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Zitiervorschlag

Umgang mit Gleichgewicht und Angst im Erzieheralltag: Von Starrheit und Labilität zur labilen Stabilität

Barbara Perras-Emmer


"Angst bei Kindern steigt. Neuer Rekord bei Beratungsgesprächen erreicht"

"Das Angstniveau 'normaler Kinder' sei höher als das von psychiatrisch behandelten Kindern in den 50er-Jahren, erklärte Dr. Scheuer-Englisch. Der immer schneller voranschreitende gesellschaftliche Wandel entziehe den Kindern die Orientierungspunkte und verursache dadurch die immer größere Verunsicherung der Kleinen" (Mittelbayerische Zeitung vom 05.04.2001)

Angst - die Bremse, die uns hindert, Risiken einzugehen.

Die Risiken in unserem täglichen Leben sind meist nicht so gravierend, dass wir uns davor fürchten müssten. Sie reichen trotzdem aus, um lieber alles so zu lassen wie es ist. Angst ist ein eingebautes Warnsystem, das uns vor Gefahren schützt. Nützliche Angst entwickelt sich leider im laufe der Entwicklung zu einer Hydra mit hundert Köpfen. Zu einer realen, durchaus sinnvollen Angst kommt eine irreale, die - wenn überhaupt - ihre Berechtigung nur in unserem Kopf hat. Wir glauben, etwas Schlimmes würde uns passieren (Wlodarek 1999).

Unsere Umgebung trägt dazu bei, dass sich diese beiden Ängste vermischen, weil wir uns auf keinen Fall blamieren dürfen. "Wir müssen perfekt sein, Erfolg haben, gut dastehen. Dann werden wir geliebt" (Wlodarek, 1999).

Unsere größte Angst besteht darin, etwas falsch zu machen, unzulänglich zu sein. Eltern verstärken meist dieses Gefühl, geben unbewusst Leistungsdruck und ihre eigene Ängstlichkeit weiter. Sie sagen: "Pass auf." "Sei brav." Durch diese Beeinflussung wird im Laufe der Entwicklung ein persönlicher Rahmen gesteckt, den wir aus Angst nicht überschreiten. Selbstgezogene Grenzen zu überwinden, zeigt sich als kleines, unangenehmes Gefühl. Es beschleicht uns, wenn wir Neues, Ungewohntes in Angriff nehmen.

"Dein Weg geht dahin, wo die Angst ist" (Bert Brecht) trifft für Kinder zu, die noch wenig irreale Ängste entwickelt haben. Sie wissen, was sie sich zutrauen können, ihre realen (instinktiven) Ängste schützen sie vor größeren körperlichen Schäden. Erst wenn sie an ihren Fähigkeiten zu zweifeln beginnen, sich reale und irreale Ängste vermischen, begeben sie sich in Gefahr. Wenn sie Angst haben, sich zu blamieren, vermeiden sie z. B. aus großer Höhe zu springen und ihre Angst zu überwinden, oder sie überschätzen sich und gelangen um Anerkennung zu gewinnen in unüberlegte gefährliche Situationen.

Angst spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Gefahren und verhindert ein angemessenes Risikobewusstsein. Kinder setzen häufig Verbote mit Gefahren gleich: verboten bedeutet gefährlich, erlaubt heißt ungefährlich (Kunz 1993, S. 28f). Bereiche, welche nur unter bestimmten Bedingungen gefährlich sind, werden oft nicht richtig eingeschätzt. Gefahren sollten immer ohne direkten Bezug zur eigenen Gefährdung bewältigt werden, um die Ängste zu mindern. Dies ist vor allem bei Kindern problematisch, weil sie nur einen sehr persönlichen Bezug und durch eigene Betroffenheit aus Situationen lernen können. "Viele kleine Risiken vermindern das große Risiko" (Lensing-Conrady: "Von der Heilsamkeit des Schwindels", Fortbildung in Parsberg 1998).

Die Aufgabe der Erzieher ist es deshalb, das Körper- und Selbstbewusstsein der Kinder innerhalb der sozialen Gemeinschaft so zu fördern, dass irreale Ängste und Gefühle stets hinterfragt und gemeinsam diskutiert werden, damit reale Ängste zur Sicherheit der Kinder entwickelt werden können. Die Kinder müssen ihre Angst überwinden, damit sie frei handeln können. Geht etwas schief, so haben sie doch die Möglichkeit, dies nicht als Versagen, sondern als neue Lernchance zu sehen.

Für eine sichtbare Weiterentwicklung genügt es nicht, mal hier oder da die eigene Angst zu überwinden, sondern regelmäßig und systematisch mit Ängsten umzugehen und "mit ihnen zu spielen". Kinder tun dies aus eigenem Antrieb tagtäglich, sie verfolgen konsequent ihre eigenen Ziele und ihre Bedürfnisbefriedigung, wenn sie dabei nicht ständig unterbrochen und gestört werden. Werden sie stärker aus ihrer Eigentätigkeit und ihrer Engagiertheit gerissen, finden sie alleine nicht mehr hinein. Häufig genügt die Anregung durch Spielpartner um wieder zu Eigenaktivität zurückzufinden, in schwierigeren Fällen brauchen die Kinder Anleitung durch Erwachsene. Darin liegt jedoch die Gefahr: Ängstliche Erwachsene können Kinder nicht dahin zurückführen, wo sie für eine normale Entwicklung neu ansetzen müssen. Deshalb ist jeder Erzieher gefordert, seine Ängste - reale und irreale - kritisch zu reflektieren. Das Bewältigen von Risiken schafft eine positive Ausstrahlung, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Erzieher, die über die Kinder ihre eigenen Ängste bearbeiten können. Sie müssen sich nur dessen bewusst werden.

Angst lässt sich nicht für immer besiegen, sie verschwindet nur für den Bereich, mit dem wir uns im Augenblick befassen. Sie taucht mit jeder neuen Aufgabe wieder auf, aber je öfter wir Risiken eingehen, desto mehr Selbstvertrauen können wir gewinnen und gelassener werden. Von Mal zu Mal fällt es leichter, Angst zu überwinden, weil wir damit bereits gute Erfahrungen gemacht haben und diese sich auch auf andere Gebiete übertragen lassen.

Im Kindergartenalter lernen Kinder am leichtesten über Bewegung, Erwachsene glauben jedoch, dass lernen an Sitzen gebunden ist und auf keinen Fall Spaß machen kann. Darum sollen die Kinder möglichst früh "im Stuhlkreis" sitzend auf die Schule vorbereitet werden. Ein Kindergartenkind, welches über Bewegung lernt und diese Erfahrungen auf andere Bereiche übertragen kann, ist genauso schulreif, hat aber einen Vorteil: Ihm wurde die Freude am Lernen noch nicht genommen. Und sitzen lernen wir nicht durch sitzen, sondern durch vielseitige Bewegungsanforderungen und Muskeltraining: Durch Beherrschen unseres Körpers im Alltag.

Die Grundformen der Angst hängen mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Erde zusammen, unsere Welt gehorcht vier mächtigen Impulsen:

  1. der Rotation,
  2. der Revolution,
  3. der Schwerkraft,
  4. der Fliehkraft.

Rudolf Lensing-Conrady beschreibt sie entsprechend (Lensing-Conrady in Pütz u. a. 1998, S. 203ff.) mit

  1. Drehung um die eigene Achse,
  2. Umkreisen der Sonne,
  3. richtet sich nach innen, strebt nach der Mitte,
  4. drängt in die Weite, lässt los, will sich ablösen

aber auch nach den Ängsten des Individuums in Anlehnung an Fritz Riemanns "Grundformen der Angst"

  1. Angst vor Selbsthingabe - als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (schizoid),
  2. Angst vor Selbstwerdung - als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt (depressiv),
  3. Angst vor der Wandlung - als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (zwanghaft),
  4. Angst vor der Notwendigkeit - als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysterisch).

Angst tritt immer in Situationen auf, denen wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jeder Entwicklungs- und Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Angst begleitet uns immerwährend, häufig kommt sie ins Bewusstsein, wenn vertraute Bahnen verlassen werden müssen. Normale, alters- und entwicklungsgemäße Ängste durchsteht und überwächst jeder gesunde Mensch. Die Bewältigung ist für seine Fortentwicklung wichtig, z. B. das Laufen lernen, der erste Kindergartentag, der Schulanfang ... - nicht zuletzt die Begegnung mit dem Tod. Gleichzeitig enthält alles Neue, Unbekannte und Erstmals zu Tuende auch den Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko.

Daraus lassen sich die folgenden Erziehungsziele ableiten:

  1. Förderung zur Individuation, d. h. ein einmaliges Einzelwesen zu werden, und
  2. sich trotzdem der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, um sich abhängig einzufügen und doch unabhängige Eigendrehung zu bewahren.
  3. Anstreben von Dauer und
  4. stets bereit sein zum Wandel, um zwischen zwei Impulsen nicht aus der Bahn geworfen zu werden und das Gleichgewicht zu halten.

Zwischen diesen vier - jeweils zwei total gegensätzlichen - Polen gilt es eine eigene individuelle Ausgewogenheit zu finden, Stabilität zu entwickeln und diese mit entsprechender Labilität zu wahren (Rudolf Lensing-Conrady: "Von der Heilsamkeit des Schwindels", Fortbildung Parsberg 1998).

"Jede wesentliche Aufgabe, jede Entscheidung, jede wesentliche menschliche Begegnung, jedes schicksalhafte Geschehen trägt potentiell alle vier Antwortungsmöglichkeiten in sich. Sie verfügbar zu haben und sie je nach den Gegebenheiten der Situation und unseren eigenen Anlagen anzuwenden, zumindest sie bei unseren Entscheidungen als verschiedene Möglichkeiten einzubeziehen, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Aber nicht nur das; oft fordert etwa eine menschliche Beziehung, dass wir praktisch gleichzeitig alle vier Impulse in lebendiger Durchdringung leben müssen. Denken wir etwa an die Erziehung: Sie erfordert vom Erzieher sowohl die nötige schöpferische Distanz, die er braucht, um das Kind in seinem Eigensein zu erkennen und es ihm zuzugestehen; sie erfordert eine liebende Einstellung, um dem Kind Vertrauen zu ermöglichen und es einfühlend zu verstehen; sie erfordert gesunde Härte und Konsequenz, um es Ordnungen erleben zu lassen; und sie erfordert schließlich Zutrauen in und Respekt vor der Eigengesetzlichkeit des Kindes, um es nicht nach eigenen Wünschen zu formen und damit zu überfremden" (Fritz Riemann, 1961/1997, S. 202).

Wir erleben diese vier Pole nicht nur außerhalb unseres Körpers als Eigendrehung der Erde mit gleichzeitiger Drehung um die Sonne und als Schwerkraft und Fliehkraft und in uns als Grundformen der Angst, sondern auch als vier Seiten einer Nachricht ("hören mit vier Ohren" - Schulz von Thun 1981):

  1. Konkurrenz und Selbstoffenbarung - ich teile etwas von mir mit.
  2. Solidarität und Beziehung - wie stehe ich zu dir?
  3. Sachinhalt - möglichst objektive Informationen.
  4. Appell - ich erwarte von dir ...!

Die Funktionen des Sprechaktes beruhen auf Beziehungen zwischen

  1. dem Sender > Ausdrucksfunktion: Sie beruht auf einem nach außen gerichteten Ausdruck des inneren Zustandes mittels entsprechendem Verhalten.
  2. dem Empfänger > Signalfunktion: Sie setzt die Ausdrucksfunktion voraus und führt zu Reaktionen bei anderen.
  3. anderen Dingen oder Vorgängen > Darstellungsfunktion: Sie setzt die beiden genannten voraus und führt die Werte der Wahrheit bzw. Falschheit ein.
  4. oder sind Befehls-, Ermahnungs- oder Ratgeberfunktionen > argumentative Funktion

(Popper in Popper/Eccles 2000, S. 86). Sie ergänzt die vorangegangenen um die Werte gültig oder nicht gültig. Sie ist persönlicher im Bezug und der Auswertung.

Menschen drücken ihren inneren Zustand durch ihr Verhalten aus. Jede unserer Handlungen, nicht nur der Sprachgebrauch, ist eine Form des Selbstausdrucks. Die Sprache ist eine Sprache der Bewegung (1), sie sendet körperliche Signale und vermittelt Informationen über einen Menschen (2), sie ist eine Sprache des Ichs (3) und verbaler Ausdrücke (4). Mit den Bereichen 3 und 4 kann der natürliche, ursprüngliche, offene und ehrliche Ausdruck verändert oder gar verfälscht werden. "Lügen bestehen aus Worten," die Körpersprache lügt nicht, mit unserem Körper können wir Wahrheit von Lügen unterscheiden" (Wimmer in Kamper/Wulf 1982).

Werte- und Entwicklungsquadrat (Schulz von Thun 1989, S. 41ff.): der positive Wert und der positive Gegenwert, darunter die entwertende Übertreibung und der konträre Gegensatz. Vorsicht gegenüber Vertrauen, als Balance positiver Selbstwerte, dagegen paranoides Misstrauen gegenüber naiver Vertrauensseligkeit, als "Unwerte", auf der Diagonalen die Entwicklung von paranoidem Misstrauen zum Vertrauen und von der naiven Vertrauensseligkeit zur gesunden Vorsicht, oder von der selbstsüchtigen Egozentrik zum Gemeinschaftssinn aber auch zur Selbstverwirklichung, von der Selbstlosigkeit zur Selbstverwirklichung aber auch zum Gemeinschaftssinn.

So genanntes "inneres Team" (Schulz von Thun 1998, S. 189) bzw. vielen Seelen in einer Brust mit acht möglichen Stammspielern entsprechend nachfolgender Kommunikationsstile (Schulz von Thun 1989), von denen ich jeweils 2 Stile einer Grundform der Angst zuordne:

(1) Distanzierender Stil > Kommt mir nicht zu nahe! Was in mir vorgeht tut nichts zur Sache! Erziehungsziel: Gemeinschaftsgefühl, sich einlassen können, Gefühle annehmen und ausdrücken können.

Menschen, welche vom sich distanzierenden Stil erfasst sind, dürfen wir nicht zu nahe kommen: räumlich, körperlich und seelisch. Sichtbar wird eine starke Ausprägung auf der Sachseite und eine schwache auf der Beziehungsseite. Dieser Stil hat als einziger eine echte Botschaft auf der Sachebene und ist in unserer Gesellschaft eher typisch für Männer.

Die Liebe der Mutter zum eigenen Kind ist normalerweise vorhanden, sie ist bedingungslos und nicht an Leistung geknüpft. Gibt es sie nicht, kann sie auch nicht erzwungen werden. Die Liebe des Vaters wird erworben, darin liegt das Problem und die Chance zugleich: Sie baut auf Leistung und Gegenleistung, das Kind kann und muss aktiv dazu beitragen. Die Mutter versorgt es einfach, weil es da ist, sein Dasein ist Grund genug, es zu lieben und es bedingungslos zu bejahen. "Ihre bedingungslose Bejahung bleibt stetig, während allmählich sein Vater als wichtige Figur in Erscheinung tritt, die an seinem sich entwickelnden Sozialverhalten und seinem Fortschritt in Richtung Unabhängigkeit interessiert ist" (Liedloff 1980, S. 110). Der Vater liebt das Kind genauso beständig wie die Mutter, jedoch mit einer Beimischung von Zustimmung, die abhängig ist vom Betragen des Kindes. "Auf diese Weise sichert die Natur sowohl Stabilität als auch Anreiz zu sozialem Verhalten" (Liedloff 1980, S. 110).

Aufgrund ihrer ersten und wichtigsten Bindung zur Mutter erleben Jungen und Mädchen ihre Loslösung und Zuwendung zum Vater sehr unterschiedlich (Benjamin 1993). Kann diese Hinwendung zum Vater nicht im notwendigen Umfang erfolgen, erlebt der Junge eine sehr ambivalente Beziehung zur Mutter. Der liebende Nahkontakt ist beseligend und erstickend zugleich (Schulz von Thun 1989, S. 195). Angst vor Verschmelzung und Abhängigkeit setzt ernorme seelische Energie frei um sich abzuschotten. Fehlt der Vater als Bezugsperson und fallen beide Rollen der alleinerziehenden Mutter zu, wie es heute so häufig der Fall ist, kann dieser Entwicklungsprozess enorm gestört werden. Auch wenn ein neuer Partner der Mutter diese Rolle einnimmt, kann er nicht so wirken, wie der leibliche Vater, denn nach der systemischen Familienordnung von Bert Hellinger, hat die Beziehung der Mutter zum Kind so lange Vorrang, bis sie mit dem neuen Partner ein gemeinsames Kind hat (Ulsamer 1999). Der "Ersatzvater" hat somit nicht die selbe Autorität im Beurteilen des Betragens und kann meist nicht ausreichend zu einer gesunden Nähe-Distanz-Entwicklung beitragen.

Wird der Säugling vernachlässigt, vergessen oder ist unerwünscht oder kann er sich vor extremer Nähe und Zuwendung nicht zurückziehen, oder findet gar ein Wechselbad zwischen beiden statt, kann dies auch zu späterer Distanzierung führen. Alle Energie wird zum Schutz vor zwischenmenschlicher Nähe aufgebracht (Miller 1989). Nähe und Distanz werden zum Teufelskreis.

Im Wandel unserer Gesellschaft tendieren wir immer mehr zum distanzierenden Stil. War früher das Überleben von sozialen Gemeinschaften abhängig, so überwiegt heute bald der Anteil der Single-Haushalte. Autofahren, auch als eine Form der Abhängigkeit und Sucht bezeichnet (Schiffer 1997), bringt uns Alleinsein und gleichzeitig unbefriedigte Bedürfnisse, welche oft mit überschnellem Fahren ausgeglichen werden. Die Werbung im Fernsehen zeigt uns, dass positive Erlebnisse nicht von Sozialkontakten sondern von entsprechenden Konsumgütern abhängig sind. Tritt die erwünschte Wirkung nicht ein, wird noch mehr konsumiert. Ebenfalls durch das Fernsehen vermittelt wird uns die Grundeinstellung, dass körperliche Nähe nur in Verbindung mit Sexualität möglich und anerkannt ist. Nicht zuletzt gaukelt uns die Verbindung übers handy stets verfügbare Nähe vor, sehr technisch, rational und jederzeit aus- und einschaltbar. Und der Wert der Telefonkontakte ist nicht von den Personen abhängig, sondern von der Qualitätsmarke und dem Preis des mobilen Telefons und von der Anzahl der Anrufe und der SMS.

(2) Helfender Stil > Ich bin stark und belastbar! Ich brauche niemanden! Erziehungsziel: sich abgrenzen und loslassen können, um Hilfe bitten und diese annehmen können.

Der helfende Stil zieht bedürftig-abhängige Menschen wie ein Magnet an. Menschen, welche von der helfenden Strömung stark geprägt sind, sind geduldige Zuhörer und Ratgeber und sie sind allzeit bereit, sich für vermeintlich schwache einzusetzen und sich um sie zu kümmern. Menschen mit Helfersyndrom halten sich mit ihrem souveränen und altruistischen Verhalten ihre große Angst vor ihrem eigenen Anlehnungsbedürfnis vom Halse. In der Kindheit erlebte Ohnmacht, der gewaltige Urschmerz in Momenten intensiver Schutz- und Zuwendungsbedürftigkeit, kann dazu führen, diese Schwäche als Erwachsener nie wieder zuzulassen. Helfer zeigen nur ihre starke Seite, sie verdrängen die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Versorgt werden und finden in ihrem Einsatz für andere gleichzeitig Liebe und Bestätigung als "edle Menschen - hilfreich und gut". Grundbotschaften:

  1. Selbstkundgabe: Ich bin stark und brauche niemanden!
  2. Beziehungsebene: Du bist zu bedauern und brauchst Hilfe!
  3. (Sachinhalt: ?)
  4. Appell: Was ist los? Was brauchst du?

(3) Selbstloser Stil > Unterstütze und beschütze mich! Erziehungsziel: Selbstachtung und Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein, Kennen und Einschätzen der eigenen Fähigkeiten.

Dem selbstlosen Stil liegt wie dem helfenden das Grundmuster für andere da zu sein zugrunde. Der Helfer ist souverän, der Selbstlose jedoch unterwürfig. Die Angst vor Selbstwerdung: "Ich selbst bin unwichtig," und "Ich darf keine eigenen Wünsche und Bedürfnisse haben," führt zu dieser Haltung. Das Kind war angepasst und hat sich eingefügt, um nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Durch den Einsatz für andere wird der Selbstlose zumindest wahrgenommen und erhält - meist sparsame - Anerkennung.

(4) Bedürftig-abhängiger Stil > Ich bin nichts! Sag' wie du mich haben willst! Erziehungsziel: Autonomie und Verantwortung, Selbstwertgefühl

Der bedürftig-abhängige Stil zielt darauf ab, sich selbst als hilflos und überfordert darzustellen. Er gibt dem anderen das Gefühl, er müsse helfen, einspringen, entscheiden und die Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig vermittelt er dem Abhängigen das schöne Gefühl, umsorgt und beschützt zu werden. Das fehlende Selbstvertrauen beim Bedürftig-Abhängigen kann ursprünglich dadurch entstanden sein, dass er in seinem Selbständigkeitsbestreben von der Mutter extrem behindert und entmutigt wurde. Aber auch genau das Gegenteil kann der Fall gewesen sein: Das Kind war viel zu früh auf sich selbst gestellt und wurde vernachlässigt, es möchte mit seinem Verhalten verhindern, die erlebte Verlassenheit wieder erleben zu müssen. Auch spätere Erfahrungen wie z. B. das überlieferte Rollenbild von der schwachen Frau kann zu bedürftig-abhängigen Kontaktmustern führen.

Grundbotschaften:

  1. Selbstkundgabe der Hilfsbedürftigkeit: Ich kann das nicht, allein schaff ich das nicht!
  2. Beziehungsbotschaft: Du bist stark und kompetent! Sie wertet den Empfänger auf.
  3. (Sachinhalt: ?)
  4. Appell: Hilf mir! Lass mich nicht im Stich!

(5) Bestimmend-kontrollierender Stil > Ich weiß, was richtig ist! Das macht man so und nicht anders! Erziehungsziel: Flexibilität und Offenheit, etwas zulassen, wachsen lassen können.

Unter dem Einfluss des bestimmend-kontrollierenden Stil wollen wir die Dinge nach unseren Vorstellungen lenken und kontrollieren. Gelingt das nicht so geraten wir darüber in Zorn. Zorn ist leichter zu ertragen als Schmerz und Angst (Ulsamer 1999, S. 91). Die zugrundeliegende Angst vor Veränderung und Chaos führt zu einer starren Lebensführung mit festen Regelmäßigkeiten und Normen. Das Hauptziel ist nicht, den Anderen herabzusetzen, sondern ihn zu kontrollieren, zu formen und zu ändern.

Im Rahmen der schwarzen Pädagogik (Miller 1983) haben Menschen dieses Stils als Kinder erlebt, dass Eltern versuchten, ihren Willen zu brechen. Lebendigkeit wurde mit Zucht und Ordnung diszipliniert. Sie waren gezwungen, sich selbst, ihr innerstes Wesen als böse zu beurteilen. Durch diese Misshandlungen werden sie die Peiniger von morgen. Sie verfolgen, was sie bei sich unterdrücken mussten in anderen, vor allem in ihren Kindern. Projektion wurde bereits beim aggressiv-entwertenden Stil behandelt.

"Der Preis, den ein Kind dafür zahlt, daß es zu dem geführt wird, was seine Eltern für es (oder für sich) als das Beste erachten, ist die Beeinträchtigung seiner Ganzheit. Sein gesamtes Wohlbefinden, in dem all seine Wesenszüge sich spiegeln, ob ausreichend genährt oder am Verkümmern, wird direkt betroffen" (Liedloff 1980, S. 114).

(6) Aggressiv-entwertender Stil > Ich bin obenauf! Du bist schuld! Erziehungsziel: Fähigkeit, sich Respekt zu verschaffen und Fähigkeit, anderen Respekt zu erweisen.

Menschen mit aggressiv-entwertenden Grundzügen haben als Kind schwere Herabsetzungen und Demütigungen und vermutlich Schläge erlitten. Sie erlebten keine positive Gleichberechtigung sondern Einschüchterung und Entwertung. Daraus entsteht der Versuch, das Gegenüber zu unterwerfen, um sich nicht bedroht zu fühlen, und Vermeidung jener Gefühle erbärmlicher Schwäche wie Unterlegenheit, Weichheit und Wehrlosigkeit, welche man nie wieder spüren wollte. Mit Hilfe von Projektion wird es dem Aggressiv-Entwertenden möglich, die abgelehnten Teile beim Gegenüber zu finden und zu bekämpfen. "Nach brutalen Gewalttaten ist es für die Öffentlichkeit besonders erschreckend zu erfahren, daß in dem Augenblick, in welchem das Opfer bereits gedemütigt und geschlagen am Boden lag und nur noch kläglich wimmerte und flehte, beim Täter oftmals keineswegs ein Rest von Mitleid wachgerufen wurde, wie das im Tierreich angesichts der Demutsgebärde des unterlegenen Rivalen geschieht, sondern daß im Gegenteil diese 'wimmernde Kläglichkeit' den Täter nur noch zusätzlich reizte, dem Opfer den Rest zu geben. Offenbar wird er in dieser Sekunde unbewußt an seine eigene Kläglichkeit erinnert, die er so sehr verachtet und der er auch den Rest geben möchte" (Schulz von Thun 1989, S. 118).

(7) Sich beweisender Stil > Ich bin ohne Fehl und Tadel! Erkenne mich an! Erziehungsziel: Kooperationsfähigkeit und Konkurrenzfähigkeit, eigene Mängel und Kompetenzen bekennen.

Beim sich beweisenden Stil wird der Selbstwert durch die besondere Anstrengung, sich ins rechte Licht zu rücken, gewonnen. Im Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Selbstzweifel bemüht sich der Sich beweisende möglichst perfekt zu sein und setzt sich dabei ständigem Stress aus. Er wurde als Kind nicht um seiner selbst willen geliebt, sondern aufgrund seiner Leistung und des Erfolgs. Niederlagen erlebte er als Herabsetzungen und Entmutigungen. Als Erwachsener weiß er sich nicht angenommen und zeigt deshalb nur seine guten Seiten. Weil er jedoch nur seine Stärken zeigt, wird er nicht als ganze Person angenommen. Ein Teufelskreis entsteht: Die Pole der Spannung liegen so weit auseinander, dass nie eine wirkliche Entspannung eintreten kann. Flucht z. B. in Krankheit und Drogen kann die Folge sein.

"Sein chronisches unbefriedigtes Verlangen nach Anerkennung durch seine Mutter kann sein Bedürfnis, zu tun, was seine Mutter oder deren Vertreter seinem Gefühl nach von ihm erwarten, bis zur Selbstzerstörung steigern" (Liedloff 1980, S. 117).

"Der Mensch muß eine bejahende, liebende Einstellung zu sich selbst haben. Der egozentrische, narzißtische Mensch liebt sich in Wirklichkeit nicht, weshalb er gierig ist. Ganz allgemein gilt, daß nur der Mensch gierig ist, der unbefriedigt ist. Der befriedigte Mensch ist nicht gierig" (Fromm 1997, S. 219).

(8) Mitteilungsfreudig-dramatisierender Stil > Hört, so bin ich! Du bist wichtig, aber auch austauschbar! Erziehungsziel: Zurückhaltung, echte Bezogenheit auf den Partner.

Menschen mit der Persönlichkeit des mitteilungsfreudig-dramatisierenden Stils sind sehr unterhaltsam. Sie leben sehr aktiv und emotional, lieben Spontaneität und Erlebnisintensität. Sie improvisieren statt zu organisieren, die kommunikative Grundbotschaft heißt Selbstkundgabe. Die Beziehungsbotschaft ist zweideutig: Der Partner ist außerordentlich wichtig aufgrund seiner aufmerksamen Zuwendung, sozusagen als Zuhörer oder Publikum, und doch ist er selbst nicht wirklich gemeint, er ist jederzeit austauschbar. So kann trotz intensiver Kommunikation eine eigenartige Kontaktlosigkeit entstehen.

Erwachsene mit dieser Grundeinstellung haben vielleicht als Kind erfahren, dass sie vom Gegenüber nicht beachtet wurden, wenn sie sich nicht in den Mittelpunkt setzten. Sie lernten, die entsprechenden Mittel zu verstärken, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Sie können aber auch als besonderes Merkmal von Fliehkraft = Hysterie (Riemann 1969) sich selbst mit ihrem Verhalten "berauschen", um sich primär selbst so zu erleben, wie sie auf andere wirken möchten. Das Verhalten wirkt leicht übertrieben oder sogar unecht, die Intensität der Gefühle bezieht sich auf die eigene Person und nicht auf den Partner.

Leistung und Weltgestaltung + Reifung auf dem inneren Weg: vom Entweder oder zum Sowohl als auch

Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Erde werden auch unterschiedlichen Lebensphasen zugeschrieben. Die Rotation und die Revolution überwiegen bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr, dann folgt die Schwerkraft bis zum 4. Lebensjahr und die Fliehkraft bis zum 6. Lebensjahr. Der Rotation entspricht eine zartsensible Anlage, große seelische Empfindsamkeit, Labilität, Verwundbarkeit und fein reagierende Sensibilität. Die Revolution umfasst eine betont gemüthaft-gefühlswarme Anlage, Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit, große Einfühlungsgabe mit Anhänglichkeit im Gefühl. Zwischen diesen beiden Polen, der Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung entwickelt sich die menschliche Persönlichkeit und das Selbstbewusstsein (Benjamin 1993).

Das dritte und vierte Lebensjahr werden besonders der Schwerkraft zugeschrieben. Bezeichnend dafür sind eine lebhafte, motorisch-aggressive und allgemein expansive Veranlagung verbunden mit eigenwilligen, eigenständigen Charakteren. Im fünften und sechsten Lebensjahr überwiegt die Fliehkraft. Eine angeborene Lebhaftigkeit und Ansprechbarkeit im Emotionalen, Spontaneität, ein lebhafter Drang zu kommunizieren aber auch ein betontes Geltungsbedürfnis entsprechen dieser Zeit.

Schon die alten Griechen kannten vier Menschtypen: Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker, welche sie den vier Elementen - Feuer, Erde, Luft und Wasser - zuordneten. Hippokrates teilte die Menschen nach den Körpersäften Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle in vier Gruppen ein. Die Astrologie teilte trotz der 12 Sternzeichen und der 12 Häuser in Vierergruppen gemäß den Elementen ein. Nach dem Urknall spaltete sich die Urkraft in 4 Naturkräfte - die Gravitation, die Starke Kraft, die Schwache Kraft und die Elektromagnetische Kraft. Unser Jahr wird neben der 12 Monate in vier Jahreszeiten eingeteilt. Nach der Typenlehre u. a. von C.G. Jung entstand ein Wertekreuz von labil zu stabil und von introvertiert zu extravertiert. Und die Bibel nennt die Zahl 4 die Menschenzahl, die Zahl 3 die Gotteszahl. Sie bezeichnet die Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist, die Zusammengehörigkeit von Gefühlen, körperlicher Lebendigkeit bzw. Leben und Gedanken. Ebenso sollte unsere Erziehung die Ganzheitlichkeit von Seele, Leib und Geist berücksichtigen.

Grundformen der Angst und Motopädagogik

Rotation: Drehen um die eigene Körperachse, im Liegen durch Einwickeln in eine Decke mit schnellem Ausdrehen, beim Schaukeln z. B. Eindrehen mit der Hängematte oder einer Schaukelbirne, Rollen in einer Babywalze oder einem sogenannten Therapiefass.

Revolution: Drehen um eine fremde Achse beim Karussellfahren, mit der Langbank auf einer Drehscheibe oder mit einem Rollbrett an einer langer Leine im Kreis "geschleudert".

Schwerkraft: Überwinden von Höhe beim Klettern, Herunterspringen von Hindernissen, Schaukeln, Fallenlassen oder Runterwerfen von Gegenständen, Bauen auf wackeligen Untergründen.

Fliehkraft: Schleudern und werfen von Bällen, Frisbeescheiben u-ä., "Figuren-Reißen" als altes wiederentdecktes Straßenspiel, "Mühlrad", Kettenkarussell.

Auf Volksfesten werden die physikalischen Gesetzmäßigkeiten kombiniert und ihre Wirkung gesteigert. Sie entsprechen jedoch genau den Grundbedürfnissen der Menschen. Das macht den besonderen Reiz der Fahrangebote aus und erklärt, warum jährlich so viel Geld für dieses Vergnügen ausgegeben wird. Um die Wahrnehmungen auch seelisch verarbeiten zu können, muss jedoch das Tempo des Reizes dem Entwicklungstempo der Seele entsprechen, d. h. für uns, dass das Tempo der Eigenbewegungen dem technisch beschleunigten eindeutig vorzuziehen ist. "Viel hilft viel" trifft nicht zu und führt zu einer oberflächlichen Reizüberflutung und zu Menschen mit einer großen "Festplatte" und einem unterentwickelten, verkümmerten Kern.

Besonders geeignet ist das Reiten auf einem Großpferd. Neben dem Finden der aufrechten Balance und dem damit relativ sicheren Sitzen auf dem Pferderücken muss sich der Reiter trotzdem mit Schwer- und Fliehkraft auseinandersetzen. Die Gangbewegung des Pferdes entspricht anatomisch der des Menschen, das Pferd "ersetzt" quasi die Beine mit seinem Körper. Gleichzeitig bewegt sich der Körper auf und ab, vor und zurück, nach links und rechts und fühlt Rotation über die Wirbelsäule. Ein geschultes Pferd hilft dabei seinen Reiter, indem es versucht, wenn dieser aus dem Gleichgewicht kommt, unter den neuen Schwerpunkt zu treten (Klüwer 1997, S. 16 ff.). Der Takt ist je nach Gangart von beruhigend, über anregend bis beschwingt und entspricht dem Einsatz in der Musiktherapie.

Gehen - ein ständiger Wechsel von der Stabilität zur Labilität

"Nach Lensing-Conrady sucht jeder Mensch sein Gleichgewicht zwischen den vier großen Naturimpulsen. Die 'Revolution' entspricht dem Planetensystem als Kreisen um andere, sich einordnen, begrenzen und birgt Angst vor Ich-Verlust und Abhängigkeit. Die 'Schwerkraft' will sich niederlassen, bedeutet Dauer und Beständigkeit, auch Angst vor Endgültigkeit und Freiheitsverlust. Die "Fliehkraft" beinhaltet das Bedürfnis nach Veränderung, Risiko und Wandlung sowie die Angst vor Vergänglichkeit und Unsicherheit. Die 'Rotation' schließlich entspricht der Eigendrehung der Erde mit 'Individuation' und Persönlichkeit, dem Nicht austauschbar sein und der gleichzeitigen Angst vor Einsamkeit und Isolation" (Neumarkter Tagblatt, Parsberg, 01.10.1998).

Lensing-Conrady bezeichnet das Laufenlernen als größte Auflehnung des Menschen gegen die Schwerkraft. Das Gehen an sich ist ein ständiger Wechsel zwischen Labilität und Stabilität, die Kunst des Laufens zeige sich in der Kunst des Fallens. Dieses Wechselspiel, welches das Kleinkind als Teilstück der Evolution wiederholt, kann ihm keiner abnehmen. Jedes Fallen, bei dem das Kind lernt, sich mit seinen Händen abzustützen, wirkt stark auf die Tiefensensibilität und ermöglicht einen Aufbau und Einsatz von Muskelkräften. In der Therapie kann diese Erfahrung nur durch entsprechende Abfangübungen mühsam nachgeholt werden (Lensing-Conrady: Fortbildung "Von der Heilsamkeit des Schwindels" am 25./26.09.1998 in Parsberg).

Mit dem aufrechten Gang kamen zwei weitere bedeutsame Fortschritte der Evolution: Der Kehlkopf bekam Raum für die differenzierte Lautbildung der Sprache und die Hände wurden frei für Betätigung und die Nutzung von Werkzeug (Michael Wendler, Graphomotorische Fortbildung in Parsberg 2001).

Die Entwicklung des Horchens und Hörens

Das Ohr besteht aus 3 Hauptteilen: dem äußeren Ohr, dem Mittelohr und dem inneren Ohr. Äußeres Ohr und Mittelohr sind luftgefüllt. Im Innenohr befindet sich eine Flüssigkeit (Lymphe). Das Gleichgewichtsorgan (Vestibulum) und die Hörschnecke (Cochlea) bilden das Innenohr.

Das Streben nach der aufrechten Haltung veränderte die gesamte innere Struktur des Gleichgewichtorgans (Vestibulärapparat), dem Sinnesorgan, das die Köperbewegungen auffängt und das Gleichgewicht nach und nach in alle Körperteile integriert. Zwei Säckchen - Utriculus und Sacculus - machen die Orientierung im Raum möglich. "Der Utriculus arbeitet auf horizontaler Ebene, während der Sacculus schon bei den Reptilien einen ersten Ansatz von Vertikalität, von aufrechter Haltung einführt, so dass die 'Kopf-Hals-Achse' mit der bisher allein maßgeblichen Horizontalität brechen kann" (Tomatis 1990/1996, S. 109). Vertikalität und Lateralität (Seitigkeit, Händigkeit) beschreiben wie wir uns im Raum und gegenüber der Schwerkraft verhalten. Den Kampf gegen die Schwerkraft unterstützen drei Bogengänge: zwei vertikale (oberer und hinterer Bogengang) und ein horizontaler (seitlicher Bogengang). Sie bilden die Grundlage der dreidimensionalen Wahrnehmung.

Die Cochlea (Schnecke) verbessert die Körperhaltung und analysiert die im Labyrinth empfangenen Schallinformationen. Über die nun vergrößerte Wahrnehmungsfläche wird vermehrt Energie an die Großhirnrinde weitergegeben. Die Schnecke dient vor allem der Kommunikation mit der Außenwelt, dazu muss sie zunächst Störgeräusche aus dem Körperinneren filtern. Der Aufbau des knöchernen Labyrinths spielt eine sehr wichtige Rolle für die Wahrnehmung von Innen und Außen. Das häutige Labyrinth ist ein Tastorgan mit dynamisierender Funktion geblieben, es vollzieht jede Bewegung des Körpers mit, sorgt für das Körperbild und verstärkt die Wirkung der tonisierenden Kräfte (in Muskeln, Knochen, Gelenken und der Haut), vor allem der akustischen Sinnesreize.

Horchen ist mehr als nur Hören, es beinhaltet auch die Wahrnehmung von Tönen und Geräuschen über menschliche Resonanzkörper wie dem Skelett. Der Fetus "hört" die Stimme der Mutter über die Wirbelsäule und die Beckenknochen in den Bauchraum, hohe Frequenzen werden dabei noch verstärkt. Andere Außengeräusche müssen den Weg über das Trommelfell der Mutter und ihre Knochenvibrationen nehmen und wirken nicht so intensiv. "Die Resonanz- und Leitungseigenschaften des Skelettsystems sind je besser, je aufrechter die Körperhaltung ist und je stärker Gelenke und Bänder tonisiert sind" (Beckedorf in Doering u.a. 1996, S. 174). Das heißt für uns, wenn die Mutter während der Schwangerschaft bettlägerig ist, z. B. aufgrund vorzeitiger Wehentätigkeit, aber auch wenn die Kinder nur "einfach hören" sollen, ohne dass der Zusammenhang zwischen Haltung, Bewegung und Muskelanspannung/-entspannung (Propriozeption) erkannt wird, kann es zu Störungen der Wahrnehmung kommen.

Im Kindergartenalter bekommt das Gehirn etwa 90 % seiner Energie (zum Denken, für die Sprachentwicklung usw.) über das Ohr, ca. 60 % über den Gleichgewichtssinn und 30 % durch das Hören. Beides zusammen, gleichzeitig und nacheinander, bezeichne ich als Horchen. Es ist sehr schwierig zu bestimmen, wann der Cochleaapparat das Gleichgewichtsorgan ablöst. "Anscheinend macht sich jede Einwirkung auf die Innenohrflüssigkeit im gesamten vestibulo-cochleären System bemerkbar" (Tomatis 1990/1996, S. 65).

Die Raumwahrnehmung entwickelt sich in der Reihenfolge unten - oben, vorne - hinten, links - rechts. Die Wahrnehmung oben und von oben ist sehr wichtig, auf ihr bauen die folgenden Raumrichtungen auf. Höhe wird jedoch von Erwachsenen gerne als gefährlich angesehen, sie glauben, dieser Entwicklungsschritt könne übersprungen werden. Dadurch kann allgemeine Bewegungsunsicherheit und verspätete Bevorzugung einer Hand entstehen, was wiederum zu Unsicherheit und Verzögerung beim Lesen- und Schreibenlernen führen kann.

Sensible Fasern des Nervus vagus kommen am Trommelfell und im äußeren Gehörgang an die Hautoberfläche. Dieser wichtigste parasympathische Nerv ist für unser vegetatives Gleichgewicht verantwortlich und versorgt die Organe, welche dazu neigen, psychosomatische Symptome auszubilden, z. B. den Rachenraum (die Worte Angina und Angst haben dieselbe Herkunft), den Kehlkopf, das Herz (Herzklopfen haben), die Lunge (der Atem stockt, Asthma), den Magen (Magengeschwür) usw. (Tomatis 1990/1996, S. 22). Ein maximal gespanntes Trommelfell vibriert nicht übermäßig und ist notwendig für ein gutes vegetatives Gleichgewicht.

Auch zwischen der Galle und einem Teil des Innenohrs besteht Verbindung und führt häufig vom Schwindel im Kopf, ausgelöst von Lymphflüssigkeit im Inneren des Hörapparates und / oder der Überreizung der Augen bzw. der Augenmuskelkerne, zum Brechreiz. Ein Vermeiden der Auswirkungen von Verlangsamung und Beschleunigung, wie z. B. beim Schaukeln und Karussellfahren, würde jedoch zum Verkümmern des Begriffes von Fortbewegen und Anhalten als Basis für Kinetik (Physik: Lehre von den Bewegungen und ihrer Beeinflussung, Mechanik) und Statik (Physik: Lehre von den Kräften im Gleichgewicht) führen (Tomatis 1994, S. 32).

Gleichgewicht

Das Gleichgewicht als Antwort und Reaktion auf Bewegungsreize fördert die motorische Entwicklung der Kinder. Die Bewegung liefert Energie für Denkvorgänge im Gehirn und die Freude ist die Antriebskraft für Aktivität. Durch dieses Erleben der Welt über alle Sinne - vor allem die körpernahen wie taktil, kinestetisch und propriozeptiv - können auch soziale und emotionale Probleme der Kinder bearbeitet werden. Vertrauen in die Welt kann auch über Bewegung erworben werden und dient der Sucht- und Gewaltprävention vor allem im Kindergarten.

Inhalte und Material der einzelnen Wahrnehmungsbereiche

  • taktile Wahrnehmung durch
    • Tasten (auch mit geschlossenen Augen)
    • Hand- und Fußreize (z. B. Abdrücke)
    • Erkennen von Oberflächenbeschaffenheit
    • Fühlen, Benennen und Nachvollziehen von Bewegung
  • vestibuläre Wahrnehmung durch
    • Federn: Matratzen, Trampolin, Sofa, Birkenreisig, Lkw-Reifen
    • Schaukeln und wippen: Hängematte, Schaukelbrett, Schaukel, Wippe
    • Drehen: Rollbretter, Rollkisten, Drehscheibe
    • Drehen und rollen um Körperlängs- und Querachse: Tonnen, Röhren, Therapiekreisel
    • Balancieren: Wackelbrett, Pedalo, Schwebebalken, Baumstämme
  • kinästhetische Wahrnehmung durch
    • Spiele, welche die Propriozeptoren durch Zug und Druck auf die Gelenke, Muskeln und Sehnen fördern
    • Entspannungsübungen, welche das Gefühl für Bewegung und Körperwahrnehmungen verfeinern

Bedeutungsdimensionen der Bewegung

  1. personelle Bedeutung: sich selbst als Persönlichkeit wahrnehmen, erleben und erfahren, über die Möglichkeit verfügen, sich selbst zu verändern und zu verwirklichen.
  2. soziale Bedeutung: mit anderen in Beziehung treten, etwas zum Ausdruck bringen. Bewegungen mit Mitteilungscharakter wie nicken, winken und Sprache, müssen erst erlernt werden, damit andere sie verstehen können.
  3. wahrnehmend-erfahrende Bedeutung: bewusst oder auch eher beiläufig über die eigene Körperlichkeit, andere Menschen und Dinge der Umgebung etwas erfahren.
  4. instrumentelle Bedeutung: etwas erreichen, darstellen, durchsetzen, erfahren, erproben und verändern.

Funktionen der Bewegung

  • Personale Funktion: sich selbst kennen lernen, Selbstbewusstsein entwickeln,
  • Soziale Funktion: sich mit anderen auseinandersetzen, gemeinsam etwas tun,
  • Produktive Funktion: selber etwas machen, herstellen, eine sportliche Fähigkeit beherrschen,
  • Expressive Funktion: Empfindungen in Bewegung ausdrücken und verarbeiten,
  • Impressive Funktion: Gefühle in und durch Bewegung erfahren,
  • Explorative Funktion: die Umwelt kennen lernen, sich mit ihr auseinandersetzen, sich ihr anpassen bzw. sie für sich passend machen,
  • Komparative Funktion: sich mit anderen vergleichen, Erfolg und Misserfolg entsprechend ertragen lernen,
  • Adaptive Funktion: Belastungen ertragen können, eigene Grenzen akzeptieren, sich an eigene und fremde Leistungsanforderungen anpassen.

Umgang mit unterschiedlichen Temperamenten

Die Kompetenz professioneller Begleiter besteht in der Fähigkeit, in der Instabilität von Geschehen ausreichende Sicherheit zu vermitteln und gleichzeitig bei zu großer Stabilität anregend zu bleiben. "Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Kreativität sind gebunden an das Wechselspiel von Chaos und Ordnung in der Dynamik des Nervensystems" (Kruse in Doering u.a. 1996, S. 196f.). Alle Prozesse, die mit dem Erkennen einer Situation zusammenhängen, wie Wahrnehmen, Erinnern, Beurteilen, Bewerten, Vermuten, Vorstellen, Erwarten und Denken sind Ordnungsbildung im Gleichgewicht von Stabilität und Labilität.

Innerhalb aller genannten Möglichkeiten wird ein Kind meistens mit Ausgleich reagieren, was wir auch mit Spannung aufbauen bezeichnen können. Dieser Satz zeigt, dass dieselbe Reaktion sowohl positiv wie auch negativ gesehen werden kann. Gleichzeitig ist es auch wichtig, dass ein Erzieher auf einen extremen Temperamentausbruch nicht entgegengesetzt, also ausgleichend reagiert, sondern mit derselben Reaktion antwortet. Er hält somit dem Kind einen Spiegel vor, es merkt, wie sein Verhalten auf andere wirkt. Zudem hat es in diesem Moment die Möglichkeit, sein Verhalten loszulassen, weil die Spannung wegfällt und eine andere Richtung zu finden, in der es vielleicht nicht so geübt ist. Ein eher phlegmatischer Erzieher wird ausgelassene Kinder weniger zur "Ruhe" bringen können, auch wenn er seine Forderungen noch extremer formuliert, als ein Erzieher, welcher sich aktiv am Geschehen beteiligt und den Kindern Möglichkeiten des Reagierens in alle vier "Himmelsrichtungen" lässt.

Literatur

Beckedorf, Dirk: Warum Mozart? In: Doering, W. u.a. (Hrsg.): Sinn & Sinne im Dialog. Dortmund 1996

Benjamin, Jessica: Fesseln der Liebe. Frankfurt am Main 1993

Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. Berlin, 54. Aufl. 1999

Fromm, Erich: Von der Kunst des Zuhörens. München 1997

Klüwer, Barbara: Selbsterfahrung auf dem Pferd. In: Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten. DKThR Sonderheft, FN Warendorf 1995, 2. leicht veränd. Aufl. 1997

Kruse, Peter: Das dynamische Gehirn - Wie entsteht Ordnung und Stabilität im Erleben und Verhalten? In Doering, W. u.a. (Hrsg.): Sinn & Sinne im Dialog. Dortmund 1996

Kunz, Thorsten: Weniger Unfälle durch Bewegung. Schorndorf 1993

Liedloff, Jean: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. München 1980

Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt am Main 1980, 2. Aufl. 1983

Popper, Karl R./Eccles, John C.: Das Ich und sein Gehirn. München 1982, 7. Aufl. 2000

Pütz, Günter u. a. (Hrsg.): An Wunder glauben. Dortmund 1998

Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. München 1961/1997

Schiffer, Eckhard: Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Weinheim, 6. Aufl. 1997

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 1. Reinbeck bei Hamburg 1981

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2.Reinbeck bei Hamburg 1989

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 3. Reinbeck bei Hamburg 1998

Tomatis, Alfred: Der Klang des Lebens. Reinbeck bei Hamburg 1990/1997

Tomatis, Alfred: Klangwelt Mutterleib. München 1994

Ulsamer, Bertold: Ohne Wurzeln keine Flügel. München 1999

Wimmer, Michael: Der gesprochene Körper.Zur Authentizität von Körpererfahrungen in Körpertherapien. In: Kamper, Dietmar/Wulf, Christof (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main 1982

Wlodarek, Eva: Mich übersieht keiner mehr. Frankfurt am Main 1999

Zentner, Marcel: Die Wiederentdeckung des Temperaments. Paderborn 1993

Zimmer, Renate: Handbuch der Bewegungserziehung. Freiburg im Breisgau 1995

Autorin

Barbara Perras-Emmer, Jahrgang 1959, Erzieherin, Motopädagogin, Kindergartenleiterin im Städt. Kindergarten Parsberg seit Okt. 1992