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Zitiervorschlag

Aus: Kita aktuell 2001, Jg. 10, Heft 2, S. 33-37

Was bewegen Hyperaktive?

Helmut Köckenberger


Zusammenfassung

Steigt die Zahl der bewegungshungrigen und unaufmerksamen Kinder seit Jahren rapide an? Haben es Kinder allgemein schwieriger in unserer heutigen Zeit? Oder reagiert die Gesellschaft heute empfindlicher gegen auffällige und unangepasste Kinder? Das Thema hat Hochkonjunktur. Es schafft Unruhe. Die betroffenen Eltern, PädagogInnen, PsychologInnen oder TherapeutInnen sind manchmal am Rande der Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit, Aggressionen, Schuldgefühle und überdimensionales Engagement halten die Beteiligten ständig in atemloser Bewegung und verhindern entspannende Momente. Wer beeinflusst wen? Durch verschiedene Perspektiven kann neues Verständnis für die Kinder, Bewegung in der Beziehung und Entspannung in einer anscheinend hoffnungslosen Situation entstehen, wenn alle Beteiligten bereit sind, sich zu verändern. Dazu tragen auch Veränderungen im kindlichen Umfeld bei, wie die hier vorgestellten Modelle von Bewegungskindergärten, Bewegungsräumen in Therapie, Bewegtem Lernen und Entspannung.

1. Was ist los?

Unsere Gesellschaft hat ihr Äußeres verändert. Leistungsnormen, Zeitmangel, Hektik und Stress. Reizüberflutung durch immer grellere Reklame, Lärm, Musik und Verkehr. Der steigende Lärmpegel verursacht Stress, Anspannung, Unruhe und Konzentrationsmangel. Die Kinder haben kaum mehr Zeit zum Verarbeiten. Sie können nicht mehr aussortieren und abschalten. Sie werden an die Dauerberieselung gewöhnt, das heißt, sie benötigen genauso wie Süchtige immer stärkere Reize. Feine und leise Informationen können nicht mehr wahrgenommen werden. Elektrosmog belastet nachweislich den menschlichen Organismus.

Die Autos beherrschen die Städte und Straßen. Kinder können weitere Wege kaum mehr alleine zurücklegen. Kinderspielräume und Nischen zum Zurückziehen werden verdrängt und auf einige wenige eintönig eingerichtete Kinderspielplätze verlegt. Von Insel zu Insel springend werden die Kinder die meisten Strecken, zur Tagesmutter, in den Kindergarten, zu Freizeitveranstaltungen und Freunden mit dem Auto oder der U-Bahn gefahren. Die häufigen und hektischen Fahrstrecken und -zeiten verdrängen ruhige Zusammenhänge und Bewegungsübergänge, das Genießen von Zeit, Gemeinsamkeit und Langeweile.

Freizeit ist keine freie Zeit mehr. Stattdessen wird sie vorbereitet, angeboten, veranstaltet und beaufsichtigt. Auch Kinder haben schon einen vollen Terminkalender. Sie wissen kaum mehr, wann sie spielen sollen. Und was sie außer Gameboy und Videospiele spielen sollen. Sie leben von vorgegaukelten Illusionen, erfahren die "Wirklichkeit" nur noch in Filmen oder Comics. Eingeengt vermissen sie Frei-räume zum Ausprobieren, Bewegung zum Austoben und zum sich darin Vertiefen, sinn-volle Spiele, die spontan entstehen, die sie selbst weiterentwickeln, die ziel-los sein dürfen und die für sie bedeutsam sind.

Kein Wunder, dass einige Kinder nicht mehr "mitspielen". Sie passen sich unserer rastlosen Hektik, Unruhe, Ungeduld, Unaufmerksamkeit und Reizüberflutung nicht an. Sie antworten mit eigener Bewegungsunruhe, Zappeligkeit, schneller Ablenkbarkeit, Impulsivität und Flucht in immer stärkere und schneller wechselnde Reize. Sie spiegeln unser Leben. Bis zu 10% der Kinder werden auffällig.

Welch ein Wunder, dass es doch noch so viele gesunde Kinder gibt, denen es gelingt, sich den heutigen Lebensbedingungen anzupassen. Vielleicht sind aber die Kinder im weitesten Sinne normaler, die mit Auffälligkeiten diese Anpassung boykottieren und dadurch auf gesellschaftliche und kulturelle Missstände hinweisen.

Fraglich?

Wann waren wir das letzte Mal im Alltag gelassen und ruhig? Wann hatten wir das letzte Mal im Alltag ausgiebig Zeit für die Kinder, weil keine Terminuhr unerbittlich tickte? Wann haben wir gemeinsam mit den Kindern "unpädagogisch" oder "versunken" gespielt? Wann hatten wir Zeit, Kindern länger aufmerksam zuzuschauen oder ihren endlosen Erzählungen und Fragen ernsthaft zuzuhören?

2. Unbeschreiblich?

Die hyperaktiven Kinder sind ständig in Bewegung. Sie rennen, stolpern und stürzen. Sie klettern, fallen und stehen sofort wieder auf. Sie stoßen überall an. Anscheinend unüberlegt und kopflos wird den Tag über Kilometer für Kilometer herunter gespult. Rastlos werden sie von Reiz zu Reiz getrieben, ohne eine Situation gänzlich auszukosten. Sie sind ungeduldig und können nicht abwarten. Jede Idee muss sofort hemmungslos in Bewegung und Handlung erfahren werden. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu entspannen oder einzuschlafen. Sie stehen unter ständiger Hochspannung. Sie platzen mit den Antworten heraus, bevor die Frage vollständig gestellt ist. Sie unterbrechen und stören andere, ohne Rücksicht zu nehmen.

Die Kinder kommen in der Früh schon energievoll in den Kindergarten oder die Schule gestürmt, verteilen im ganzen Raum ihre Schuhe, Anoraks, Mützen und Taschen. Sie müssen noch vor der Begrüßung erkunden, ob sie etwas Neues zum Ausprobieren locken könnte. Morgenkreise und Sitzen am Tisch dauern ihnen viel zu lange. Sie basteln, malen oder schreiben ungern. Es ist schwierig für sie, sich geduldig anzustellen oder abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Sie sind in vielen Situationen leicht ablenkbar. Sie hören jedes Geräusch, sehen jede Kleinigkeit und müssen alles berühren. Sie können anscheinend Wesentliches nicht von Unwichtigem trennen. Oft sind die Kinder rechthaberisch, stur und dickköpfig. Schnell sind sie frustriert, beleidigt und sauer. Kleinigkeiten bringen sie aus dem Gleichgewicht. Schwierige Aufgaben werden vermieden. Sie können sich nicht den allgemein abgesprochenen Regeln der Gruppe unterordnen.

Bezeichnend?

Früher wurden diese Kinder unter dem Begriff der MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion gesammelt. Später wurde von HA (Hyperaktivität) und HKS (Hyperkinetisches Syndrom) gesprochen. In letzter Zeit rückte die Unaufmerksamkeit in den Vordergrund (ADS als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom), die ohne oder mit Bewegungsunruhe (ADHS) auftreten kann. Ein anscheinender Vorteil ist jetzt, dass dadurch auch bisher unauffällige Kinder mit einer Konzentrationsschwäche Aufmerksamkeit erregen. Der Nachteil dagegen ist, dass jede Lern- oder Verhaltens-"störung" als Krankheit angesehen werden kann.

Die typischen Hauptmerkmale des ADS/ADHS sind Bewegungsunruhe, Impulsivität, Konzentrationsmangel und Mangel an Selbststeuerung. Sie können unterschiedlich schwer ausgeprägt sein.

Der Tanz im Teufelskreis

Die auffälligen Kinder hören ständig negative Rückmeldungen ("Du bist anders", "Du bist schlechter", "Du kannst weniger leisten"). Dies führt dazu, dass sie Anforderungen, Leistungsvergleiche und Stresssituationen vermeiden wollen oder müssen ("Alles ist langweilig und blöd", "Ich kann nicht", "Ich bin der Chef und bestimme"). Sie blockieren damit ihre Weiterentwicklung. Anstelle der positiven Anerkennung wollen sie wenigstens durch störendes Verhalten beachtet werden. Dies wiederum stört noch mehr den alltäglichen Ablauf, und sie werden noch mehr Kritik bis hin zur Bestrafung erhalten. Sie fühlen sich missverstanden und allein gelassen, nicht mehr geliebt und als vollständiger Mensch akzeptiert. Sie verlieren das Vertrauen in sich und die Umwelt. Das auffällige Verhalten kann als Hilfeschrei, als heftiges Aufbäumen, als Mobilisierung letzter Überlebenskräfte angesehen werden, bevor die Kinder in der Teufelsspirale endgültig resignieren. Es gibt keine Auffälligkeit ohne Grund!

Die zwei Seiten eines Goldstücks

Wenn auch die störenden "Eigenschaften" der Kinder meist ihre angenehmen, bewundernswerten oder hilfreichen Seiten überdecken, kann es doch überraschend sein, was an Positivem wieder ent-deckt werden kann.

Das Kind verfügt über eine erfrischende Spontaneität und ansteckende Lebensfreude. Ihm entgeht nichts, es merkt alles und besitzt den Überblick. Es kann blitzschnell richtig reagieren. Es ist spielerisch und schnell begeistert. Es ist sehr kreativ und entdeckt immer eine Vielzahl Spielvariationen. Es ist nicht lange beleidigt oder verärgert. Es hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es ist hilfsbereit, offen, ehrlich, charmant und nicht nachtragend. Es gibt nicht auf und ist durchsetzungsfähig. Es ist ein Energiebündel und muß nicht mit seinen Kräften haushalten. Es ist fürsorglich und zeigt für kleinere Kinder großes Verständnis.

3. Be-urteilung

Meist wird zur Diagnose ADS/ADHS nur ein Fragebogen nach DSM IV/ICD10 herangezogen. Dabei werden aus den drei Bereichen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität 18 Beschreibungen geliefert, von denen 6 bzw. 12 zutreffen müssen. Eine ganzheitliche Diagnostik braucht mehr Zeit und verschiedene Testverfahren, um mehrere Aspekte (körperlich, sozial, emotional, kognitiv, systemisch...) und unterschiedliche Situationen mit einzubeziehen.

Es ist grundsätzlich wichtig, das Erleben der beobachteten Kinder zu verstehen, anstelle nur aufgrund einer Diagnostiksituation oder einzelner Aussagen eines Betroffenen vorschnell zu (ver-) urteilen. Erinnern wir uns doch an unsere eigenen Prüfungserfahrungen.

Die subjektive Wahrnehmung des Beobachters ist unumstritten. So gaben bei einer Umfrage die Lehrern, Eltern und Nachbarn jeweils ungefähr 13% der Kinder einer Klasse als hyperaktiv an, jedoch wurden nur 1,3% der Kinder von allen gemeinsam als auffällig bezeichnet.

Bewegungsängstliche Eltern bezeichnen ihr bewegungsfreudiges Kind schon als unruhig, während lebensfrohe Eltern ihr normal entwickeltes Kind als gehemmt und ängstlich benennen.

ADHS-Kinder erscheinen zwar konzentrationsschwach, können aber, besonders in selbstgewählten, eigenmotivierten Situationen, sehr aufmerksam und wach, ausdauernd und konzentriert sein. Sie sind immer konzentriert, es fragt sich nur für was! Welche Krankheit erscheint nur zeitweise? Gilt es nicht, zuerst die Einflussfaktoren der Situationen genauer zu diagnostizieren, in denen die Kinder nicht konzentriert und störend wirken bzw. in denen die Kinder konzentriert sind (vgl. Kurzzeittherapie)?

Während in Amerika ADHS als meist diagnostizierte Kinderkrankheit gilt, ist es in anderen Ländern oder Kulturen (z.B. in Japan, Afrika, Italien, China) anscheinend unbekannt. Wer stört wen, wer fühlt sich gestört und was ist gestört? Welche Gesellschaft kann sich bis zu 20% Kinder unter Psychopharmaka "leisten"?

Was ist schuld?

Viele Faktoren beeinflussen die kindliche Entwicklung. Auch bei ADHS-Kindern wird eine große Anzahl von verschiedenen Ursachenmodellen von der Fachwelt entworfen: Verminderte Körperwahrnehmung, Reizüberflutung durch mangelhafte Verarbeitung, gestörte Neurotransmittersysteme im Frontalbereich des Gehirns, allergieähnliche Nahrungsmittelunverträglichkeit, Hirnreifeverzögerung und Vererbung können genauso wie die eingangs erwähnten Auswirkungen unserer Zivilisation oder problematische Familiensituationen Bewegungsunruhe und Unkonzentriertheit bewirken. Aber auch Motivationsursachen und Kommunikationsstörungen, als gestörtes Zusammenspiel zwischen allen Beteiligten, zwischen Sender und Empfänger, werden diskutiert, da manche der Kinder alleine und selbstbestimmt entspannt und konzentriert spielen können.

War zuerst das Huhn oder das Ei?

Selten kann bewiesen werden, welche Ursache der Auslöser ist oder ob mehrere Ursachen zusammenspielen müssen, um die Auffälligkeiten zu erschaffen. In der kindlichen Entwicklung hat lineares Denken keinen Platz. Entwicklung passiert eben nicht Stufe nach Stufe. Wenn das Kind nicht als funktionierende Maschine mit rein körperlichen, biochemischen oder rein psychischen Eigenschaften, sondern vor allem als Mensch mit Leib und Seele, durchdrungen von dem Zusammenspiel aller Bereiche, gesehen wird, wird es schwer möglich sein, einzelne Faktoren als allein verantwortlich für einen problematischen Zustand zu benennen. So ist ein multifaktorielles Ursachenmodell dem einseitigen Erklärungsversuch vorzuziehen. Auch, weil der Begriff "ADS" ein Sammelkorb für die unterschiedlichsten Auffälligkeiten darzustellen scheint.

4. Und nun - was tun?

Es gibt eine Reihe von Behandlungsansätzen, wie zum Beispiel verschiedene verhaltenstherapeutische Trainingsmethoden und Selbstinstruktionstraining, psychotherapeutische Spieltherapie, Familientherapie und Elternberatung, Diätbehandlung und Entspannungstechniken, psychomotorische Entwicklungsförderung und sensorische Integrationstherapie. Am meisten bekannt und umstritten ist die Medikamentengabe mit dem Psychopharmaka Ritalin, Medikinet o.ä. Wunderheilmittel sind manchmal wünschenswert, aber immer eine Illusion!

Der Weg in den Teufelskreis war meist lang und hat viel Energie geschluckt. Der Weg hinaus braucht genügend Zeit - wie jede wirkliche Entwicklung. Jedes Kind und jede Familiensituation verlangen nach einem individuellen Lösungsweg. Pauschale Patentrezepte vergessen eine genaue Betrachtung des Problems, vermeiden ein richtiges Verständnis der individuellen Situation und verhindern letztendlich wirkliche Veränderungen. Oft ist es hilfreich, anstelle von anspruchsvollen Denkmodellen wieder mehr nach den natürlichen Faktoren der kindlichen Entwicklung zu schauen.

Was braucht kindliche Ent-wicklung?

Alle Kinder wollen von sich aus lernen und blockieren nicht absichtlich ihre eigene Entwicklung. Auch ADHS-Kinder sind in erster Linie vollwertige Menschen. Sie haben eine Persönlichkeit. Sie sind keine funktionelle Maschine, die einfach an- oder abgeschaltet, verändert oder neu programmiert werden kann. Jedes Kind ist mit Leib und Seele sein Körper, sein Verhalten, sein individuelles Erleben, sein Gefühl.

Alle Kinder benötigen spielerische Bewegung, stärkende Beziehungen und eine bedeutsame Umgebung, um sich überhaupt von Geburt an entwickeln zu können. Außerdem sind als Rahmen Sicherheit und als innerer Antrieb Neugier wichtig. Dies gilt erst recht für die auffälligen Kinder. Da sie meist bei einer oder mehreren der aufgeführten Voraussetzungen Probleme haben, gilt es, diese Punkte nicht zu vernachlässigen. Gerade die "hungernden" Stellen brauchen lebensnotwendige Nahrung in Form von genügend Aufmerksamkeit, Zeit und Raum anstelle von Zwang und Stress:

  • Bewegung ist kindgemäß und spielerisch. Sie hilft den Kindern, körperliche Schwächen auszugleichen, fehlende Entwicklungsbausteine nachzuholen und Neues in allen Lebensbereichen zu lernen. Genauso wird dadurch Frust oder Bewegungsdrang abgebaut, Konzentration geschaffen, Strukturen und Regeln erlernt und Selbstbewusstsein und Lebensfreude aufgebaut.
  • Eine echte Beziehung nimmt die Kinder ernst, berücksichtigt ihre Bedürfnisse, bestätigt ihr Selbstbewusstsein, stärkt ihr Selbstvertrauen, ist im ständigen Kontakt, bietet den gleichwertigen Austausch mit offenem Ausgang, ist ihnen Vorbild, kann von ihnen genauso etwas lernen, begleitet ihre Eigeninitiative, gibt ihnen Sicherheit und Rückhalt, auch durch klare eindeutige Grenzen.
  • Eine bedeutsame Umgebung ist nicht nur reiz-voll und interessant. Sie besteht aus attraktiven Materialien, die erforscht werden wollen. Sie wird immer wieder wichtig und sinnvoll für die Kinder sein. Die Bedeutsamkeit stellt den Bezug und die Verlockung dar. Sie ermöglicht ein Begreifen von Gegenständen und Sachinhalten, ein Ausprobieren von Problemlösungen, ein Verändern und Erfinden neuer Situationen.
  • Sicherheit schafft die Voraussetzung, sich nicht mehr verkrampft und ängstlich um den Erhalt von Stabilität und Geborgenheit kümmern zu müssen. Es kann der Mut entstehen, aufmerksam und offen sich, die Umgebung und allgemein alles Neue wahrnehmen und ausprobieren zu können.
  • Neugier ist mehr als eine Eigenschaft. Sie ist als innerer Antrieb notwendig, um sich vom Gewohnten zu lösen und um Neues kennen lernen zu wollen.

Bei problematischeren Fällen kann und muss eine externe Behandlung die Kinder, die Eltern, den Kindergarten und die Schule unterstützen.

Er-wachsene Schritte aus dem Teufelskreis

Wir Erwachsenen sind meist mit in den Teufelskreis verwickelt. Es ist eine Illusion zu glauben, nur die störenden Kinder sind zu verändern. Alle Beteiligten tragen gemeinsam zu dieser kräfteverschleißenden Störung bei. Statt Kampf um Ursache und Schuld führen gemeinsames Loslassen und Akzeptanz in Richtung Lösung. Wir müssen anfangen, die verhängnisvollen Zusammenspiele zwischen uns und den Kindern zu erkennen, für uns selbst Auswege zu finden und uns zu verändern. Wir können uns neue Sichtweisen aneignen und das Zusammenleben neu gestalten. Wir bemerken, dass die Auffälligkeiten nicht absichtlich gegen uns gerichtet sind.

Wenn wir die Kinder so akzeptieren, wie sie sind, können wir das individuell Besondere bei den auffälligen Kindern sehen und auf Leistungsnormen und ständiges Vergleichen verzichten. Wir können die Umgebung, die alltäglichen Lern- und Spielfelder der Kinder kindgemäßer und bewegender gestalten. Wir ermöglichen den Kindern wieder mehr Eigenverantwortung und Selbständigkeit, damit sie Selbstregulierung üben können. Dies kann nur durch Selbsttätigkeit erreicht werden. Wir dürfen von der Lebensenergie, Spontaneität und sinnlichen Aufmerksamkeit der Kinder lernen. Wir können mehr Zeit und Struktur in unser eigenes Leben bringen. Wenn wir uns verändern, verändert sich auf alle Fälle unser Verhalten und unsere Beziehung zu den Kindern. "Der Klügere steigt als erstes aus." Die Kinder lernen von unserer Gelassenheit und Aufmerksamkeit besser als von unseren Ermahnungen.

Forderungen

Damit aus einer zielgerichteten, erwachsenenorientierten, symptombekämpfenden, aber dadurch meist passiv ausgerichteten Behandlung eine aktive Handlung aller Beteiligten hin zur gemeinsamen Lösung der Störung werden kann, entstehen aus oben ausgeführten Aspekten für jegliches Zusammensein mit den ADHS-Kindern, für alle Behandlungsformen folgende Forderungen (Köckenberger, Hyperaktiv mit Leib und Seele, 2001):

Verständnis statt Vorurteil
Individualreisen statt Pauschalangebote
Persönlichkeit statt Etikett
Stärken statt Schwächen
Eigenkontrolle statt Fremdbestimmung
Sinnvoller kindgemäßer Weg statt erwachsenenzentriertem Ziel
Beziehung statt Er-ziehung
Dialog statt Monolog
Handlung statt Be-handlung
Begegnung in Beziehung und Bewegung
In der Gegenwart gemeinsam lernen
Zeit statt Stress

5. Im bewegten Kindergarten

Im "Garten der Kinder" gibt es viele Bewegungs- und Freiräume, abwechslungsreiche Naturanlagen und Spielmöglichkeiten. Tische und Stühle werden überflüssig. Die bewegungshungrigen und auffälligen Kinder brauchen nicht mehr zwanghaft lange ruhig zu sitzen und zu basteln. Viele Bewegungspausen bauen den Bewegungsdrang ab und frischen die Konzentration auf. Hilfe zur Eigeninitiative, Raum für Kreativität und Zeit für Begegnungen stehen als Motto über jeden Tag. Projekte wie Bewegungskindergarten oder Waldtage betonen das Erleben des eigenen Körpers oder der Natur mit allen Bewegungs- und Wahrnehmungssystemen. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, in unserer Gesellschaft verloren gegangene Erfahrungen innerhalb des Kindergartenalltags nachzuholen. Dadurch kann schon vor der Schulzeit hyperaktives und unkonzentriertes Verhalten vermieden oder abgeschwächt werden.

Häufige Bewegungsstunden bieten den Kindern den Rahmen, sich gemeinsam in der Kindergartengruppe auszutoben sowie Bewegungsfreude und Kreativität, Körpererfahrung und Bewegungsspiele mit ungewöhnlichen oder reizvollen Materialien - auch aus dem Alltag - ungezwungen und lustbetont zu erleben. Leistung und Wettbewerb, gezielte Sportübungen, langwierige Erklärungen, viele komplizierte Spielregeln und Anstehen haben im Kindergarten nichts zu suchen. Sie überfordern die impulsiven Kinder, provozieren Anpassungsprobleme und Regelverstöße oder verhindern ein freudvolles gemeinsames Spielen. Bewegungsgeschichten sorgen für kindgemäße Spannung, Überraschungen für Vorfreude. Freie Wahl und eigenständige Benutzung der aufgebauten Stationen oder angebotenen Bewegungsmaterialien erleichtern den Kindern das Erlernen von Selbstverantwortung und Eigenstrukturierung überschaubarer Handlungsabläufe.

6. Bewegungsräume

Nicht nur im Kindergarten innerhalb der Bewegungserziehung oder des Freispiels, sondern auch in der therapeutischen Situation einer psychomotorischen, physiotherapeutischen, ergotherapeutischen, psychotherapeutischen oder heilpädagogischen Behandlung erleben die Kinder in Bewegungsräumen eine besonders gut geeignete Bewegungssituation.

In einem Raum sind Kletterlandschaften aus Barren, Kästen, Weichbodenmatten, Langbänken, Rutschen, Tauen und Seilen aufgebaut.

Die Kinder finden dort durch Materialaufbauten eine vorgegebene Struktur vor, in der sie sich nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen bewegen, austoben, balancieren, bauen oder sich zur Erholung in eine Ecke verkriechen können. Sie können mit den angebotenem Materialien Spielsituationen planen, konstruieren oder verändern. Sie werden zu selbstverantwortlichen Gestaltern ihrer eigenen Bewegungs- und Begegnungsanlässe. Die Bewegungsräume betonen Eigenmotivation, Neugier und Bewegungsfreude der Kinder. Sie unterstützen unverfängliche Kommunikation, spielerische Begegnungen und intensive gemeinsame Erlebnisse in der Gruppe. Die Kinder lernen spielerisch und unverfänglich ohne Leistungsdruck, ihre eigenen Grenzen zu erweitern und ihr Handeln zu strukturieren.

In einem Raum mit vielen Sprungfedermatratzen lassen sich Berge zum Klettern, Springen oder Fallen lassen, Höhlenlandschaften zum Verstecken oder ein Labyrinth zum Durchkriechen herstellen.

Viele aufgeblasene LKW- und Autoschläuche verwandeln einen Raum zu Tunnel-, Berg- oder Gletscherspaltenlandschaften genauso wie zum Turmbau oder Rollstudio.

Aufgehängte Drainagerohre lassen hohe, lange oder kurze, gerade oder spiralige Kugelbahnen für Tennisbälle entstehen.

Im Schaumstoffland bieten sich aus alten Schaumstoffmatratzen geschnittene Bausteine an zum Werfen in großen ungefährlichen Schlachtfeldern, zum Bauen von Mauern, Häusern und Türmen, zum Eingraben von mutigen Kindern, zum Verstecken, Ausstopfen von Kleidung, zum Legen von Formen und wackeligen Straßen.

Dunkelzimmer verbergen verschiedene Materialien zum Ertasten, zum Balancieren, zum Liegen, zum Hören oder zum Entspannen.

Einfluss auf das Spielgeschehen haben die Anzahl und die Beschaffenheit der Bewegungsräume. Gibt es nur einen Bewegungsraum, muss der Raum eventuell in mehrere Zonen für Ruhe, Bauen und Austoben unterteilt werden. Bei mehreren schwerpunktmäßig verschieden eingerichteten Räumen können die Kinder nach ihren Bedürfnissen die Räume wechseln, ohne andere Kinder einzuengen. Bewegungsräume können in der Natur, in Turnhallen, in Umkleide- oder Gymnastikräumen, in Gruppenzimmern und in Vorräumen entstehen.

Die ersten Stunden benötigen die Kinder zum Austoben, zum Ausprobieren und zum Erforschen der Möglichkeiten. Nach einiger Zeit werden neue Ideen erfunden, bekannte Spiele variiert oder verändert. Der Erwachsene ist während des kindlichen Spiels ein konzentrierter, aber meist unscheinbarer Beobachter, ein Helfer oder ein Mitspieler (Köckenberger, Bewegungsräume, 1996).

7.1 Die Schule bewegt sich

Mehr Bewegung braucht die Schule - mehr Abwechslung im Schulalltag! Diese Forderungen sind nicht neu. Reformpädagogen wie Montessori, Freinet, Dewey u.a. propagierten schon vor Jahrzehnten, was heutzutage aufgrund massiv auftretender Haltungsschäden, steigender Teilleistungsstörungen, fehlender Spiel-, Frei- und Bewegungsräume, einseitiger Freizeitgestaltung und Reizüberflutung, auf ein Minimum reduzierter Handlungsanforderungen und stark abnehmender Motivation zum Lernen schon in den ersten Jahrgängen aller Schulen als dringend notwendige Antwort erscheint. Nicht nur erst seitdem die ADHS-Kinder bisherige Lernmethoden und -ordnungen zum Wackeln bringen!

Allgemein betrachtet gibt es keinerlei Lernen ohne Bewegung. Jegliches Lernen benötigt den Körper mit all seinen Sinnen, seinen Wahrnehmungssystemen und seiner Fähigkeit, reflexartig oder über Handlungspläne Neugier und Wissen in Aktivität umzusetzen.

Kinder lernen in allen Bereichen - mit Hilfe ihres Körpers - über Ausprobieren und Nachahmung, über konkrete Erfahrungen und Reaktionen, über ständige Auseinandersetzung mit der Umwelt. Der Körper ist das Bindeglied zwischen dem Subjekt (dem Kind) und dem Objekt (Außenwelt). Keine Kommunikation, sei es durch Sprache, Gebärden oder Mimik, ist ohne Bewegung. Keine soziale Interaktion ist ohne Berührung, Austausch und Ausdruck. Keine Konzentration und Entspannung ohne bewusste oder unbewusste Muskeltätigkeit. Selbst das Lesen, Schreiben und Rechnen benötigen nicht nur frühkindliche Bewegungserfahrung als unbedingte Basis und sensomotorische Voraussetzung, sondern auch den tatsächlichen, konkreten und höchst differenzierten Einsatz einer Vielzahl von komplexen Wahrnehmungs- und Handlungsabläufen.

Das Kind weiß intuitiv von der Untrennbarkeit, der Ganzheitlichkeit und der ständigen Zusammenarbeit seiner persönlichen Erfahrungsbereiche. Für es gibt es vor dem Besuch der Schule noch keine Aufteilung in Lernen mit dem Kopf und Gedanken, Lernen mit dem Körper und Bewegung, Lernen mit Gefühlen und sozialen Begegnungen.

Jedes Kind will lernen. Es will aber kindgemäß lernen. Soll es auf Art und Weise der Erwachsenen lernen, fühlt es sich nicht nur missverstanden und überfordert, sondern verliert auch schnell die Freude am Lernen.

Das einjährige Kind übt von sich aus Aufstehen und Gehen. Es benötigt dazu nicht die Aufforderung durch seine Eltern. Dagegen bereitet ein vorzeitiges Üben des Gehens allen Beteiligten Stress und Frustration und endet meist in einer Verweigerungshaltung des Kindes.

Es erscheint schon als Normalität, dass Kinder, die von den ersten Lebenstagen an sich ständig wissbegierig um Erweiterung ihrer Horizonte bemühen, dass Kinder, die noch vor der Einschulung eigenständig anfangen, die Geheimnisse der ersten Rechen- und Schreibschritte zu ergründen, dass diese Kinder nach spätestens zwei Jahren Schulerfahrung den Ehrgeiz und die Motivation zum Lernen verlieren.

Sie wollten nur den Kopf, doch es kam das ganze Kind in die Schule!

Die gesamte Schule ruft nach mehr Bewegung, nicht nur die bewegungshungrigen ADHS-Schüler. Die Initiative "Bewegte Schule" fand folgende leicht zu realisierende Möglichkeiten für einen kindgerechteren Lebensraum Schule:
  • Spielerischer Sportunterricht,
  • Lebensraum Schule,
  • Bewegungspause,
  • bewegtes Sitzen,
  • bewegter Unterricht,
  • bewegtes Lernen.

7.2 Bewegtes Lernen begreift

Es ist eine Tatsache, dass Kinder leichter und gründlicher Rechnen, Lesen und Schreiben lernen, wenn sie dabei ihren ganzen Körper, Bewegung und alle Sinne einsetzen können. Hyperaktive und konzentrationsschwache Kinder erhalten mehr Abwechslung und über die Bewegungsfreude wieder Spaß am Lernen. Sie können ihre Stärken, nämlich die Bewegungsfähigkeiten, für den Lernprozess einsetzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass nur eine Gruppe mit ruhig sitzenden Kindern gut lernen kann. Es ist erwiesen, dass das Gehirn unter leichter Bewegungsbelastung 20% besser arbeiten kann als in Ruhe.

Das Kind liegt auf dem Bauch auf einem Drehkreisel über einem großen Papier. Es hält, während es sich dreht, einen dicken Stift und malt auf diese Weise ein großes "O".

Es heißt nicht mehr: "Bleib doch endlich ruhig sitzen und hampel nicht mehr herum." Es heißt jetzt: "Beweg dich doch mal." Aus dem Verbot werden eine Erlaubnis und eine Notwendigkeit. Die Kinder dürfen während des Lernens ihren Körper erleben und spielerisch benutzen. Sie können ihren Bewegungsdrang ausleben. Die einzelnen Sinnes- und Bewegungseindrücke wechseln sich ab.

Die Kinder lernen das Abzählen, indem sie eine Zahl würfeln und die entsprechende Anzahl Treppenstufen hochsteigen oder einer Reihe Teppichfliesen entlang gehen.

Die Kinder erfahren hierbei durch die konkrete Handlung die tatsächliche Bedeutung und den symbolischen Inhalt einer vor-schulischen Aufgabe (Köckenberger, Bewegtes Lernen, 1997).

Warum bewegt lernen?

  • Motivation: Attraktives Material spricht die Spiel-Lust, Bewegungsfreude und Neugier des Kindes an, sich mit dieser Situation auseinander zu setzen. Das Kind lernt freiwillig, um das Material zu erfahren, um Neues zu entdecken und ohne Leistungsdruck die Aufgabe mit seinen Bewegungsmöglichkeiten zu bewältigen. Andererseits kann eine bekannte oder interessante kognitive Aufgabe das Kind animieren, neue Materialien und Bewegungsmuster auszuprobieren.
  • Multisensomotorisches Lernen: Das Lernen mit Hilfe des ganzen Körpers, mit allen Sinnes- und Bewegungssystemen schafft eine sichere Basis für logisches Denken, nicht nur beim Kleinkind, sondern auch im Schul- und Erwachsenenalter. In allen unbekannten Situationen greift das Kind auf bewährte Vorgehensweisen und Lernmethoden zurück, um sich schrittweise an das Neue anzunähern. Dazu setzt es vertraute Bewegungs- und Handlungsmuster ein und viele verschiedene Wahrnehmungsleistungen, um ein möglichst umfassendes Begreifen, Erfahren und dadurch Wissen zu erreichen. Erst diese Vertrautheit und Sicherheit ermöglichen einen weiteren experimentellen oder logischen Umgang.
    Das Lernen mit Hilfe des ganzen Körpers schafft Abwechslung. Die einzelnen Sinneseindrücke und die Beanspruchung verschiedener motorischer Leistungen wechseln sich ab und erhalten genügend Erholungszeit. Sie ergänzen sich im Begreifen der gesamten Problemstellung. Sie helfen dem Kind, sich immer wieder neu in Bewegung und Denken der Situation anzupassen.
    Kognitive Inhalte werden dabei von verschiedenen Seiten und in ihren unterschiedlichen Aspekten verstanden. Die große Anzahl der einzelnen sensorischen, motorischen und praktischen Verständnis- und Erinnerungszentren hilft über den Zugriff und Vergleich auf früher Erlebtes und Abgespeichertes. Abgesehen davon wird sich das Kind das Erlebte bei Beanspruchung aller dieser Zentren durch die wesentlich größere Speicherkapazität besser einprägen und merken können.
  • Konkrete Handlung: Das konkrete Erleben und das aktive Handeln unterstützen ein sinnvolles Verständnis einer Situation. Auch kognitive Inhalte lassen sich dadurch direkter und sicherer begreifen und erfahren. Es wird eine stabile Abspeicherung ermöglicht. Die Anwendung eines auf diese Weise erworbenen Wissens wird leichter fallen. Ähnliche und veränderte Bedingungen können schneller bewältigt werden.
  • Spiellust: Verbissenheit, Anstrengung und Stress erschweren oder blockieren sogar die Lernbereitschaft. Im direkten Vergleich wird jedes Kind die Spielsituation der Prüfungssituation vorziehen. Es wird sich während des spielerischen Lernens oft neuen Erfahrungen aussetzen, die "natürlich" in Prüfungen vermieden werden. Die Lust am Spielen und die Ungezwungenheit beim Lernen ermöglichen dem Kind, die Angst vor Überforderung, Versagen oder Unfähigkeit abzulegen. Kindgemäßes Lernen wird immer spielerisch stattfinden.
  • Ganzheitlichkeit: Das Kind wird als Gesamt-Persönlichkeit wahrgenommen und in seiner Komplexität ernst genommen. Die Vielfalt des Ganzen ermöglicht dem Kind individuelle Zugänge zu einer Problemstellung, eigene Methodik, Neues zu begreifen, und das Besetzen des Freiraums nach seinen Bedürfnissen.
  • Integration: Der Bewegungsmangel, die Haltungsschäden, die vermehrten Defizite in einzelnen Teilleistungsbereichen, die Bewegungsunruhe und Hyperaktivität, die fehlende Bewegungserfahrung und Bewegungsängstlichkeit, die sensomotorischen Ausfälle oder Entwicklungsrückstände bedürfen einer speziellen Berücksichtigung in Grund- und Hauptschulen, erst recht in allen Sonderschulen. Dies kann nicht alleine im Sportunterricht, in einzelnen Sportförderstunden oder Bewegungstherapieeinheiten aufgefangen werden. Die Integration von sensorischen und motorischen Förderungsinhalten in den allgemeinen Unterricht bedeutet eine wichtige Hilfe für diese auffälligen Kinder. Sie können so versuchen, individuell fehlende Entwicklungsbausteine während des Unterrichts einzufügen. Sie erhalten die Gelegenheit, ihren Bewegungsdrang zu befriedigen und mit der Zeit selbständig Ruhe und Eigenkontrolle zu erlernen bzw. ihre motorischen Defizite und Bewegungsängstlichkeit abzubauen. Weniger gut ausgebildete Wahrnehmungsbereiche werden durch andere Sinneskanäle ergänzt, beeinflusst oder ersetzt.

Wie bewegt lernen?

Bewegtes Lernen kann auf vier verschiedene Art angewandt werden:

1. Abwechslung von kognitiver und sensomotorischer Belastung: Durch die sich öfters wiederholende Abwechslung wird der Ermüdung und Unaufmerksamkeit in einzelnen Bereichen entgegnet. Der Körper kann sich durch die Bewegungssituation entspannen, die Durchblutung wird gefördert und somit auch das Gehirn vermehrt mit Sauerstoff versorgt. Die Konzentrationsfähigkeit wird erneuert, auch durch Stimulierung des Gleichgewichtssystems.

Das Kind hat ein Arbeitsblatt fertig. Es darf mit dem Pedalo auf dem Gang vor dem Klassenzimmer einmal hin- und herfahren. Dann nimmt es sich ein zweites Arbeitsblatt.

2. Gleichzeitige Reizsetzung ohne Verknüpfung: Das Kind darf sich bewegen, während es bestimmte kognitive Aufgaben löst. Dies kann für das Kind eine Motivationshilfe bedeuten. Durch die Bewegung kann die Aufmerksamkeit erhöht werden. Es schafft Abwechslung und Unterscheidung im Vergleich zu anderen Aufgaben. Die kognitive Anforderung steht aber in keinem direkten Zusammenhang mit der Bewegungsaufgabe.
Das Kind erhält eine Kopfrechenaufgabe. Es löst die Rechnung, während es mit dem Pedalo zur anderen Raumseite fährt und trägt dort das Ergebnis in das Arbeitsblatt ein (Rechnen, grobmotorische Koordination).
3. Sinnvolle Verknüpfung: Bei der sinnvollen Verknüpfung benötigt das Kind die Bewegung, um die kognitive Aufgabe zu bewältigen. Das Kind erkennt den Sinn des Spiels und der kognitiven Aufgabe mit Hilfe der Bewegungsaufgabe.

Das Kind fährt mit dem Rollbrett zu einer Kiste mit Korken. In dieser Kiste sind Plastikbuchstaben versteckt. Das Kind ertastet sich den Buchstaben, der in der Wortkarte fehlt. Das Kind fährt mit dem Rollbrett zurück zum Start und setzt den fehlenden Buchstaben in die Wortkarte ein (Lesen, taktile Wahrnehmung, Grobmotorik).

4. Inhaltliche Verknüpfung: Das Kind erfährt durch die konkrete Handlung in der Bewegungsaufgabe den Sinn und Inhalt der kognitiven Aufgabe. Das Kind lernt über die Bewegungs- und Körpererfahrung, den symbolischen oder kognitiven Inhalt zu verstehen. Ohne diese Verknüpfung wäre die einzelne Bewegungsaufgabe sinnlos.

Es ist eine Wegstrecke mit Zahlen und entsprechenden Kontrolltürmen gebaut. Das Kind transportiert vier Schaumstoffsteine auf seinem Rollbrett. Es darf damit vier Meter weit bis zu der Markierung "4" fahren. Dort kontrolliert das Kind durch den Vergleich zwischen dem Kontrollturm aus vier Schaumstoffsteinen und seinen mitgebrachten Schaumstoffsteinen die Richtigkeit seiner zurückgelegten Weglänge (Mächtigkeit einer Zahl erfahren, abzählen, balancieren, Grobmotorik).

Wann bewegt lernen?

Das Bewegte Lernen kann in jedem Unterrichtsfach eingesetzt werden. Viele der Lehrinhalte lassen sich in sinnvolle Handlungen umsetzen oder mit Bewegung unterlegen. Dazu stehen drei verschiedene methodische Modelle zur Verfügung:

1. Das gemeinsam durchgeführtes Spiel: Alle Kinder nehmen an dem Spiel teil. Sie lernen zur gleichen Zeit mit dem gleichen Spiel.

Der Fänger ruft einen Buchstaben. Die Kinder versuchen, vor dem Fänger davon zu laufen oder ihm ein Wort mit diesem Anlaut zu nennen (Stadt, Land, Fluss) (Anlaut, Grobmotorik).

2. Eine Lernspielstation während des herkömmlichen Unterrichts: Die Kinder können an ihren Schreibtischen mit Arbeitsblättern oder an einer Lernspielstation lernen. Das Thema der Station könnte auf das Arbeitsblatt ins Zweidimensionale übertragen und weitergeführt werden. Entweder dürfen die Kinder zwischen Bewegung und Sitzen wählen oder sie wechseln regelmäßig zwischen Lernspielstation und Schreibtisch.

Lernspielstation Addition auf der Teppichfliesenstraße: Das Kind würfelt und geht entsprechend viele Schritte die Straße entlang. Die einzelnen Teppichfliesen sind durchgehend mit einer Zahl (Zahlenreihe) nummeriert.

Arbeitsblatt: Das Kind löst Additionsaufgaben (die auch mit Hilfe eines Würfels entstehen können) (Addition, Abzählen, seriale Leistung, Bewegungsanpassung).

3. Unterrichtseinheit (Doppelstunde) oder Projektwoche mit mehreren aufgebauten Lernspielstationen: In einer Unterrichtseinheit kann ein kognitives, sensorisches oder motorisches Hauptthema das Lernziel aller Stationen sein.

Thema Rechnen mit den Stationen:
- Addition im Grobmotorischen: Das Kind klettert auf zwei der unterschiedlich hohen Leitern und nimmt aus dem von der Decke hängendem Joghurtbecher die entsprechende Anzahl Wäscheklammern und zählt sie zusammen. Den verschiedenen Leitern sind entsprechende Zahlen zugeordnet.
- Zuordnung im Feinmotorischen: Das Kind legt in die Ziffernform entsprechend viele Murmeln (in die Ziffer Fünf werden fünf Murmeln gelegt).
- Subtraktion im Visumotorischen: Das Kind rollt mit einem Ball eine Anzahl Kegel um.

Thema Abzählen mit den Stationen:
- Grobmotorik: Das Kind zieht eine Zahlenkarte und darf entsprechend viele Autoreifen als Reihe legen und laut zählend von Reifen zu Reifen springen.
- Taktile Wahrnehmung: Das Kind sucht aus einem Kopfkissenbezug entsprechend viele gleiche Gegenstände heraus und schreibt die Anzahl auf.
- Feinmotorik: Das Kind zählt Linsen ab (und ordnet sie zu Zehnerhäufchen).

In einer Unterrichtseinheit können verschiedene Fächer an verschiedenen Stationen mit unterschiedlichem Material und aus verschiedenen sensomotorischen Bereichen angeboten werden:

Rechnen mit der Säge: Das Kind sägt von einem Hölzchen, auf dem in gleichen Abständen Striche aufgemalt sind, ein Stück ab (Subtraktion).

Schreiben mit Rollbrettern: Das Kind fährt mit dem Rollbrett die Buchstabenform ab, die mit Kreide (anfangs doppelspurig) auf dem Boden aufgezeichnet ist.

Lesen mit Drehkreisel: Das Kind liegt auf dem Drehkreisel und ordnet aus den umliegenden Karten Wortkarten entsprechenden Bildkarten zu.

Stehen zwei Räume für den Unterricht zur Verfügung, können die Räume themenspezifisch eingerichtet werden:

in einem Raum Schwerpunkt Deutsch mit drei Stationen
in einem Raum Schwerpunkt Rechnen mit drei Stationen oder:

in einem Raum Schwerpunkt Grobmotorik mit zwei Stationen
in einem Raum Feinmotorik mit vier Stationen
in einem kleinen abgedunkelten Raum konzentrative Wahrnehmung

Die Lernspielstationen werden als Parcours hintereinander durchlaufen. So wird gewährleistet, dass jedes Kind an allen Stationen lernt.

Oder: Die Lernspielstationen sind vom Kind frei wählbar. Es darf aufgrund seiner Bedürfnisse und seines Lernniveaus selbstverantwortlich entscheiden. Das Kind wählt die Handlungsebene, um das gemeinsame Thema zu erfahren, oder es wählt jeweils das Fach, das es interessiert bzw. den interessanten motorischen oder materiellen Bereich, bei gemeinsamer oder unterschiedlicher Auseinandersetzung innerhalb der anderen funktionellen Bereiche. Das setzt das Vertrauen des Erwachsenen in die eigenständige Entwicklung des Kindes voraus. Der Erwachsene wird zum helfenden Beobachter und steht nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Das Kind muss schrittweise gelernt haben, diese Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit konstruktiv zu nutzen (siehe auch Köckenberger, Bewegtes Lernen, Die Chefstunde, 1997).

8. Das Lachen (ver-)sucht die Stille

Es scheint uns allen heutzutage die Zeit zu fehlen, wenigstens für kurze Augenblicke inne zu halten, Atem zu holen, uns zu spüren und die momentane Situation bewusst zu erleben. Reizüberflutung und Stress verhindern immer mehr, dass wir und die Kinder lustvoll genießen und entspannen können.

Kinder entspannen sich zunächst anders, als wir dies aus unserem Erwachsenenblickwinkel erwarten. Kinder wechseln im freien Spiel ständig zwischen aktiven und ruhigen Momenten. Meist wird Entspannung mit Totenstille und Ruhigliegen verwechselt.

Die Kindergartengruppe liegt am Ende der Bewegungsstunde auf dem Boden. Die Erzieherin hat eine Entspannungsgeschichte vorbereitet. Mit ruhiger und langsamer Stimme beginnt sie vorzulesen. Nach dem dritten Satz beginnen zwei Kinder zu husten. Nach dem vierten Satz kichern drei Kinder. Die Erzieherin betont mit ihrer Stimme noch intensiver die entspannende Wirkung. Nach dem fünften Satz rutschen vier Kinder auf dem Boden hin und her. Die Erzieherin sagt mit gedämpfter Stimme, um die Entspannung zu retten: "Sei doch endlich still! Du störst die anderen Kinder. Entspanne dich jetzt!"

Bewegungsunruhige oder unkonzentrierte Kinder können jede noch so sorgfältig geplante und durchdachte Entspannungsstunde stören. Auch wenn diese Kinder mitmachen wollen, bewirken sie im besten Fall nur ein Unterdrücken von Bewegung, ein Ruhighalten durch angespannte Muskulatur bis hin zum Anhalten der Atmung. Das hat auf keinen Fall etwas mit Entspannung zu tun.

Es ist ein Irrtum zu glauben, die Entspannungstechniken von uns Erwachsenen können einfach auf die Kinderwelt übertragen werden. Kindgemäße Entspannung lebt von Spannung, Lachen, Ungezwungenheit, Geborgenheit, Wohlgefühl und lustvollem Spiel.

Dazu bieten sich Tobe- und Fangspiele, Bewegungsinseln wie Schaukeln und Rutschen, Versteckspiele und Massagespiele an. Bestens geeignet sind so genannte Entspannungsräume, in denen die Kinder selbständig nach Ruhe suchen können. Beliebt sind Höhlen, Labyrinth, "schweigende Intensivstationen" mit Verbandsmaterial und Massagebällen genauso wie Parcours mit Ruhe- und Bewegungsstationen.

Frei gewählte und sinnvoll erlebte Entspannungsphasen und bewegendes Los-lassen sind für die bewegungsgierigen Kinder wertvoller als befohlenes steifes Ver-halten (Köckenberger/ Gaiser, Sei doch endlich still! Entspannungsspiele und -geschichten, 1996).

9. Weitere Hilfen

Außer den Bewegungsfreiräumen, dem bewegenden Lernen und der genussvollen spielerischen Entspannung gibt es bestimmt noch viele Ecken im Leben der auffälligen Kinder, die von uns Erwachsenen entschärft oder kindgerecht angepasst werden können, damit wir gemeinsam mit den Kindern weniger Probleme und Störungen erleben müssen. Hilfreich sind folgende vier Faktoren.

1. Verständnis: Individueller Entwicklungsstand und Leistungsniveau werden berücksichtigt. Leistungsdruck und -vergleich werden vermieden. Stärken und Fähigkeiten der Kinder wie Tatkraft und Kreativität werden genutzt. Die Grenzen und Nischen der Kinder werden respektiert. Störungen werden als Hilferuf gesehen und nicht als Absicht bestraft. Die Kinder benötigen immer wieder unsere Aufmerksamkeit und persönliche Unterstützung, besondere Rollen, viel Raum für Freiarbeit, Entscheidungen und Selbständigkeit.

2. klare Struktur: Kinder brauchen eine reizarme Umgebung, eindeutige und sichere Rituale, kurze Konzentrationsspannen, ausreichend Bewegungspausen, klare kurze Anweisungen und einfache Arbeitsschritte. Situationswechsel werden vorher angekündigt.

3. Regeln: Minimale, nicht einengende, aber feste und klar definierte Regeln für die wesentlichen Dinge brauchen durchführbare Konsequenzen. Paradoxe, humorvolle Reaktionen oder Hilfestellungen lösen schneller Störungen als Strafen. Regeln sind für das Leben da und nicht für den Stillstand!

4. Veränderung beginnt bei uns Erwachsenen: Wir müssen unsere problematische Situation mit den Kindern zunächst akzeptieren lernen, ohne die Schuld bei den Kindern oder uns zu suchen. Wir sind Vorbild für Aufmerksamkeit, Klarheit, Gelassenheit, Neugier, Ehrlichkeit und Struktur. Kindern brauchen täglich eine neue Chance. Wir können nicht die Kinder radikal verändern, aber wir können unsere Lebensweise, unsere Haltung und unsere Einstellung zu den Kindern ändern.

Bei problematischeren Fällen kann eine externe Behandlung die Kinder, die Eltern und die Kindertagesstätte unterstützen.

10. Epilog

In der Hasenkindergartengruppe sind alle Hasenkinder brav. Sie warten ruhig an ihren Plätzen, bis die Oberhäsin kommt und ihnen erklärt, was sie jetzt machen sollen. Ist das Körbchen fertig geflochten, stehen alle Kinder auf und gehen in einer Reihe hinaus zum freien Spielen. Im Freien fragen sie brav, was sie spielen sollen. Die Oberhäsin schlägt Fangen vor. Alle Häschen nicken und rennen gehorsam im Kreis. Es macht richtig Spaß.

So wollen wir die Kinder nicht erleben, auch wenn wir in schwierigen Situationen ähnliche Wünsche hegen können. Bewegungshungrige Kinder sind eben nicht nur das Salz auf unseren eigenen Wunden, das brennend uns an unser eigenes Wachstum, unsere Gelassenheit und Aufmerksamkeit erinnert. Diese Kinder sind auch das Salz in der Suppe im Alltag. Auffällige Kinder sind etwas Besonderes und Bewegendes. Sie bringen uns Lebensfreude und wichtige Impulse. Wenn wir sie als Anregung und nicht als Störung begreifen, können wir gemeinsam mit ihnen noch vieles lernen und bewegen. Vielleicht bewegen uns die Hyperaktiven zu Veränderungen, die eigentlich alle Kinder und sogar wir Erwachsenen nötig hätten, nämlich wieder mehr Zeit und Raum für spielerische Bewegung und gesunde Beziehungen zu Hause und im Alltag zu schaffen. Wie können die Kinder Aufmerksamkeit lernen, wenn wir ihnen nicht unsere Aufmerksamkeit schenken?

11. Verwendete und weiterführende Literatur

Köckenberger, H.: Spaß ist die beste Motivation, Psychomotorische Entwicklungsförderung, in: Fikar/ Thumm: Körperarbeit mit Behinderten, Stuttgart 1992

Köckenberger, H./ Gaiser: Sei doch endlich still! Entspannungsspiele und -geschichten für Kinder, Dortmund 1996

Köckenberger, H.: Bewegungsräume, Dortmund 1996

Köckenberger, H.: Bewegtes Lernen, Dortmund 1997

Köckenberger, H.: Bewegungsspiele mit Alltagsmaterial, Dortmund 1999

Köckenberger, H.: Kinder müssen sich bewegen, Berlin 1999

Köckenberger, H.: Emotionen bewegen leibhaftig, in: Praxis der Psychomotorik 1, Dortmund 2000

Köckenberger, H.: Hyperaktiv mit Leib und Seele, Dortmund 2001

Köckenberger, H.: Wie kommt Montessori auf das Rollbrett? in Praxis der Psychomotorik 2, Dortmund 2002

Lüpke, H. v./Voß, R.: Entwicklung im Netz, Pfaffenweiler1994

Passolt, M. (Hrsg.): Mototherapeutische Arbeit mit hyperaktiven Kindern, München 1996

Passolt, M. (Hrsg.): Hyperaktive Kinder: Psychomotorische Therapie, München 1997

Saile, H.: Metaanalyse zur Effektivität psychologischer Behandlung hyperaktiver Kinder, in Zeitschrift für Klinische Psychologie, 25 (3), 190-207, 1996

Schindler, J.: Ich zapple, also bin ich, in: Wendler et al. (Hrsg.): Psychomotorik im Wandel, Lemgo 2000

Schweizer, C./Prekop, J.: Was unsere Kinder unruhig macht, Stuttgart 1991

Sprenger, R.: Mythos Motivation, Frankfurt/New York 1993

Voß, R. (Hrsg.): Pillen für den Störenfried? München 1990

Voß, R./Wirtz, R.: Keine Pillen für den Zappelphilipp, Hamburg 1999

12. Autor

Helmut Köckenberger, Fachlehrer, Physiotherapeut, Motopädagoge und Autor, seit 1984 Arbeit und Spaß mit hyperaktiven und auffälligen Kindern in Diagnostik, psychomotorischer Therapie und Schule. Tätig in der Fortbildung zu den Themen Auffällige Kinder, Hyperaktivität, Psychomotorik und Bewegtes Lernen.

Weitere Information zu den Büchern und Themen des Autors unter http://www.bewegtes-lernen.de und http://www.hyperaktiv.info