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Zitiervorschlag

Aus: WWD 2002, Ausgabe 76, S. 3-4

Bewegung braucht das Kind ... damit es sich gesund entwickeln und wohl fühlen kann

Dieter Breithecker


Der Stellenwert von Bewegung und gesunder körperlicher Entwicklung hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Vor dem Hintergrund zunehmender Rückenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einer steigenden Anzahl übergewichtiger Mitmenschen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass gezielte Bewegungsangebote diese Krankheiten verhindern können. Während für den Erwachsenen zum Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit eine zwei- bis dreimalige körperliche Belastung von ca. 60 Min. in der Woche durchaus als ausreichend angesehen werden kann, benötigen Kinder zum Aufbau ihrer organischen Funktionen eine tägliche Belastungseinheit von mindestens (!) zwei Stunden. Der Heranwachsende braucht zum Aufbau seiner Gesundheit mehr Bewegung als der Erwachsene zum Erhalt der Gesundheit! Aber in der Bewegung steckt mehr als nur eine gesunde körperliche Entwicklung.

Kinderwelt ist Bewegungswelt - was Kinder durch Bewegung lernen

Für die meisten Erwachsenen sind Gesundheit, Fitness sowie der Wunsch, einen schönen, trainierten Körper zu besitzen, wichtige Motive, sich zu bewegen und Sport zu betreiben. Für Kinder sind diese Attribute keine Triebfeder. Sie bewegen sich aus dem einfachen Grund, weil sie Freude, Spaß und Lust dabei erfahren wollen. Es liegt grundsätzlich in der Natur des Menschen, sich zu bewegen. Ohne diese natürliche Anlage ist eine Entwicklung vom unselbstständigen Säugling zu einer selbstständigen, selbstbewussten und gesunden erwachsenen Persönlichkeit kaum möglich. Dabei haben gerade die Bewegungserfahrungen und die Bewegungsmöglichkeiten in den ersten 11 bis 12 Lebensjahren eine besondere Bedeutung. Bewegung kann somit als Grundprinzip eines sich körperlich sowie geistig und seelisch entwickelnden Lebens angesehen werden: Ohne Bewegung kein Leben.

  • Ein Säugling strampelt vor Lust; Bewegung ist zunächst die einzige Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation, des Ausdrucks von psychoemotionaler Befindlichkeit.
  • Ein Kind hüpft spontan vor Freude, rennt, klettert, schaukelt, springt und tobt; damit gelangt es zu immer mehr (Bewegungs-) Sicherheit, Selbstständigkeit und räumlicher Erkundung und somit Umwelterfahrung.
  • Ein Kind sowie ein Jugendlicher drängen nach Spiel mit anderen, nach Leistung und Wettbewerb. Heranwachsende lernen, unterschiedliche Rollen einzunehmen, Regeln zu akzeptieren, Konflikte auszutragen, Toleranz und Rücksichtnahme zu zeigen sowie Absprachen zu treffen, und sammeln somit grundlegende Erfahrungen mit Gleichaltrigen.

Uns Erwachsenen ist dies als Kindern damals nur nicht bewusst geworden. Grundlegende (Lern-) Erfahrungen, die für das Leben in der Gesellschaft, für die Entwicklung von Körper, Geist und Seele von entscheidender Bedeutung sind, haben wir vor allem durch die aktive, bewegte Auseinandersetzung mit der Umwelt erworben. Die Neugier des Kindes ist groß. Dies ist etwas ganz Natürliches und ein wichtiger Teil seiner harmonischen Entwicklung. Das Gehirn ist im Zuge seiner Ausdifferenzierung erfahrungshungrig; es nimmt Eindrücke leicht auf und lernt schnell, sie als komplexe Muster im Gedächtnis zu speichern. Und wie können Kinder mehr Angebote erfahren, als in der sinnlich aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt? Sinneserfahrungen und Körpererlebnisse sind z.B. unerlässlich, damit wir unseren Körper bewusst erfahren und mit ihm umgehen können. Körpererfahrungen sammeln beinhaltet:

  • verschiedene Positionen des Körpers und vielfältige Fortbewegungsarten (z.B. Laufen, Klettern, Springen, Kriechen, Hüpfen, Rutschen) auszuprobieren;
  • das Körpergleichgewicht in verschiedenen Lagen und auf verschiedenen Untergründen zu erproben (z.B. Schaukeln, Schwingen, Rollen, Drehen, Hüpfen, Balancieren auf schmalen und labilen Untergründen);
  • Spannung und Entspannung zu erfahren, körperliche Belastung mit ihren Wirkungen auf Herz, Atmung und Muskulatur zu spüren;
  • die Körpergrenzen durch Berührungsreize (z.B. Tastspiele) und Bewegung in begrenzten Räumen (Hindernisse durch- und überwinden) zu erfahren.

Beim Anfassen, Fühlen, Riechen, Hören und Sehen, beim Rangeln und Toben mit anderen, beim Balancieren, Klettern und Schubsen erfahren Kinder aktiv ihre Umwelt und ihren Körper. Sie trainieren damit ganz unbewusst, was sie ein Leben lang können müssen.

In einer Zeit des "Fern-Sehens" und des "Fern-Hörens" brauchen Kinder das "Greifbare"

Kinder brauchen eine Umwelt, die man anfassen, fühlen, hören, riechen, in der man sich bewegen und Erfahrungen sammeln kann. Das von ihnen so häufig praktizierte Greifen nach Gegenständen aller Art wird zu einem "Be-Greifen", das Fassen zu einem "Er-Fassen". Dieses Handeln ist als ein wichtiger Teil der Entwicklung von Wissen, Urteil und Einsicht, also von geistiger Entwicklung zu betrachten. Die Erfahrungen des "Selbst-Machens", die Dinge im Spiel "selbst zu verändern", "selbst zu entscheiden" - auch wenn es mehrerer Anläufe bedarf, um erfolgreich zu sein - sind unerlässlich, um uns selbstständig und selbstbewusst zu entwickeln. Es ist anzunehmen, dass Erfolgserlebnisse im Bewegungsbereich zu einem größeren Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten beitragen.

Sich trauen macht selbstbewusst!

Der Reiz so manchen Tuns liegt häufig in der Ungewissheit begründet, inwieweit die selbst gesteckten Anforderungen bewältigt werden können oder auch nicht. Darüber hinaus lernen Kinder frühzeitig, unbekannte und manchmal auch gefährliche Situationen einzuschätzen und sich in ihrem Verhalten darauf einzustellen. Gerade Gefahrensituationen oder der Umgang mit gefährlichen Gegenständen vermittelt den Kindern nachhaltigere Erfahrungen und Kompetenzen, als wenn sie durch Verbote vom Tun abgehalten und jahrelang nur durch Belehrungen theoretisch auf Gefahren vorbereitet würden.

Kinder brauchen Freiräume, da sie sich aktiv an der Gestaltung ihres Lebens beteiligen wollen. Die kindliche Autonomie darf dabei nicht beschränkt werden. Erwachsene sollten auf dem Weg der Erziehung zur Selbstständigkeit und zur Eigenverantwortung zwar ein "Sicherheitsnetz" spannen - dann aber müssen sie ihre Kinder auch alleine balancieren lassen. Pädagogen sehen hierin einen wesentlichen erzieherischen Ansatz, Kinder frühzeitig zu befähigen, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen, sich auf Gefahren einzustellen und ihr Handeln auf spezifische Situationen flexibel auszurichten.

Kinder brauchen vor allem Zeit und Gelegenheit für Experimente und eigene Aktivität, die nicht durch ein zu enges "Regelwerk" und Bevormundungen seitens der Erwachsenen eingeschränkt werden dürfen. Wir müssen uns vor Augen führen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Kinder brauchen spezifische Rahmenbedingungen, damit sie erwachsen werden, ihre Persönlichkeit entwickeln können. Das Kind braucht geeignete Hilfen und Anreize aus seiner sozialen Umgebung, die darauf ausgerichtet sind, seine natürlichen "Grundbedürfnisse" zu befriedigen und auszubauen, damit diese Bedürfnisse langfristig erlebt werden können. Neben Liebe, Zuneigung, Anerkennung, Lob, Wertschätzung und sozialer Bindung stellt das Bedürfnis nach Bewegung und Spiel ein solch grundlegendes Bedürfnis dar.

Autor

Dr. Dieter Breithecker, Jahrgang 1953, ist Sport- und Bewegungswissenschaftler. Er leitet die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. in Wiesbaden und ist Vorstandsmitglied des Forums "Gesunder Rücken - besser leben e.V.". Er ist Autor und Mitautor zahlreicher Veröffentlichungen und Videoproduktionen.

Referententätigkeit bei Kongressen und Lehrveranstaltungen zu folgenden Arbeitsschwerpunkten:

  • Kinder mit mangelnden Bewegungserfahrungen;
  • Rückenschule/Haltungsförderung bei Kindern und Jugendlichen;
  • Rückenschule in der Schule - Bewegte Schule;
  • bewegter Kindergarten;
  • verhaltenspräventive Maßnahmen an den Arbeitsplätzen Schule und Büro.