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Zitiervorschlag

Quelle: Erstveröffentlichung in klein & groß. Mein Kita-Magazin. 2-3/2020– Teil 2: „Mit Kindern sprechen über Sterben und Tod“

 

Kinder fragen nach Sterben und Tod, wenn in ihrem persönlichen Bereich jemand stirbt und sie durch eigene Betroffenheit und Anteilnahme mit dem Thema in Kontakt treten

Elke Schlösser

 

Gina Krause, 26 Jahre, junge Trauerbegleiterin, in NDR-Talkshow Juli 2019 (sinngemäß):

„Einen Minileitfaden zur Trauerbewältigung gibt es leider nicht. Trauer ist ein Riesenberg, der abgetragen werden muss. Ich rate, Schritt für Schritt den Berg abzutragen. Hilfreich sind dabei Weinen, Singen. Lachen, Sport, gutes Essen, also gutes Auf-sich-achten. Es wird trotzdem nach dem Bergabtragen ein kleiner Stein übrigbleiben. Den verbleibenden kleinen Stein rate ich, in die Hosentasche zu stecken und gut zu verwahren.“

 

Einführung

Erleben Kinder in ihren Familien oder in emotionaler Nähe zu Verwandten, Freunden und Bekannten der Familie einen Todesfall, so fragen wir Pädagog*innen nach Möglichkeiten, es den uns stundenweise anvertrauten Kinder zu erklären und begleitend zu den familiären Bezugspersonen für ein möglichst gutes Verarbeiten dieser Information bzw. dieses Verlustes zu sorgen. Um eine gute Begleitung in der Kita zu gewähren, braucht es Wissen um kindliche Faktoren im Umgang mit Tod und Trauer.

Tod ist der endgültige Verlust, dies spüren auch schon junge Kinder. Und vor Verlusten haben Kinder zunächst eine Urangst. Die Angst, von den Eltern getrennt zu werden, prägt Kinder von Geburt an, also seit den ersten Kindheitstagen. Erst wenn das Kind an die Verlässlichkeit der elterlichen Versorgung und Liebe zutiefst glauben kann, wandelt sich die kindliche Urangst in das sogenannte Urvertrauen. Dieser Prozess dauert ungefähr die ersten 1 ½ Jahre lang. Eine gewisse Trennungsangst verbleibt aber unter Umständen, bis die Kinder sieben oder acht Jahre alt sind.

Nach einem Todesfall in der Familie oder im näheren Bezugskreis können Kinder erneut massiv unter Trennungsangst leiden. Evtl. weigern sie sich, in die Kita zu gehen, bei anderen Menschen zu übernachten, sich für kurze Abwesenheitszeiten der Eltern durch Babysitter betreuen zu lassen. Sie fordern häufig hohe Aufmerksamkeit der Eltern ein, klammern sich an sie, weichen nicht mehr von ihrer Seite oder kommen nachts wieder zu den Eltern ins Bett. Sie haben Angst, dass bei kurzzeitigen Trennungen von ihren Eltern, entweder ihnen oder den Eltern etwas ähnlich „Schlimmes“ passieren wird, dass ihr Verlust erweitert wird. Manche Kinder können sich auf nichts mehr konzentrieren und sie ziehen sich von ihren Freunden oder Spielkameraden zurück. Sie wirken apathisch bis depressiv.

Papa ist für lange Zeit verreist

„Ein Ehemann einer Frau war gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie konnte sie ihrer vierjährigen Tochter die schreckliche Nachricht mitteilen? Sie sagte: Papa ist nun für lange Zeit verreist. Die Tochter war wütend und enttäuscht. Warum hatte er sich nicht von ihr verabschiedet? Sie fühlte sich verlassen und im Stich gelassen. Sie wartete auf Post und Anrufe und es wurde immer schwerer, sie zu vertrösten. Sie blieb lange in der falschen Hoffnung, dass ihr Vater zurückkommen würde und fühlte sich von ihm extrem zurückgewiesen. Zusätzlich war sie verwirrt: Warum sind die Anderen so traurig, wenn Papa nur verreist ist? Wie irritierend und belastend die Situation des Kindes war, und wie tragischer sie immer weiter wurde, können wir uns nur zu gut vorstellen.

Besonders gravierend war der Vertrauensverlust, als die Mutter die Erklärungen nicht mehr aufrecht halten konnte. Solche Vertrauensverluste sind besonders gravierend, wenn das Kind von Außenstehenden die Wahrheit erfährt. Das Belogen-worden-sein schädigt die Beziehung zur sicherlich aus Not verschweigenden Person, hier der Mutter. Wie bedrohlich muss nun jede weitere, auch kurzzeitige Trennung von Bezugspersonen für ein solchermaßen betroffenes Kind sein! Wie sehr kann es dann Erklärungen der Erwachsenen glauben, ohne sie zu bezweifeln? Eine tiefe Verunsicherung ist vermutlich die Folge.

Die Wahrheit und altersgerechte Erklärung sind heilsamer als jede vermeintliche Schonung. Schonen betroffene, verschweigende Erwachsene nicht eher sich, weil sie selbst Schmerz, Trauer und Verlust empfinden? Schonen mitfühlende, evtl. verunsicherte Pädagog*innen wirklich das Kind, wenn sie ihm nicht die Gelegenheit geben, den eigenen Schmerz auszudrücken und Hilfe durch ein Gespräch zu erhalten?

„Das ist nicht wahr!“ Leugnung und Verdrängung als kindliche Trauerphase

Kindliche Trauer verläuft wie bei Erwachsenen in verschiedenen emotionalen Phasen ab. Diese Phasen erlebt man mehr oder weniger intensiv. Sie sind individuell ausgeprägt. Sie verlaufen nicht unbedingt linear und nach einem bestimmten Muster nacheinander ab. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit haben sie jedoch einen Rhythmus, wobei die erste Phase oft von Verdrängung und Leugnung geprägt ist. Bei Kindern wirkt es so, als hätten sie nicht „gehört“, was man ihnen über den Tod eines Menschen gesagt hat. Evtl. sagen sie: „Das ist nicht wahr!“ Sie ziehen sich auf eigene Erklärungen zurück, warum jemand nicht mehr da ist und wehren sich gegen Veränderung. Zum Beispiel muss der Tisch weiter für die verstorbene Person mitgedeckt, Kleidung darf nicht verschenkt, Zimmer dürfen nicht umgeräumt werden. Das Nicht-wahrhaben-wollen tritt aber auch bei behutsamer und ausreichender Aufklärung auf und zeigt die Abwehr gegen den Schock des Verlustes und ist als Reaktion also normal.

Oft wird gerade Kindern die volle Realität der Situation erst nach und nach bewusst. Als eine Mutter ihrer kleinen Tochter den Tod des Vaters mitteilte, reagierte sie mit: „Oh, er ist gestorben … kann ich jetzt wieder spielen gehen?“ Was lieblos wirkt ist vermutlich nur das Nichtbegreifen der tatsächlichen Dimension der Nachricht. Obwohl manche Kinder nach außen kaum betroffen erscheinen, können sie es in ihrem Innern doch sehr sein. Oft trauern sie still über einen längeren Zeitraum hinweg. „Kinder wirken oft unberührt: Sie bauen ein Abwehrverhalten auf, indem sie so tun, als ob nichts geschehen sei. … Ein solches Verhalten des Kindes kann auch anzeigen, dass der Verlust zu groß ist, um ihn zu akzeptieren, und dass das Kind sich insgeheim einredet, dass der geliebte Vater noch lebt.“ (Grollmann, S. 52/53)

„Das ist gemein!“ Wut und Schuldgefühle in der kindlichen Trauer

In der zweiten Phase werden starke Gefühle hochgespült: Verwirrung, Ratlosigkeit, Mutlosigkeit und Desorientierung bestimmen dann die Trauer. Nun werden schmerzliche Gefühle über den Verlust wach. Es regen sich Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit, evtl. begleitet von vielem Weinen und Beschwerden psychosomatischer Art. Reaktionen der Kinder auf den Schmerz des Verlustes können sehr unterschiedlich sein. „Sie hängen ab von ihren Vorstellungen vom Tod, von ihrem persönlichen Entwicklungsstand und der Art und Weise ihrer Beziehung zum Verstorbenen.“ (Grollmann, S. 54). Manche Kinder:

  • erwähnen den Verstorbenen überhaupt nicht
  • weinen stark
  • bleiben äußerlich teilnahmslos und zeigen keinerlei emotionale Regung
  • brechen plötzlich in Lachen aus, wenn der Verstorbene erwähnt wird
  • loben den Verstorbenen überschwänglich: für sie war er oder sie der wunderbarste Mensch der Welt

Manche Kinder äußern Wut, weil

  • die Oma nun den versprochenen Zoobesuch nicht mehr einhalten kann,
  • sie sich vom Verstorbenen im Stich gelassen fühlen,
  • sie ihren wütenden Schmerz auf (den gar nicht lieben) Gott, den Arzt, den Priester, die Eltern oder andere Verwandte projizieren, irgendjemand muss doch schuld sein!

Wut und Schuldgefühle sind bei Kindern häufig gekoppelte Gefühle. Ein Kind drückte es so aus: „Manchmal hasse ich meine Schwester dafür, dass sie gestorben ist. Alles ist so anders als vorher. Sie hat alles kaputt gemacht.“ Wutgefühle sind menschlich, auch die zornige Frage: „Warum trifft es mich?“ Eine hilfreiche Reaktion wäre: „Manchmal kommt Dir alles ganz ungerecht vor.“ Verbitterung resultiert oft aus Hilflosigkeit. Kinder sollten keine Schuldgefühle entwickeln müssen, aber sie schweben wohl bei Verlusten (bewusst oder unbewusst sowie altersentsprechend unterschiedlich) immer im Raum.

Geschwister wünschen sich gegenseitig zu Lebzeiten manchmal Schlimmes, ohne dass sie wirklich wollen, dass dies eintrifft: „Ich wünschte ich hätte gar keine Schwester!“ Tritt dann der Tod des Geschwisters ein, so ist der Verdacht, der Gedanke habe den Tod bewirkt (im Sinne des magischen Denkens) eine katastrophale Belastung: „Ich bin schuld am Tod meiner Schwester“.

Auch elterliche Aussagen wie: „Du bringst mich noch ins Grab!“ – „Ihr kriegt mich noch unter die Erde!“ – genervt und arglos ausgesprochen – sind gefährlich. Eine Mutter kommentierte so die Unordnung des Sohnes und verstarb kurz darauf. Der kleine Sohn litt unter starken Schuldgefühlen, glaubte er doch, seine Unordnung habe wirklich den Tod der Mutter verursacht.

Kinder können auch aggressive Gefühle gegen eine nahestehende Person richten. Ihre Wut kann sich auf eine Person der Familie übertragen. Dann sind in der Projektion Vater, Mutter oder sonst eine Person Schuld. Sie haben zu wenig getan oder sich zu wenig gekümmert, sind böse etc.: „Papa, warum hast Du den Krankenwagen nicht eher gerufen? Dann würde Mama jetzt noch leben.“ Den oder die Schuldigen außerhalb der eigenen Person zu suchen, hilft, mit eigenen Schuldgefühlen besser zurechtzukommen.

Dürfen diese Gefühle nicht geäußert werden, so wirken sie oftmals nach innen. Sie verursachen Depressionen, Versagensgefühle, Alpträume, Gereiztheit, trotziges Widersetzen, gesteigertes Selbstmitleid etc. Bei Kindern führt meist eine Fehleinschätzung der Situation (wegen fehlendem Wissen, mangelnder Reife/ Lebenserfahrung) zu diesen Schuldgefühlen. Daher ist Aufklärung im Gespräch die Chance, das Kind wirklich zu entlasten: „Durch nichts, was man sagt oder wünscht, stirbt jemand. Du bist für (Name) Tod nicht verantwortlich, in keiner Weise.“

Für Kinder ist typisch, dass Wut, Verzweiflung, Sorglosigkeit und Freude im Tagesverlauf schnell wechseln können. Ihre Reaktionen sind unvorhersehbar und wirken evtl. widersprüchlich. Sie leiden individuell und haben ein Recht auf höchstpersönliche Gefühlsäußerungen.

Kinder beobachten trauernde Erwachsene. Der tapfer beherrschte Erwachsene der keine Tränen zeigt, wird evtl. vom Kind verdächtigt, überhaupt nicht traurig zu sein: „Du weinst ja gar nicht, hattest Du die Irma nicht lieb?“ Zu den tiefen Erfahrungen gehört es, zusammen zu weinen. Manche Menschen drücken ihre tiefgehenden Emotionen anders als mit Weinen aus, worüber sie mit Kindern sprechen sollten.

„Das war immer schön mit Opa!“ Loslösung als Lebensbejahung

Loslösung ist die wichtige Phase im Trauerprozess, die sowohl den Tod, als auch das Weiterleben bejaht. Mit Loslassen ist kein Vergessen gemeint, sondern

  • die Akzeptanz der Tatsache des Todes,
  • die Offenheit zur liebevollen Erinnerung und
  • die Fähigkeit zur realistischen Einschätzung der geliebten Person.

Hierzu gehört auch die Möglichkeit, mit einem lebendigen Alltag und neuen Zielen weiterleben zu können. Es gibt keinen Maßstab dafür, wie schnell Trauer gelöst sein sollte. Auch jedes Kind hat das Recht auf eine persönliche Verarbeitungszeit.

In der Phase der Loslösung sind Menschen in der Lage, über positive wie negative Erinnerungen zu sprechen. Sie werden frei,

  • neue Pläne zu machen,
  • sich vom Verlustgedanken langsam zu lösen,
  • neue Pläne zu schmieden,
  • wieder zu lachen und zu genießen und
  • den Blick wieder deutlich in die Zukunft zu richten.

In dieser Trauerbewältigungsphase braucht das Kind offene Gespräche mit wohlmeinenden Bezugspersonen, die sich an ihrer neuen Perspektive freuen.

In meinen Ausführungen orientierte ich mich hauptsächlich an den wertvollen Anregungen von Earl A. Grollmann: Mit Kindern über den Tod sprechen. Konstanzer Taschenbuch. (nur noch antiquarisch oder über Fernleihe erhältlich)