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Zitiervorschlag

Familienfreundliche Kindertagesstätten

Martin R. Textor

 

Seit zwei Jahrzehnten befasse ich mich am Staatsinstitut für Frühpädagogik mit Elternarbeit. Zunächst gab ich Fortbildungen für Erzieher/innen zu Themen wie Familienwandel, Kinder aus Scheidungsfamilien oder Ausländerfamilien. Dann führte ich ein Projekt zu familienunterstützenden Maßnahmen im Kindergarten durch. Die Wiedervereinigung mit ihren hohen Folgekosten verhinderte aber, dass die als notwendig erachteten Angebote einer intensiven Beratung und Betreuung von Familien in Kindertageseinrichtungen eingeführt werden konnten - sei es auch "nur" in sozialen Brennpunkten. So führte ich fünf Jahre lang ein Projekt "Intensivierung der Elternarbeit" durch, bei dem rein mit den Ressourcen des Kindergartens gearbeitet wurde. Dann erprobte ich zusammen mit 25 Jugendämtern die Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten. Anschließend beteiligte ich mich am Aufbau des Online-Familienhandbuchs, einem Angebot der Elternbildung.

Positiv erlebte ich in diesen rund 20 Jahren, dass Erzieher/innen immer mehr die Bedeutung der Elternarbeit erkannten und neue Angebotsformen in ihren Einrichtungen einführten. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft wurden auch Häufigkeit und Dauer von Termingesprächen ausgeweitet. Negativ erlebte ich hingegen, dass sich aufgrund der Verschlechterung der Rahmenbedingungen und der zusätzlichen Anforderungen an Erzieher/innen Elternbildung in Kindertageseinrichtungen immer weniger realisieren lässt und die Zeit für Vernetzungsaktivitäten zunehmend fehlt. Hinzu kommt, dass potentielle Kooperationspartner wie Beratungsstellen, Jugendämter und Frühförderstellen unter Stellenabbau und Einsparungszwängen leiden, also von sich aus eine Vernetzung nicht mehr vorantreiben (können).

Die Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren

Aber vor einigen Wochen wurden alle meine negativen Erfahrungen relativiert. Kein geringerer als Ministerpräsident Jürgen Rüttgers erklärte am 10. Januar, dass sich Nordrhein-Westfalen auf dem Weg "zum kinder- und familienfreundlichsten Land in Deutschland" befände. Das Kabinett habe nämlich die Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren beschlossen. Damit reagiere die Landesregierung auf den wachsenden Bedarf der Eltern an Beratung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgaben. Und der NRW-Familienminister Armin Laschet ergänzte: "Die Anforderungen an die Erziehung von Kindern sind deutlich gestiegen. Politik darf Eltern dabei nicht allein lassen, sondern muss Lösungs- und Unterstützungsmöglichkeiten anbieten. Deshalb setzt die Landesregierung auf Kompetenzen vor Ort. Eltern vertrauen den Einrichtungen, in denen ihre Kinder betreut werden. Deshalb ist das der beste Ort für Beratung". Die zahlreichen tragischen Fälle der letzten Monate, bei denen Kinder misshandelt oder gar zu Tode gekommen sind, würden deutlich machen, dass hier dringender Handlungsbedarf bestehe.

Und nun würden die drei B - Betreuung, Bildung und Beratung - zur Grundlage vorschulischer Erziehung, wie Laschet erklärte. Die ersten 178 Familienzentren in Nordrhein-Westfalen sollen bereits Ende Mai an den Start gehen. In ihnen werden die Förderung der Kinder und die Unterstützung der Familien "Hand in Hand" gehen, so Rüttgers. Es soll vor allem mit den örtlichen Familienberatungsstellen, den Familienbildungsstätten sowie den Familienverbänden intensiv kooperiert werden. Erfolgreiche Kindertageseinrichtungen werden im Mai 2007 sogar ein Gütesiegel als "Familienzentrum NRW" erhalten. Langfristig soll dann ein Drittel der mehr als 9.700 Tageseinrichtungen für Kinder zu einem Familienzentrum ausgebaut werden.

Sehr erfreulich finde ich auch, dass laut Minister Laschet jede Kindertagesstätte in Nordrhein-Westfalen schon in diesem Jahr mit der Umsetzung der von den Piloteinrichtungen gemachten Erfahrungen beginnen kann, denn der Transfer der Ergebnisse an alle interessierten Einrichtungen sei schon organisiert. Den für die bis Ende März 2007 andauernde Pilotphase ausgewählten Tagesstätten sichert das Land eine Unterstützung in Form eines Coachings zu. Darüber hinaus würden die Leiter/innen der Tageseinrichtungen für ihre neue Aufgabe im Familienzentrum fortgebildet.

Minister Laschet sagte: "Unser Ziel ist es, dass die Familienzentren zu 'Leitstellen' für soziale Gestaltungsprozesse im Stadtteil werden. Mit der Bündelung der vorhandenen Angebote wollen wir die Möglichkeiten präventiven Handelns verbessern, für alle Familien frühzeitig Hilfe und Beratung anbieten. Wichtig ist dabei auch, Familien mit Zuwanderungsgeschichte und aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten zu erreichen und ihnen die Angebote leichter zugänglich zu machen."

Wie die Familienzentren dauerhaft gestaltet werden, soll in der Pilotphase entwickelt und wissenschaftlich untersucht werden. Minister Laschet hat jedoch schon genaue Vorstellungen: "Sicher ist, dass es unterschiedliche Typen von Familienzentren geben wird, denn sie müssen sich an dem örtlichen Bedarf und an den Möglichkeiten einer Kindertageseinrichtung orientieren." Denkbar seien derzeit vor allem drei Modelle:

  1. Beim Modell "Unter einem Dach" wird ein für alle Familienzentren fest definiertes Angebot an Hilfen in der Kindertageseinrichtung vorgehalten.
  2. Das Modell "Lotse" ist ein Verbund verschiedener Dienste, die untereinander kooperieren. Aufgabe der Kindertageseinrichtung ist es, erste Anlaufstelle für Familien mit Problemen zu sein und diese kompetent an die zuständigen Stellen weiter zu leiten.
  3. Das Modell "Galerie" sieht vor, dass konkrete Hilfs- und Beratungsangebote unter dem Dach der Kindertageseinrichtung vorgehalten werden. Die Zusammenstellung dieser Angebote wird von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich sein und sich nach den örtlichen Gegebenheiten und den räumlichen Möglichkeiten der Einrichtung richten.

Noch einmal Minister Laschet im Wortlaut: "Zusammen mit dem Ausbau der Betreuung für die unter 3Jährigen, die Verdoppelung der Sprachförderung im Kindergarten und die Vermittlung von Tageseltern, die ebenfalls in den Familienzentren angeboten werden soll, schaffen wir mit der Weiterentwicklung der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren ein gutes Fundament für mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit in Nordrhein-Westfalen" (alle Zitate und indirekt zitierten Texte aus der Pressemitteilung des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration vom 10.01.2006).

Noch konkreter wurden die Mitglieder des "Workshop Familienzentren", veranstaltet vom Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration am 28.09.2005. Sie nannten z.B. folgende Aufgaben, die Familienzentren übernehmen sollen:

  • Schaffung eines offenen Treffpunkts für Familien, eines niederschwelligen Angebots für Kinder und Eltern sowie einer Anlaufstelle für Kinder in Not
  • Aufsuchen der Familien durch die Familienzentren
  • Kinderbetreuung auch zu ungewöhnlichen Zeiten
  • Bereitstellung der offenen Betreuungsmöglichkeit
  • Bereitstellung von ad-hoc-Betreuungshilfen
  • Vermittlung von Erziehungsberatung, Schwangeren- und Konfliktberatung, Paar- und Trennungsberatung sowie Schuldnerberatung
  • niederschwelliges und zielgruppenorientiertes Bildungsangebot zu Fragen der Erziehungs-, Alltags- und Entwicklungsbegleitungskompetenz sowie der musischen Bildung
  • Kooperation mit ASD und Sozialpädagogischer Familienhilfe
  • Fortbildung im Case-Management
  • verstärkte Einbindung Ehrenamtlicher
  • Servicedienste für Familien und Koordinierung der "Servicestelle"
  • Schaffung einer qualifizierten Clearingfunktion
  • Schaffung offener Angebote für alle Altersgruppen, von generationenübergreifenden Angeboten und generationenübergreifender Selbsthilfe
  • Bereitstellung einer Anlaufstelle im Vorfeld der Familiengründung
  • Schaffung des Kontakts zu Eltern und Familien ab der Geburt
  • Bereitstellung eines Angebots in der Gesundheitsvorsorge und -bildung
  • Schaffung eines Angebots in der Gesundheitsförderung (Motopädie, Logopädie, Familienhebammen, Kinderuntersuchungen, kinderärztlicher Dienst, zahnärztlicher Dienst) sowie von prä- und postnatalen Angeboten
  • Einrichtung eines Angebots von Sprachkursen für Eltern und Kinder
  • Förderung der Integration von Kindern mit Behinderungen
  • Kooperation mit den Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA)
  • Unterstützung von Nachbarschaftshilfen für/mit Familien
  • Einrichtung einer Infobörse für familienorientierte Angebote (z.B. im Stadtteil)
  • Einrichtung eines Familiencafés
  • Schaffung von Freizeitangeboten für Familien, inklusive von Familienfreizeiten

All das, was ich in den letzten zwei Jahrzehnten in Modellversuchen erprobt und in vielen Publikationen gefordert habe, wird nun in Nordrhein-Westfalen umgesetzt werden: Spätestens im nächsten Jahr wird ein Drittel der Kindertagesstätten Familienbildung und Elternberatung anbieten können, werden ihre Einrichtungen mit psychosozialen Diensten intensiv kooperieren. Ja, sie werden sogar noch Angebote machen, an die ich bisher noch nicht einmal zu denken gewagt habe!

Aber stellen wir uns familienfreundliche Kindertagesstätten wirklich so vor? Mir fallen durchaus einige kritische Fragen zu den NRW-Familienzentren ein, z.B.:

  • Wie will die Landesregierung die Einführung der Familienzentren mit nur 2,5 Mio. EUR an Fördermitteln - die auch noch bis einschließlich 2007 reichen sollen - finanzieren?
  • Woher sollen auf einmal all die personellen und zeitlichen Ressourcen herkommen, die vor allem die örtlichen Familienberatungsstellen, die Familienbildungsstätten und die Familienverbände den Familienzentren zur Verfügung stellen sollen? Abgesehen davon kommen in Nordrhein-Westfalen gerade einmal 310 Familienberatungsstellen und 151 Familienbildungsstätten auf die geplanten 3.000 Familienzentren bzw. auf alle 9.743 Kindertageseinrichtungen. Und überhaupt Familienverbände - da engagieren sich doch nur ein paar Eltern mit zumeist älteren Kindern: Sind die jetzt auf einmal als Berater/innen oder Familienbildner qualifiziert?
  • Wo sollen die Erzieher/innen die Zeit hernehmen für all die Absprachen mit den Kooperationspartnern und den Ehrenamtlichen? Für die Vermittlungstätigkeit, die Clearingfunktion und das Case-Management? Für die generationenübergreifenden Angebote und die Maßnahmen für "Familien mit Zuwanderungsgeschichte und aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten"?
  • Wo sind die Räume, in denen offene Treffs, ad-hoc-Betreuungshilfen, Beratung, Familienbildung, prä- und postnatale Angebote stattfinden sollen?

Nun, solche Fragen haben in erster Linie die Kolleg/innen in Nordrhein-Westfalen zu stellen und werden von den Politiker/innen auch irgendwelche Antworten darauf erhalten. Mich beschäftigt etwas anderes viel mehr: das hinter dieser Konzeption von Familienzentren stehende Familienbild. Das scheint mir ein reines Defizitmodell zu sein, denn es wird nur von einem "wachsenden Bedarf der Eltern und Familien an Beratung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgaben" geredet, von Fällen der Misshandlung oder Ermordung von Kindern, von Angeboten für "Familien mit Zuwanderungsgeschichte und aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten" sowie von der Verbesserung der Möglichkeiten präventiven Handelns, um "für alle Familien frühzeitig Hilfe und Beratung" anzubieten.

Woher kommt diese Defizitorientierung der Politiker/innen? Sie werden immer nur mit Extremfällen konfrontiert und bekommen so ein negatives Familienbild. Außerdem kann in Familien nicht von außen hineingeschaut werden; das macht sie obskur, unheimlich und verdächtig. Auch lassen sich Familien politisch nicht steuern, verwalten und kontrollieren. Eltern "verärgern" die Wirtschaft, wenn sie Erziehungszeit nehmen und die Unternehmen nach Ersatz suchen und diesen kostspielig einarbeiten müssen. Da ist es besser, wenn man den Eltern sagt, die Kinder würden in Krippen und Tagespflege besser gefördert als zu Hause. Zudem sind Hausfrauen "out"; nur vollerwerbstätige Frauen sind emanzipiert! Und diese ganze Gefühlsduselei wegen der Familie...

Dem Bedarf von Eltern voll entsprechen

Inzwischen gibt es auch schon ganz besonders familienfreundliche Kindertagesstätten - Dienstleistungseinrichtungen, die voll dem Bedarf erwerbstätiger Eltern entsprechen und damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in nahezu allen denkbaren Fällen gewährleisten können. Eine solche Kita ist z.B. die "Kinderzeit", gelegen in einer kleinen Stadt im Taunus. Schauen wir uns einmal ihre Konzeption an, die im Internet zu finden ist (http://www.kinderzeit-gutezeit.de, abgerufen am 20.01.2006). Als Service für Eltern wird hier Folgendes angeboten: "Ob regelmäßig oder spontan - wir sind dann für Sie und Ihr Kind da, wenn Sie uns brauchen. Das kann von jeden Tag für 10 Stunden über Einzeltageslösungen - ab 3 Stunden pro Woche ist fast alles möglich, auch abends - bis hin zur Betreuung am Wochenende reichen. Mittelfristig ist auch ein Übernachtangebot geplant. Ob Sie arbeiten gehen, abends einen Fortbildungskurs besuchen oder nur mal ohne Blick auf die Uhr Einkaufen oder Essen gehen möchten - Sie kennen Ihren Bedarf, wir gehen darauf ein. Übrigens auch, wenn Sie uns 'nur' als Ergänzung zu anderen Betreuungsformen nutzen. ... Und weil wir Ihnen wirkliche Unterstützung bei der Familien-Organisation bieten wollen, hört unser Service nicht auf, wenn Ihr Kind während Ihrer Arbeitszeit zum Arzt muss - dann begleiten wir es dorthin, oder wenn es beispielsweise vom Kindergarten oder der Oma abgeholt werden soll - dann tun wir das. Wir betreuen Kinder im Alter von 6 Monaten bis zu ihrem Schuleintritt. Das hat nicht nur viele Vorteile, falls Sie mehrere Kinder haben, sondern gibt Ihrem Kind über viele Jahre hinweg die Sicherheit einer vertrauten Umgebung".

Dieser Service wird folgendermaßen begründet: "Eltern möchten wir die Freiheit geben, die gemeinsame Zeit mit ihrem Kind uneingeschränkt zu genießen - und in den übrigen Stunden die Gewissheit zu haben, dass es ihm rundum gut geht. Egal, zu welcher Uhrzeit und an welchen Wochentagen diese 'übrigen Stunden' liegen. Das entspannt nicht nur den Alltag, sondern schafft neue Perspektiven, beispielsweise im Beruf, in der Freizeitgestaltung, für die Fortbildung oder oder oder... Unternehmen erhalten ein zielführendes Tool sowohl zur Mitarbeiter-Motivation und -Bindung als auch zur Personalrekrutierung."

Diese familienfreundliche, dem individuellen Bedarf entsprechende Betreuung wird ganz gerecht - stundenweise - abgerechnet: Die Kosten betragen unter der Woche tagsüber 6,70 EUR pro Stunde.

Das Kind kann mit gutem Gewissen in der "Kinderzeit" abgegeben werden, denn: "Weil es Ihnen nur wirklich gut geht, wenn Sie wissen, dass es Ihrem Kind gut geht und weil wir Kinder einfach lieben und ihnen einen guten Start in die Zukunft ermöglichen wollen, steht für uns bei allem das Wohl Ihres Kindes an erster Stelle. Ausgesuchte Fachkräfte, kontinuierliche Fortbildung, englisch- und deutschsprachige Erzieherinnen, kleine Gruppen, gesunde Ernährung, ein großes Haus, viel Grünfläche und ein kleiner Streichelzoo bilden dafür die Grundlage. ... Englischunterricht erteilen wir nicht, sondern wir fördern das Sprachgefühl Ihres Kindes, indem Englisch durch Muttersprachler ganz selbstverständlich im Alltag gesprochen wird. So und beim Singen englischer Lieder erfasst Ihr Kind die andere Sprachmelodie spielerisch. Wir schaffen eine Atmosphäre, in der es Ihrem Kind Freude macht, zu sprechen - natürlich auch auf Deutsch. Wir hören zu und lassen ausreden. Und wir singen viel, lesen vor und erzählen Märchen, um den Spracherwerb und den Umgang mit der Sprache zu fördern." Natürlich werden auch musikalische Früherziehung, Bewegungserziehung, Sinnesschulung, kreative Aktivitäten, Computer üben, Hausaufgaben machen, Natur erleben, im Garten helfen, auf Bäume klettern u.v.a.m. angeboten.

"Perfekt", höre ich Wirtschaft und Politik sagen, "Familienfreundlichkeit in Reinkultur! Und so ein tolles pädagogisches Angebot!" Aber auch hier kommen mir wieder kritische Fragen:

  • Wie ist ein pädagogisches Arbeiten möglich, wenn Montag bis Freitag von 7:30 bis 19:30 Uhr und am Samstag von 10:00 bis 14:00 Uhr immer wieder Kinder gebracht und abgeholt werden? Wenn manche Kinder nur an zwei Tagen in der Woche in der Einrichtung sind? Wenn andere erst nach dem Besuch eines Kindergartens gebracht werden, weil die Eltern noch arbeiten müssen oder in Ruhe einkaufen gehen wollen?
  • Wie organisiert man den Tagesablauf, die Essens- und Ruhezeiten? Bietet man dieselben "Beschäftigungen" morgens und nachmittags an, damit die zu unterschiedlichen Zeiten gebrachten Kinder gleichermaßen gefördert werden? Sollen die Kinder, die schon morgens anwesend waren, dann ein anderes Angebot erhalten? Können unter diesen Rahmenbedingungen überhaupt Projekte durchgeführt oder Monatsthemen "abgearbeitet" werden?
  • Wie können unter diesen Bedingungen unter Dreijährige Bindungen aufbauen? So lange Betreuungszeiten sind ja nur durch Schichtarbeit sicherzustellen, und da werden nicht immer die gleichen Erzieher/innen anwesend sein, wenn die Kinder gebracht werden. Und zwischendrin "verschwinden" die Fachkräfte wieder, um mit einem Kind zum Arzt zu gehen oder ein anderes an der Schule abzuholen.
  • Wie können Freundschaften zwischen den Kindern entstehen, wenn sich die Zusammensetzung der Gruppe während der Woche fortwährend ändert? Oder wenn ein Kind nur drei oder vier Stunden pro Woche die Einrichtung besucht?

Die Kolleg/innen, die in der "Kinderzeit" arbeiten, werden sicherlich Antworten auf diese Fragen finden. Aber auch andere Kindertageseinrichtungen müssen sich ihnen stellen, denn die Eltern werden zunehmend unterschiedliche Betreuungszeiten einfordern. Letztlich ist dies nicht zu vermeiden, weil solche "Errungenschaften" wie die neuen Ladenöffnungszeiten oder die Callcenters zu einer Veränderung der Arbeitszeiten geführt haben. Eine repräsentative Befragung von erwerbstätigen Müttern mit Kindern unter 14 Jahren ergab beispielsweise, dass 2003 in Nordrhein-Westfalen über die Hälfte dieser Frauen zwischen 16.30 und 19.00 Uhr arbeiten muss, ein Drittel zwischen 19.00 und 22.00 Uhr, ein Sechstel nachts und ein gutes Viertel vor 7.30 Uhr (Stöbe-Blossey 2004). Die Hälfte der Mütter muss auch samstags arbeiten, ein knappes Drittel sonntags. Erschwerend kommt hinzu, dass die Frauen nicht an jedem Tag frühmorgens oder spätnachmittags bzw. abends oder an den Wochenenden arbeiten müssen, sondern nur an manchen Tagen.

Es wird also gar nicht zu vermeiden sein, dass der Druck zunehmen wird, Kinderbetreuungsangebote "familienfreundlicher" zu machen - also dem "Vorbild" der Kita "Kinderzeit" zu folgen. Hemmend wirken noch die Kostenfrage und der für die Politik vorrangige Ausbau des Betreuungsangebots für unter Dreijährige, insbesondere der Tagespflege. Ist das Ausbauprogramm aber abgeschlossen und haben die Tagespflegepersonen bewiesen, wie flexibel Kinderbetreuung sein kann, wird vermutlich der Druck auf die Kindertagesstätten zunehmen, ihre Öffnungszeiten auszuweiten. Dies wird sich dann wahrscheinlich sogar "kostenneutral" machen lassen, da die Kinderzahlen weiter zurückgehen werden.

Zugleich werden die Eltern immer mehr gezwungen sein, ihre Kinder so früh wie möglich in Fremdbetreuung zu geben. Einerseits wird das Erziehungsgeld für das zweite Lebensjahr eines Kindes und dann vermutlich auch das Landeserziehungsgeld für das dritte Lebensjahr wegfallen, wenn in diesem Jahr das neue Elterngeld eingeführt wird. Andererseits führen die sinkenden bzw. stagnierenden Erwerbseinkommen bei steigenden Lebenshaltungskosten und zunehmender (Bedrohung durch) Arbeitslosigkeit bei immer mehr Familien dazu, dass beide Ehepartner arbeiten müssen. Hinzu kommen individuelle Lebenslagen wie Alleinerzieherschaft oder die immer größer werdende Gefährdung des eigenen Arbeitsplatzes bzw. der Karriereaussichten, wenn man wegen der Familie Überstunden ablehnt oder gar drei Jahre Elternzeit nehmen möchte. Schließlich - und damit sind wir wieder bei dem defizitären Familienbild - wird den Eltern seitens der Politik immer mehr "eingeredet", dass die Familienerziehung bei weitem nicht so gut wie die Fremdbetreuung sei, dass die Kinder in Kindertageseinrichtungen viel besser erzogen und vor allem auch "gebildet" würden.

Die Bedeutung der Familie als Bildungsinstanz

Ich vertrete ein anderes Familienbild: Für mich ist die Familie weiterhin die wichtigste Sozialisationsinstanz. Und für mich sind die meisten Eltern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder erfolgreich. Das schließt natürlich nicht aus, dass sie manchmal unsicher sind oder Fehler machen. Kinder brauchen keine perfekten Eltern; sie benötigen nur relativ gute. Und das dürften rund 80% aller Eltern sein - zumindest sind nur ca. 20% der Kinder in unseren Kindertagesstätten verhaltensauffällig, also durch irgendwelche, unter Umständen familialen Einflüsse geschädigt worden.

Schauen wir uns einmal die Erziehungsleistung der Eltern an, die sie bereits erbracht haben, bevor sie ihr Kind im Kindergarten anmelden! Sie haben ihm erfolgreich z.B. das Gehen und Laufen, das Sprechen und den Umgang mit anderen gelehrt. Kinder lernen extrem viel in ihrer Familie, vor allem Kompetenzen und Einstellungen, die für das ganze Leben wichtig sind. Dazu gehören Sprachfertigkeiten, Grob- und Feinmotorik, Lernmotivation, Neugier, Leistungsbereitschaft, Interessen, Werte, Selbstkontrolle, Selbstbewusstsein, soziale Fertigkeiten usw.

Die Bedeutung der Familie als bildende Instanz wird besonders deutlich, wenn wir sie mit der Schule vergleichen. Schon in den 60er Jahren wurden in den Aufsehen erregenden Büchern "Equality of Educational Opportunity" von Coleman et al. (1966) und "Children and Their Primary Schools" von Plowden (1967) anhand von Untersuchungen aufgezeigt, dass der Anteil der Schule am Schulerfolg von Kindern nur etwa halb so groß wie der Anteil der Familie ist. Seitdem wurden Hunderte von empirischen Studien veröffentlicht, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden. Metaanalysen zeigten, dass bei den weitaus meisten Untersuchungen die Effektstärken der Lernbedingungen in der Familie größer waren als die Effektstärken von Schul-, Lehrer-, Unterrichts- und Methodenmerkmalen (Fraser et al. 1987).

Sonderbarerweise werden derzeit all diese Forschungsergebnisse ignoriert. Das gilt auch für die PISA-Studie. Obwohl sie die Bedeutung der Familie betonte, wurden diese Aussagen einfach nicht diskutiert. Rauschenbach, Leu und ihre Co-Autor/innen (2004) schreiben in einer Veröffentlichung des Bundesbildungsministeriums: "Nach den Ergebnissen der PISA-Studie erweist sich die Qualität des sozialen und kulturellen Kapitals, das Kindern in ihren Familien vermittelt wird, als die wichtigste Voraussetzung und wirksamste Grundlage für den schulischen Lernprozess. Die Wirkungen der informellen Kontexte der Herkunftsfamilie der Jugendlichen sowie deren Freundschaftsnetzwerke sind nach den Erkenntnissen der Studie wichtiger als die Wirkungen institutioneller Kontexte. Allerdings wird dieser Befund in der öffentlichen Diskussion um die PISA-Studie kaum wahrgenommen. Zu Recht weist der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen in seiner Stellungnahme zur PISA-Studie auf die Schullastigkeit der aktuellen Reformdiskussion hin (...). Angesichts der PISA-Ergebnisse über die grundlegende, Lern- und Bildungsprozesse unterstützende Funktion von Familie sei es notwendig, dass dem außerschulischen Lernen und Kompetenzerwerb ein höherer Stellenwert zukomme, als dies bei den 'PISA-Folgen-Diskussionen' bisher eingeräumt werde. Vorgeschlagen wird ein ganzheitliches Reformkonzept, das auch außerschulische Lernorte wie die Familie und die dort vermittelten Basiskompetenzen einschließt" (S. 313).

Auch der Kindergarten hat bei weitem nicht einen mit der Familie vergleichbaren Einfluss auf die kindliche Entwicklung und die späteren Schulleistungen. Die m.W. erste Längsschnittuntersuchung in Deutschland, die sich mit dieser Fragestellung befasst, wurde 2005 von Tietze, Rossbach und Grenner vorgelegt. Hier wurde u.a. festgestellt, dass am Ende der Kindergartenzeit je nach Kriteriumsvariable 6,3 bis 21,9% der Entwicklungsvarianz durch die Qualität des Familiensettings und nur 3,6 bis 8,4% an zusätzlicher Varianz durch das Kindergartensetting erklärt werden. Am Ende der zweiten Grundschulklasse war der Anteil an der modellerklärten Varianz, die auf die Familie zurückgeht, rund doppelt so groß wie der Anteil des Kindergartens und der Schule.

Bildungs- und Erziehungspartnerschaft

Die kindliche Entwicklung wird also in den ersten Lebensjahren durch die Familie intensiv geprägt - und das zumeist positiv. Wenn wir dies anerkennen und somit das Defizitmodell ablehnen, werden wir Eltern nicht vorrangig als Personen sehen, die überwacht, gebildet und beraten werden müssen. Vielmehr werden wir sie als erziehungskompetente und bildungsmächtige Personen wahrnehmen und akzeptieren. Dann werden wir eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft aufbauen, bei der wir mit den Eltern gleichberechtigt zum Wohl der uns anvertrauten Kinder zusammenarbeiten. Kombinieren wir unsere Stärken mit denen der Eltern, werden wir den größten Erfolg bei der Bildung und Erziehung der Kinder haben.

Diese Haltung wird m.E. auch im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan vertreten - kein Wunder, da die entsprechenden Passagen weitgehend von mir verfasst wurden: "Bildung und Erziehung fangen in der Familie an. Die Familie ist der erste, umfassendste, am längsten und stärksten wirkende, einzig private Bildungsort von Kindern und in den ersten Lebensjahren der wichtigste. Sie steuert und beeinflusst alle Bildungsprozesse direkt durch das, was Kinder in der Familie lernen (z.B. Sprachfertigkeiten, Lernmotivation, Neugier, Leistungsbereitschaft, Interessen, Werte, Selbstkontrolle, Selbstbewusstsein, soziale Fertigkeiten) und indirekt dadurch, dass sie auf die Nutzung einer Kindertageseinrichtung, die Schulauswahl, die Schullaufbahn und den Bildungserfolg entscheidenden Einfluss hat. Wie Bildungseinrichtungen genutzt werden, wie Kinder darin zurechtkommen und von deren Bildungsleistungen profitieren, hängt maßgeblich von den Ressourcen der Familie und deren Stärkung ab. ... Kindertageseinrichtung und Eltern begegnen sich als gleichberechtigte Partner in gemeinsamer Verantwortung für das Kind. Eltern sind in ihrer Elternkompetenz wertzuschätzen, ernst zu nehmen und zu unterstützen. ... Anzustreben ist eine Erziehungspartnerschaft, bei der sich Familie und Kindertageseinrichtung füreinander öffnen, ihre Erziehungsvorstellungen austauschen und zum Wohl der ihnen anvertrauten Kinder kooperieren. Sie erkennen die Bedeutung der jeweils anderen Lebenswelt für das Kind an und teilen ihre gemeinsame Verantwortung für die Erziehung des Kindes. Bei einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Fachkräften und Eltern findet das Kind ideale Entwicklungsbedingungen vor: Es erlebt, dass Familie und Tageseinrichtung eine positive Einstellung zueinander haben und (viel) voneinander wissen, dass beide Seiten gleichermaßen an seinem Wohl interessiert sind, sich ergänzen und einander wechselseitig bereichern. Diese Erziehungspartnerschaft ist auszubauen zu einer Bildungspartnerschaft. Wie die Erziehung soll auch die Bildung zur gemeinsamen Aufgabe werden, die von beiden Seiten verantwortet wird. Wenn Eltern eingeladen werden, ihr Wissen, ihre Kompetenzen oder ihre Interessen in die Kindertageseinrichtung einzubringen, erweitert sich das Bildungsangebot. Wenn Eltern mit Kindern diskutieren, in Kleingruppen oder Einzelgesprächen, bringen sie andere Sichtweisen und Bildungsperspektiven ein. Wenn Eltern Lerninhalte zu Hause aufgreifen und vertiefen, wird sich dies auf die Entwicklung des Kindes positiv und nachhaltig auswirken" (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik, München 2005, S. 437 f.).

Insbesondere das Konzept der Bildungspartnerschaft macht deutlich, dass die Familie als wichtige Bildungsstätte und die Eltern als kompetente "Bildner" wahrgenommen werden. Diese sind damit eine bedeutende Ressource für Erzieher/innen - und selbst vollerwerbstätige Eltern können entsprechend "genutzt" werden. So können sie beispielsweise gezielt in der Kindergruppe eingesetzt werden: Eltern können Geschichten und Märchen erzählen, mit Kindern ein Bilderbuch betrachten, mit ihnen ein Puzzle oder ein anderes Brettspiel machen, eine Kleingruppe - z.B. im Nebenraum - beaufsichtigen, an einem Rollenspiel mitwirken und dieses durch Vorschläge bereichern, der Fachkraft bei einem naturwissenschaftlichen Experiment assistieren, mit einigen Kindern Sport machen (z.B. Ballspiele) oder einen Kuchen backen - aber ihnen auch beim Umziehen, Klogehen, Tischdecken, Abräumen usw. helfen. Ferner können sie die Gruppe bei Spaziergängen und Exkursionen begleiten. Selbst vollerwerbstätige Eltern nehmen sich einen (halben) Tag frei, wenn sie auf diese Weise am Leben ihres Kindes in der Tagesstätte teilhaben können.

Auch die Projektarbeit bietet viele Möglichkeiten, Eltern gezielt einzusetzen. Beispielsweise können bei einem Projekt "Berufe" Eltern an ihrem Arbeitsplatz besucht werden oder diese ihr "Handwerkszeug" im Kindergarten vorstellen. Im Rahmen eines Projekts "Ferne Länder" können Migranteneltern über ihr Herkunftsland berichten, Fotos zeigen bzw. (Video-)Filme kommentieren und den Kindern einige Worte in ihrer Erstsprache beibringen. Bei einem Projekt "Erkundung unserer Gemeinde" können kunsthistorisch interessierte Eltern eine fachkundige Führung durch Kirchen, Schlösser oder Museen veranstalten, kann ein als Stadtrat gewählter Vater das Rathaus vorstellen oder eine als Journalistin tätige Mutter mit den Kindern Verkehrsprobleme erörtern. Im Rahmen eines Musikprojekts können Eltern den Kindern von ihnen beherrschte Musikinstrumente erklären und auf ihnen vorspielen. Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen die Unmenge der sich im Rahmen der Projektarbeit ergebenden Möglichkeiten einer Elternmitarbeit.

Haben Erzieher/innen in Erfahrung gebracht, dass einzelne Eltern über besondere Fähigkeiten verfügen (z.B. künstlerische oder musikalische Begabung, handwerkliches Geschick, Fremdsprachenkompetenz usw.), kann dies sogar zu einer Ergänzung des Bildungsangebots der Kindertageseinrichtung beitragen. So können sie beispielsweise geeignete Eltern bitten, mit (einer kleinen Gruppe von) Kindern ein Kunstprojekt durchzuführen, ein Musikstück mit Orff-Instrumenten einzuüben, ein Schatten- bzw. Puppenspiel einzustudieren oder im Werkraum einen Gegenstand aus Holz herzustellen. In Einzelfällen kann sich daraus sogar ein längerfristiges Engagement einzelner Eltern ergeben: Eine türkische, britische oder italienische Mutter gibt einen Sprachkurs für interessierte Kinder, ein in einem Schwimmverein aktiver Vater bietet einen Schwimmkurs an, eine Töpferin kommt mehrmals hintereinander in die Gruppe zum Tonen, und eine als Yogalehrerin tätige Mutter macht regelmäßig Yogaübungen mit den älteren Kindern.

Die Kinder profitieren in ihrer Entwicklung von der häufigen Anwesenheit von Eltern, weil sie neben den Erzieher/innen andere Erwachsene als Spiel- und Gesprächspartner, als Vorbild und Rollenmodell haben. Sie erfahren mehr Stimulation, Anleitung und Förderung. Durch die intensivere Interaktion mit Erwachsenen wird ihre sprachliche und kognitive Entwicklung beschleunigt. Ferner erwerben sie soziale Kompetenzen durch den Umgang mit zuvor oft unbekannten Erwachsenen.

Durch die Mitarbeit von Eltern werden die Erzieher/innen entlastet. So gewinnen sie Freiräume, die sie z.B. für die Beobachtung einzelner Kinder, die Vorbereitung von bildenden Aktivitäten oder Elterngespräche nutzen können. Auch wird die Arbeit in offenen Gruppen erleichtert, da mehr Aufsichtspersonen zur Verfügung stehen und mehr Angebote gemacht werden können. Schließlich können Eltern bei Abwesenheit von Mitarbeiter/innen (z.B. wegen Krankheit oder Fortbildung) als "Vertreter/innen" einspringen, da ihnen die Kinder vertraut sind und diese sie kennen.

Und diese Freiräume können Erzieher/innen auch nutzen, um ihre Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren auszubauen. Diese werden aber ganz anders aussehen als die "Leitstellen für soziale Gestaltungsprozesse im Stadtteil" in Nordrhein-Westfalen, in denen die vorhandenen Hilfsangebote gebündelt werden. Vielmehr entständen Familienzentren, in denen Eltern als "Familienpädagog/innen" präsent sind, wo sie mit den Erzieher/innen und den anderen Eltern in einem fachlichen Gesprächs- und Erfahrungsaustausch stehen, an gemeinsamen Aktivitäten teilnehmen, in den Kindergruppen mitarbeiten und pädagogische Verantwortung übernehmen. Das schließt natürlich eine wechselseitige Unterstützung in Form von Familienselbsthilfe, die Vernetzung mit Familienbildungsstätten und Beratungsstellen oder besondere Angebote für sozial benachteiligte Familien und Migrantenfamilien nicht aus - genauso wenig wie eine intensive Förderung verhaltensauffälliger, entwicklungsverzögerter oder behinderter Kinder bzw. Sprachförderprogramme für zugewanderte Kinder. Aber bitte mit zusätzlichen Ressourcen bzw. durch Fachkräfte psychosozialer Dienste!

Schlusswort

In diesem Artikel habe ich drei verschiedene Vorstellungen von einer "familienfreundlichen Kindertagesstätte" beschrieben. Diese Konzepte lassen sich durchaus miteinander vereinbaren - Übertreibungen sollten aber vermieden werden.

Abschließend möchte ich meine wichtigsten Aussagen in fünf Thesen zusammenfassen:

  1. Betreuung, Erziehung und Bildung sind die Hauptaufgaben von Kindertageseinrichtungen. In allen drei Aufgabenbereichen sind die Anforderungen an Erzieher/innen in den letzten Jahren gestiegen (z.B. Verlängerung der Öffnungszeiten, mehr Betreuung von unter Dreijährigen, mehr Kinder mit besonderen Bedürfnissen, mehr Bildungsangebote als Konsequenz der Diskussion über die PISA-Studien).
  2. Eine Ausweitung und Flexibilisierung der Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen sollte sich nicht nur am Bedarf der Eltern, sondern auch am Wohl des jeweiligen Kindes orientieren - an seinen Bedürfnissen.
  3. Bildung und Erziehung lassen sich am erfolgreichsten in enger Zusammenarbeit mit den Eltern praktizieren. Es sollte deshalb nach einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Kindertageseinrichtung und Familie getrachtet werden, die sich vor allem in einem intensiven Gesprächsaustausch realisiert.
  4. Genauso wie sich Erzieher/innen auf die Stärken der ihnen anvertrauten Kinder konzentrieren, arbeiten sie auch mit den Stärken der Eltern.
  5. Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Migrantenkinder mit geringen Deutschkenntnissen und Eltern mit Erziehungsschwierigkeiten, Eheproblemen und anderen Belastungen kann in der Kindertageseinrichtung nur begrenzt geholfen werden. Stoßen Erzieher/innen an ihre Grenzen, sollten sie die Kinder und ihre Eltern an spezialisierte Dienste weitervermitteln.

Es ist Aufgabe der Kommunen und des jeweiligen Bundeslandes, das System psychosozialer Dienste bedarfsgerecht weiterzuentwickeln - und Rahmenbedingungen zu schaffen, die Erzieher/innen eine qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit ermöglichen!

Literatur

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik, München: Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Weinheim, 2. Aufl. 2005

Coleman, J.S. et al.: Equality of Educational Opportunity. Washington 1966

Fraser, B.J. et al.: Syntheses of Educational Productivity Research. International Journal of Educational Research 1987, 11, S. 147-251

Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration: Workshop Familienzentren 28.09.2005. Dokumentation wesentlicher Ergebnisse. http://www.mgffi.nrw.de/pdf/familie/familienzentren-workshop05.pdf

Plowden, B. (Hrsg.): Children and Their Primary Schools. London 1967

Rauschenbach, T./Leu, H.R./Lingenauber, S./Mack, W./Schilling, M./Schneider, K./Züchner, I.: Non-formale und informelle Bildung im Kindes und Jugendalter. Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht. Berlin 2004

Stöbe-Blossey, S.: Arbeitszeit und Kinderbetreuung: Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in NRW - gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung. IAT-Report 1/2004 (http://www.iatge.de/iat-report/2004/report2004-01.pdf)

Textor, M.R.: Elternarbeit im Kindergarten. Ziele, Formen, Methoden. Norderstedt: Books on Demand, 3. Aufl. 2018

Tietze, W./Roßbach, H.-G./Grenner, K.: Kinder von 4 bis 8 Jahren. Zur Qualität der Erziehung und Bildung in Kindergarten, Grundschule und Familie. Weinheim 2005

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de