative Kind": "Der erste Schritt für eine Montessori-Lehrerin ist die Selbstvorbereitung. Sie muß ihr Vorstellungsvermögen wachhalten, denn in den traditionellen Schulen kennt der Lehrer das unmittelbare Verhalten seiner Schüler und weiß, daß er auf sie aufpassen und was er tun muß, um sie zu unterrichten. Während die Montessori-Lehrerin ein Kind vor sich hat, das sozusagen noch nicht existiert. Das ist der prinzipielle Unterschied. Die Lehrerinnen, die in unsere Schulen kommen, müssen eine Art Glauben haben, daß sich das Kind offenbaren wird durch die Arbeit ... Die Lehrerin muß daran glauben, daß das Kind, das sie vor sich hat, seine wahre Natur zeigen wird, wenn es eine Arbeit gefunden hat, die es ansieht. ... Die Lehrerin wird zum Wächter und zum Aufseher der Umgebung; sie konzentriert sich auf die Umgebung, anstatt sich von der Unruhe der Kinder ablenken zu lassen. Sie konzentriert sich auf die Umgebung, weil von ihr die Genesung und die Anziehungskraft, die den Willen der Kinder polarisieren wird, ausgehen sollen. ... Die erste Aufgabe der Lehrerin besteht also darin, vor allen Dingen die Umgebung zu pflegen. Das ist eine indirekte Arbeit, und wenn die Umgebung nicht gut gepflegt ist, wird es weder auf physischem noch intellektuellem oder spirituellem Gebiet wirkungsvolle und dauerhafte Ergebnisse geben Die Lehrerin, die die Kinder begeistert, weckt ihr Interesse durch verschiedene Übungen, und wenn diese an sich auch nicht bedeutend sind, haben sie doch den Vorteil, das Kind anzuziehen. Die Praxis hat bewiesen, daß eine lebhafte Lehrerin anziehender ist als eine andere - und alle können lebhaft sein, wenn sie wollen. ... Die Lehrerin muß sehr aufmerksam sein. Nicht eingreifen bedeutet in keiner Form eingreifen. Hier macht die Lehrerin oft Fehler. Das Kind, das bis zu einem bestimmten Moment sehr gestört hat, konzentriert sich endlich auf eine Arbeit. Wenn die Lehrerin im Vorbeigehen nur sagt: 'Gut!' das genügt, damit das Unheil von neuem beginnt. Vielleicht wird sich das Kind zwei Wochen hindurch für keine andere Arbeit interessieren. Ebenso, wenn ein anderes Kind auf Schwierigkeiten stößt und die Lehrerin helfend eingreift, wird es die Arbeit ihr überlassen und weggehen. Das Interesse des Kindes konzentriert sich nicht nur auf die Arbeit, sondern öfters auf den Wunsch, die Schwierigkeiten zu überwinden. ... Das Prinzip, das der Lehrerin zum Erfolg hilft, ist folgendes: Sobald die Konzentration beginnt, muß sie tun, als ob das Kind nicht existiere. Sie kann natürlich schauen, was das Kind tut, aber mit einem schnellen Blick, ohne daß sie es merken läßt. Danach wird das Kind, das nicht mehr in der Langeweile von einem Gegenstand zum anderen getrieben wird, ohne sich zu konzentrieren, von einem Vorsatz geleitet beginnen, seine Arbeit auszuwählen. Die Fähigkeit der Lehrerin, nicht einzugreifen, kommt wie alle anderen mit der Praxis, aber nicht mit der gleichen Leichtigkeit. Sie muß sich zu geistiger Größe erheben. Die wirkliche Geistigkeit besteht darin, zu verstehen, daß auch Hilfe Hochmut sein kann."

Wir Erwachsenen müssen lernen, uns überflüssig zu machen. Das heißt nicht, daß wir die Kinder sich selbst überlassen sollen. Unsere Aufgabe, die wirklich anspruchsvoll ist, ist, die Umgebung vorzubereiten, eine gute und harmonische Atmosphäre zu schaffen, die Kinder zu beobachten und zu reflektieren, was sie tun, wie sie sich verhalten und ob unsere Vorbereitungen angemessen waren. Vielleicht ist es auch an der Zeit, daß uns als Eltern oder Erzieherinnen bewußt wird, daß wir von den Kindern lernen können, daß sie Lehrmeister für uns Erwachsene sind. Wenn wir uns auf diese Weise scheinbar weniger um die Kinder kümmern, erfahren sie deshalb nicht weniger Liebe, Zuneigung oder Förderung. Kinder spüren, daß wir Teil des Lebens um sie herum sind. Sie beobachten uns kritisch und nehmen wahr, ob wir ganz bei der Sache sind, ob wir Interesse an ihnen haben, ob wir uns Mühe mit ihnen geben, sie verstehen, sie wahrnehmen und begleiten.

Es ist für uns Erwachsene schwer vorstellbar, daß Kinder uns nicht brauchen, um Fehler zu erkennen, um diese zu beheben. Viel zu oft greifen wir ein und verhindern schon im voraus, daß Kinder Fehler machen können. Sie brauchen jedoch diese unverzichtbare Erfahrung. Denn nur so lernen sie spielerisch, ihre eigenen Fehler auch zu korrigieren. Dies ist eine recht fremde Sichtweise in unserem Erziehungssystem, denn wird die Lehrerin dadurch nicht überflüssig?

Kinder, die ständig von Erwachsenen kontrolliert werden, entwickeln Minderwertigkeitsgefühle. Schon bevor sie eine Arbeit beginnen, sagen sie dann oft: "Ich kann das nicht". Sie haben noch keinen Versuch gemacht, noch keinen der vielen Wege kennengelernt, von denen mit Sicherheit so mancher zum Ziel führen würde. Für viele Erwachsene ist es schwer auszuhalten, wenn Kinder "Umwege" gehen. Wie oft greifen wir ungeduldig ein: "Komm her, das ist falsch, ich zeige dir, wie es geht!"

Erziehung zur Selbständigkeit fordert auch Material, das Kinder selbständig arbeiten läßt. Hier ist das Montessori-Material mit all seinen eingebauten Fehlerkontrollen natürlich besonders geeignet. Wird es jedoch falsch eingesetzt und wird es nicht angeboten von der "neuen Erzieherin, der neuen Lehrerin", dann wird auch das Material an sich nichts bewirken.

In ihrem Buch "Kinder sind anders" wendet sich Maria Montessori an den Erwachsenen und seine Erziehungsmethoden. Sie klagt den Erwachsenen der Unterdrückung des Kindes an. Sie beschuldigt ihn, seinen Einfluß auszunutzen. Es entstehen Gegensätze - auf der einen Seite Bilden und Erziehen, auf der anderen Seite Macht und Einflußnahme. So fordert Maria Montessori, daß die Erwachsenen sich ändern. Sie fordert die neue Lehrerin, geht aber mit der Verallgemeinerung auf alle Erwachsenen noch viel weiter. Ob sie je daran gedacht hat, wie wenig Aufmerksamkeit der durchschnittliche Erwachsene einem Kind widmet? Wie viele Erwachsene gehen am Leiden der Kinder vorbei, erklären Kinderprobleme für unbedeutend? Viele Erwachsene nützen ihre Macht und die Abhängigkeit eines Kindes, um es körperlich und seelisch zu mißhandeln.

Subjektive Beurteilung von Kindern schadet Kindern oft. Weil ein Verhalten einen bestimmten Erwachsenen stört, verurteilt er ein Kind bzw. stempelt es ab. Ob er je darüber nachgedacht hat, daß es an ihm selbst liegen könnte, wenn er etwa seine Abneigung dem Kind gegenüber im Nörgeln ausdrückt und dem Kind negative Verhaltensweisen zuschreibt?

Eltern sind erziehungsberechtigt. Sie haben damit das Recht, die Aufgabe und die Pflicht, Kinder zu erziehen. Das Kind hat das Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung, sein Wohl muß gesichert werden. Was Wohl des Kindes bedeutet, wird jedoch vom Erwachsenen bestimmt.

Wollen wir zur Selbständigkeit erziehen, so müssen wir dem Kind auch Chancen einräumen, unabhängig zu werden. Eine auf Freiheit begründete Erziehungsmethode muß deshalb darauf abgestellt sein, dem Kind zu helfen, Freiheit zu erobern, und die "Loslösung von Bindungen" ermöglichen. Maria Montessori will durch eine auf Freiheit begründete Erziehungsmethode darauf abstellen, dem Kind zu helfen, eben diese Freiheit zu erobern. Das Kind kann sich erst wirklich entwickeln, wenn es vom Erwachsenen, der alles für das Kind macht, "befreit" ist. Kinder können Dinge nur in Freiheit lernen. Natürlich bekleckert sich das Kind, wenn es zum ersten Mal mit dem Löffel isst, es hat ja noch keinerlei Übung. Wir helfen ihm nicht, wenn wir es - um es zu verhindern, daß es sich bekleckert - wieder füttern. Wir haben viel zu viele inaktive Kinder. Sie sitzen essend vor dem Fernseher und konsumieren Film nach Film. Sie werden müde, schlapp, desinteressiert. Die Erziehungsfehler, die dazu geführt haben, wurden in frühester Kindheit gemacht.

Erziehung zur Selbständigkeit bedeutet, dem Kind freie Wahl lassen. Viele Eltern und Erzieher glauben, daß sie den Kindern immer freie Wahl beim Spielen lassen würden. Die Fragen von Kindern "Was soll ich spielen?" oder "Darf ich dieses Spiel holen?" und ähnliche widerlegen dies allerdings. So übt ein Material eine besondere Anziehungskraft auf ein Kind aus, aber leider darf es sich nicht damit beschäftigen. Maria Montessori wünscht sich, daß jedes Material dem Kind vorgestellt wird. Dann wird es "ausgestellt", d.h., es ist für das Kind sichtbar zur Verfügung, und es kann auswählen, womit es sich beschäftigen will. So manche Konsequenz ist aus dem kindlichen Verhalten für die Erziehung zu ziehen.

Die freie Wahl ist untrennbar verbunden mit Konzentration und Wiederholung. Meist können Erwachsene nicht verstehen, daß Kinder eine Tätigkeit viele Male wiederholen, ohne daß sie sich langweilen oder ablenken lassen. Aber "die Aktivität des Kindes wird von innen heraus und nicht von der Leiterin angetrieben".

Erziehung zur Selbständigkeit heißt auch, daß Kinder vielleicht etwas besser wissen als wir Erwachsene. Hierzu Maria Montessori in ihrem Buch "Spannungsfeld Kind – Gesellschaft - Welt": "Angenommen, eine närrische Froschmutter würde ihren kleinen Kaulquappen im Teich sagen: 'Kommt heraus aus dem Wasser, atmet die frische Luft ein, vergnügt euch im grünen Gras, dann werdet ihr alle zu starken, gesunden, kleinen Fröschen heranwachsen. Kommt schon mit, Mutter weiß es am besten!' Wenn dann die kleinen Kaulquappen versuchten zu gehorchen, würde es gewiß ihr Ende bedeuten. Und doch ist dies die Art, die so viele von uns versuchen, ihre Kinder zu erziehen. Wir sind darauf bedacht, sie zu intelligenten und nützlichen Bürgern zu machen, die guten Charakter und gute Manieren an den Tag legen. Und so verwenden wir viel Zeit und Geduld darauf, sie zu korrigieren, ihnen zu sagen: 'Dies tu und dies laß!' Und wenn sie fragen: 'Warum, Mami?', dann halten wir nicht inne, um zu bedenken, warum wir eingreifen, sondern schieben sie beiseite mit dem Wort: 'Mutter weiß es am besten'. Wir sind genau in derselben Position wie der törichte Frosch, wenn wir es nur sehen könnten. Dieses kleine Leben, das wir zu modellieren versucht sind, braucht kein Drängen und Quetschen, kein Verbessern und Bemäkeln, um seine Intelligenz und seinen Charakter zu entwickeln. Die Schöpfung achtet auf die Kinder ebenso, wie sie dafür sorgt, daß die Kaulquappe zu einem Frosch wird, wenn die Zeit dazu da ist. 'Aber', höre ich Sie sagen, 'sollen wir die Kinder tun lassen, was sie wollen? Wie können sie wissen, was das beste für sie ist, wenn sie keine Erfahrung haben? Und denken Sie, was für kleine Wilde sie würden, wenn wir sie nicht Manieren lehrten!' Und ich würde antworten: 'Haben Sie jemals ihren Kindern auch nur an einem Tag die Chance gegeben zu tun, was sich möchten, ohne daß Sie sich einmischten?' Versuchen Sie es, und Sie werden erstaunt sein. Warten Sie und beobachten Sie, wie etwas ihr Interesse einfängt. Vielleicht sehen die Kinder Sie einen Schlüssel in ein Schloß drehen und wollen dies auch tun. Oder sie wollen Ihnen fegen helfen. Oder sie möchten eben ein paar niedliche kleine Muster mit Steinchen auf Ihren sauberen Flur legen. Und an jedem gewöhnlichen Tag würden Sie sagen: 'Sei nicht im Weg, spielt mit euren Spielsachen!' Aber heute geben Sie ihnen den Schlüssel, suchen einen kleinen Besen zum Fegen, lassen sie das Muster auf den Flur legen und sehen, wie sie davon gefesselt werden. Es ist oft nicht genug für Kinder, etwas ein- oder zweimal zu tun, sondern sie wollen die gleiche einfache Handlung wieder und wieder ausführen, bis sie einen inneren Drang gesättigt zu haben scheinen. ... Die größte Hilfe, die Sie Ihren Kindern geben können, ist Freiheit, ihre eigene Arbeit in ihrer eigenen Weise anzupacken, denn in dieser Materie kennt sich Ihr Kind besser aus als Sie."

Wenn es uns gelingt, Kinder wirklich freizulassen, so sind wir erstaunt, was sie alles alleine schaffen. Besonders wenn wir kindliche Aktivitäten als zwecklos erachten und sie deshalb unterdrücken wollen, begehen wir Erziehungsfehler. Das Kind muß selbst Erfahrungen machen und braucht die Übung, wenn es zur Selbständigkeit gelangen will.

Lassen Sie mich meine Ausführungen - die nur einen kleinen Blick in die Montessori-Pädagogik geben konnten - mit den Geboten für die Erzieher des jungen Kindes im Kinderhaus enden (aus Montessori, Spannungsfeld Kind - Gesellschaft - Welt, S. 88 ff.): "Was sollten die Lehrer, die zur Läuterung des Dienstes am sich entwickelnden Leben bereit sind, dort "aktiv" tun, wo für die Kinder eine ihnen angemessene Umgebung geschaffen worden ist?
1. Die Lehrer haben zunächst eine Pflicht materieller Ordnung: minuziös die Umgebung zu pflegen, so daß sie sich sauber, glänzend, geordnet darstellt; die Folgen der Abnutzung durch den Gebrauch beheben, ausflicken, neu bemalen oder auch für anziehenden Schmuck sorgen. 'Wie es ein treuer Diener tut, der das Haus in Erwartung seines Herrn bereitet.'
2. Der Lehrer muß den Gebrauch der Dinge lehren, ausführend zeigen, wie sich die Übungen des praktischen Lebens vollziehen: und dies mit Anmut und Genauigkeit, damit alles in der Umgebung Befindliche von dem benutzt werden kann, der es wählt.
3. Der Lehrer ist 'aktiv', wenn er das Kind mit der Umgebung in Beziehung bringt: Er ist 'passiv', wenn diese Beziehung erfolgt ist.
4. Er muß die Kinder beobachten, damit ihre Kraft sich nicht vergebens verflüchtigt, wenn eines verborgene Geräusche sucht oder eines der Hilfe bedarf.
5. Er muß herbeieilen, wohin er gerufen wird.
6. Er muß zuhören und antworten, wenn er dazu eingeladen wird.
7. Er muß das Kind, das arbeitet, respektieren, ohne es zu unterbrechen.
8. Er muß das Kind, das Fehler macht, respektieren, ohne es zu korrigieren.
9. Er muß das Kind respektieren, das sich ausruht und das den anderen bei der Arbeit zusieht, ohne es zu stören, ohne es anzurufen, ohne es zur Arbeit zu zwingen.
10. Er muß aber unermüdlich versuchen, demjenigen Kind Gegenstände anzubieten, das es schon einmal abgelehnt hat, das zu unterweisen, das noch nicht verstanden hat und Fehler macht. Und dies, indem er die Umgebung mit seinem Sorgen belebt, mit seinem bedachten Schweigen, mit seinem sanften Wort, mit der Gegenwart jemandes, der liebt.
11. Der Lehrer muß seine Gegenwart das Kind spüren lassen, das sucht; sich verbergen dem, das gefunden hat.
12. Der Lehrer erscheint dem Kind, das seine Arbeit vollendet und frei seine eigene Kraft erschöpft hat, und bietet ihm schweigend seine Seele an wie einen geistigen Gegenstand."

Maria Montessori betrachtet das Kind als ein sich "entwickelndes Leben". Auf diese Sichtweise baut sie ihre ganze Pädagogik auf - das erzieherische Handeln ebenso wie den Einsatz der Materialien oder die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Kind und Erzieher. So ist es berechtigt, wenn Montessori-Pädagogik auch "Entwicklungspädagogik" genannt wird.

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de