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Zitiervorschlag

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 2002, Heft 6, S.7 -10

"Ich sage dir, was du erzählst". Anregungen zum Erzählen und Erfinden von Geschichten im Kindergarten

Johannes Merkel

 

Erzählen vor einer Gruppe

Was tun Sie, wenn Kinder Sie auffordern: "Erzähl mir eine Geschichte!"? Werden Sie dann leicht verlegen und greifen doch lieber wieder zu einem Buch? Oder riskieren Sie, einfach drauf los zu erzählen? Mit wenigen vertrauten Kindern haben Omas, Eltern oder Bekannte kaum Probleme, sofern sie sich einmal darauf einlassen und bemerken, welchen Spaß ihnen das selber macht.

Anders ist die Situation von Erziehern oder Lehrern, die vor einer größeren Gruppe - also einer "kleinen Öffentlichkeit" - und mit dem Erziehungsauftrag einer Institution vor die Kinder treten. Jetzt spielen Fragen eine Rolle wie: Ist meine Geschichte pädagogisch vertretbar? Fördere ich damit das sprachliche Vermögen der Kinder? Biete ich den Kindern eine anregende Phantasie? Und vor allem: Bin ich überhaupt fähig, eine Geschichte verständlich herüberzubringen? Dergleichen Fragen führen dann rasch dazu, daß man sich dieser Situation lieber nicht mehr aussetzt, sondern aus Büchern vorliest. (Wobei gegen das Vorlesen nichts einzuwenden ist, nur sollte es das freie mündliche Erzählen nicht ersetzen).

Wer es dennoch riskiert, zu erzählen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, wird überrascht sein: Obwohl die improvisierte Geschichte weder so durchdacht noch so sauber formuliert sein wird wie die in Bilder- oder Vorlesebüchern verfaßten Erzählungen, hängen ihr oder ihm die Kinder an den Lippen. Sie werden sie, ähnlich wie bei vorgelesenen Geschichten, eine Zeit lang immer hören wollen, und es kann passieren, daß die Erzähler nach Wochen, manchmal selbst nach Jahren, von den Kindern verbessert werden, falls sie die Geschichte wieder zum Besten geben. Und gerade Vorschulkinder, die ja oft noch ihre Schwierigkeiten mit der Sprache haben, behalten Einzelheiten, aber meist auch den ganzen Bogen der Geschichte, im Gedächtnis, zumindest wenn die Geschichten klar und übersichtlich aufgebaut sind und lebendig erzählt werden.

Was auch viele vom freien Erzählen abhält: Das "Auftreten" vor einer Kindergruppe oder Schulklasse verlangt etwas Vorbereitung, vor allem am Anfang. Später und mit wachsender Erfahrung geht es immer einfacher, und man lernt, besser zu improvisieren. Vor allem das Erzählen eines schriftlichen Textes, etwa einer Märchenvorlage oder einer Kindergeschichte, kostet tatsächlich erst einmal einige Anstrengung. Der Vorteil: Man hat dann, sofern man es einigermaßen geschickt auswählt, auch eine gut gebaute Geschichte zur Verfügung. Und mit der Zeit entsteht ein kleines Repertoire von Geschichten, auf das man immer wieder zurückgreifen kann.

Geschichten, die sich gut erzählen lassen, und Hinweise, wie man schriftliche Vorlagen in mündliche Erzählungen umwandelt, bietet gratis Merkels Erzählkabinett unter der Internetadresse: http://www.uni-bremen.de/~stories

Erzählungen aus der eigenen Kindheit

Man kann sich den Einstieg aber auch einfacher machen: Ein Thema, zu dem jede und jeder spontan etwas zu erzählen vermag, sind Erlebnisse aus der eigenen Kindheit. Zugleich sind sie für Kinder desto anregender, je näher sie den Erwachsenen stehen. Schließlich ist es überraschend und faszinierend, daß auch die Großen einmal Kleine gewesen sind, und dies macht ihnen Mut, größer zu werden. Und dann beobachten Sie, wie sich Ihre Kindheitserlebnisse mit dem Erzählen verändern! Je öfter und begeisterter man davon erzählt, eine desto leuchtendere und bedeutsamere Kindheit wird man gehabt haben - und nach wiederholtem Erzählen selbst nicht mehr recht unterscheiden können, was man "wirklich" erlebt und was man im Eifer des Erzählens ausgeschmückt hat.

Es liegt in der Natur des Erzählens, Lücken zu ergänzen und Erlebnisse abzurunden, und je unbefangener wir uns darauf einlassen, desto offenere Ohren werden wir finden. Sie werden dabei mitbekommen, daß erstens die Intensität der Kommunikation beim freien Erzählen für die Kinder ebenso wichtig ist wie die anregende Story, und zweitens daß mit dem Erzählen Geschichten und Vortragsweise ständig besser werden. Man muß also nicht als "geborener" Erzähler beginnen.

Erzählen von Erlebnissen

Auch die vielen kuriosen Erlebnisse, die wir in der Straßenbahn, im Supermarkt oder beim Spazierengehen machen, bieten brauchbare Anlässe zum Erzählen, vor allem wenn wir sie weiter spinnen unter Fragen wie: Was hätte weiter passieren können? Zu welchem Ende hätte das geführt?

Beim spontanen Erzählen sind es vor allem die sichtbaren und unterschwelligen Reaktionen unserer Zuhörer, nach denen wir unsere Erzählungen anreichern und ausgestalten. Ihre Erwartungen an eine vollständige und unterhaltsame Erzählung aber läßt sich vorwegnehmen, da wir sie mit den Zuhörern teilen. Wir alle haben schon in der Kindheit gelernt, wie sich eine gute Geschichte aufbaut und was sie erzählbar macht. Wir können deshalb das Material, das uns Alltagserlebnisse liefern, schon vor jeder Erzählung und sozusagen im stillen Kämmerlein zu einer erzählbaren Geschichte ausbauen.

Um Alltagsereignisse größer und erzählenswerter zu machen, lassen sich bemerkenswerte Ereignisse, die einem selbst begegnet sind oder von denen man gehört hat, kombinieren: Aus dem Material erlebter oder gehörter Stories montieren wir neue denkbare Geschichten. Das ist nicht ganz einfach und verlangt beträchtliche Eingriffe in das Material, weil die verschiedenen Fundstücke sonst kaum zusammenpassen und aufeinander aufbauen würden. Nur mit einem guten Schuß Phantasie versetzt werden sie sich zu einer durchgehenden Geschichte zusammenfügen, und es kostet einiges Nachdenken, sie so miteinander zu verschweißen, daß eine Erzählung aus einem Guß entsteht.

Phantasiegeschichten

Wenn wir von Erzählungen für Kinder reden, denken wir jedoch eher an phantastische Stories, in denen Wunder geschehen, gezaubert wird oder gefährliche Monster aus dem Weg geräumt werden. Solche Geschichten sind kaum aus dem hohlen Bauch zu holen. Wer hier die eigene Lust und Fähigkeit am Fabulieren erproben möchte, sollte sich die Mühe machen, seine Geschichte in ruhigen Momenten zu konstruieren und sie dann vor Kindern zu erproben.

Von Erwachsenen ausgedachte Stories orientieren sich entweder zu sehr am Alltäglichen oder ergehen sich in angestrengten Phantasiewelten. Jede gute Geschichte ist aber eine Mischung aus beiden Bereichen, und genau diese oft überraschende Mixtur lassen spontane Erzählungen von Kindern erkennen. Es lohnt sich, Kinder zum selbständigen Erzählen anzuregen. Man schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Kinder erhalten die Gelegenheit, über ihre Erzählung zum Ausdruck zu bringen, was in ihnen vorgeht. Die Erwachsenen verstehen, was die Kinder bewegt, und erhalten zugleich Anregungen für Geschichten, auf die sie selbst nicht so leicht gekommen wären. (Nicht zufällig gehen viele erfolgreiche Kindergeschichten auf kindliche Einfälle zurück. Als berühmtestes Beispiel mag Pippi Langstrumpf dienen).

Kinder zum Erzählen anregen

Kinder im Kindergartenalter erzählen allerdings nur, wenn sie dazu angeregt werden, und die beste Anregung bringt das Hören von Erzählungen: Nach der erzählten Geschichte werden die Zuhörer aufgefordert: "Ich habe euch erzählt, jetzt erzählt ihr eine Geschichte". Vor allem mit Vorschulkindern sollte man das etwas in Szene setzen, indem man beispielsweise einen Erzählerstuhl einführt, den man dann natürlich auch selbst benutzt und der danach von den Kindern übernommen wird, die eine Geschichte erzählen wollen. Erzählt man lieber im Stehen, was sich oft empfiehlt, weil man einen größeren Aktionsraum erhält, dann führt man den "Erzählerhut" oder ähnliche Zeichen ein. Obendrein läßt sich am Beginn der Erzählung daraus ein kleines Spiel machen, das die spontane Fabulierlust anregt: Der Erzähler, dem absolut nichts einfällt, setzt den Hut auf, und siehe da, es kribbelt schon und er spürt, wie eine Geschichte in ihm aufsteigt bis hoch oben in den Kopf.

Mit Kindern erzählen

Allerdings haben Vorschulkinder noch oft große Probleme, ihre Einfälle zu einer Geschichte anzuordnen und sich verständlich auszurücken. Sie brauchen dazu die Unterstützung durch die Großen. Dabei ist zu beachten, daß sie zwar eine Menge Einfälle in die Welt setzen werden, auf die wir selbst nicht so leicht verfallen wären, daß sie aber mit den Einfällen hin- und herspringen (unter anderem auch, weil sie in diesem Alter noch keine vollständige Vorstellung davon haben, wie eine Geschichte aufgebaut sein muß). Es ergibt sich dabei eine fruchtbare und befriedigende "Arbeitsteilung": Die Kinder schlagen ihre Ideen vor, die Erziehenden bekommen eine Menge überraschende Einfälle, achten aber darauf, daß sie in einen geschichtenartigen Zusammenhang eingegliedert werden, was wiederum die Kinder sehr befriedigt, weil aus ihren Ideen eine richtige Geschichte entsteht, die sich erzählen, aber auch malen oder aufschreiben läßt. Allerdings darf dann die Gruppe nicht zu groß ausfallen; zu empfehlen sind Grüppchen von ca. vier bis fünf Teilnehmern. Mit einigen einfachen Verfahren, die sich auch ohne weiteres im Kindergarten durchführen lassen, können dann gemeinsam Geschichten ausgedacht werden.

Erzählen nach Bildvorlagen

Wir haben offenbar eine unausrottbare Neigung, zusammenhangslosen Bildern einen zusammenhängenden Sinn zu unterlegen. Man kann die Probe darauf machen, indem man nach dem Zufallsprinzip Bilder nebeneinander legt: Unwillkürlich assoziiert unser Gehirn Übergänge von einem Bild zum nächsten. Diese Eigenschaft läßt sich benutzen, um sich zu Geschichten anregen zu lassen: Man schneidet dann etwa ein Dutzend Abbildungen im gleichen Format aus alten Illustrierten aus und versucht sie so zu kombinieren, daß sich eine Geschichte abzeichnet. Wir haben dabei zwar kaum Probleme, die Bilder in einen Zusammenhang zu bringen; er fällt aber meist zu luftig aus, gerade die kindliche Phantasie macht da überraschende Sprünge. Mit den Kindern oder alleine muß die Geschichte noch weitergesponnen, auf ihre Konsequenz und Brauchbarkeit kontrolliert und abgeändert werden.

Konsequenter und wirklichkeitsbezogener werden die Ergebnisse, wenn die Bilder eine Person oder den gleichen Personenkreis in unterschiedlichen Situationen zeigen. Dazu kann man auch selbst Fotos machen oder Kollagen von gedrucktem Bildmaterial und Fotos anfertigen. Diese Fotos sollten möglichst unabgeschlossene Handlungen festhalten, da sie dadurch für jede Richtung offen bleiben. Ein Mensch, der beispielsweise mit der Klinke in der Hand in einer halb geöffneten Tür steht, kann das Haus betreten oder auch verlassen.

Erzählen mit Gegenständen

Beim Phantasieren nach einer beliebigen Bilderserie hat man bei jedem einzelnen Bild die Wahl, es konkret oder metaphorisch aufzufassen. Eine durch die Wolken schwebende Verkehrsmaschine kann je nach dem Kontext der umgebenden Bilder ebensogut die tatsächliche Reise des Helden wie auch seinen Wunsch oder gar seine unüberwindliche Abneigung zu fliegen bezeichnen. Noch unbefangener läßt sich mit Funktionen und Bedeutungen jonglieren, wenn wir die Bilder durch Gegenstände ersetzen und uns nun durch eine beliebige Auswahl von Dingen zu einer Erzählung anregen lassen. Ähnlich wie bei den Bildern kommt es nun darauf an, die Lücken zwischen den einzelnen Gegenständen zu füllen, den Übergang von einem zum nächsten zu finden. Die Dinge in ihrer übertragenen Bedeutung zu nehmen, erweitert nicht nur den Bewegungsspielraum - es eröffnet auch witzige Weisen der Vorführung: Das Löffelchen ist nicht mehr darauf beschränkt, den Zucker im Kaffee umzurühren, es kann sich als Kind mit der Mutter streiten, die (warum wohl?) von der zänkischen Gabel oder dem gutmütigen Suppenlöffel gespielt wird. Na und wer gibt dann wohl den strengen Vater ab?

Übrigens eignen sich dafür jene Gegenstände am besten, die viele Funktionen ausfüllen können, und Küchengeräte sind wegen ihrer alltäglichen Vertrautheit dafür ganz besonders prädestiniert. Aber auch Werkzeuge wie Hammer und Zangen oder Tücher empfehlen sich durch ihre vielseitige und überraschende Verwendbarkeit. Ähnlich wie beim Bilderlegen sollten nicht zu viele Gegenstände verwendet werden, wieder am besten nur etwa ein Dutzend, damit sie überschaubar bleiben und sich mit ihnen charakteristische Figuren entwickeln lassen.

Erzählen mit festen Figuren

Insbesondere beim improvisierenden Erzählen für Kinder ist es sehr hilfereich, von vorneherein feste Figuren zu verwenden, deren Eigenschaften, Reaktionen und Handlungsweisen bekannt sind und das Improvisieren erleichtern. Am besten erfindet man diese Figuren gleich mit den zuhörenden Kindern oder benutzt Kuscheltiere, Freunde oder auch vertraute Gegenstände, um Phantasiefiguren zu erfinden. Man kann natürlich auch aus Märchen, Kinderliteratur oder Fernsehen usw. bekannte Gestalten benutzen, aber dabei ist einige Vorsicht am Platze: Die Zuhörer werden dann auf den vorgegebenen Eigenschaften dieser Gestalten bestehen; der eigene Einfallsreichtum ist damit behindert, und vor allem gelingt es nicht mehr ohne weiteres, die Stories auf die Lebenswelt, Neigungen und Wünsche der Zuhörenden zu beziehen.

Um eine Geschichte auszuarbeiten ist es übrigens nicht nötig, eine wörtliche Fassung auszuschreiben. Die genaue Formulierung läßt sich im Moment des Erzählens improvisieren. Was wir allerdings brauchen, ist eine genaue Vorstellung, was wann passiert, wer wann in welcher Weise handelt und was dabei herauskommt. Man sollte deshalb den Handlungsablauf in kurzen Sätzen oder auch in Stichworten festhalten und sich ihn als Bildfolge genau einprägen (oder nach einer prektikablen Faustformel eine Art "inneren Film" der Handlung bilden).

Hinweis

Weitere Anregungen zum Erfinden von Geschichten mit Kindern und zum Umgang von Geschichten von Kindern finden sich in:

  • Gianni Rodari: "Grammatik der Phantasie. Die Kunst Geschichten zu erfinden", Leipzig 1992
  • Claussen, Claus/ Merkelbach, Valentin: Erzählwerkstatt, Braunschweig 1995
  • Becker-Textor, Ingeborg/ Michelfeit, Grete: Was Kindergeschichten erzählen. Kindern zuhören - Kinder verstehen, München 2000