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Zitiervorschlag

Elternarbeit in Kindertageseinrichtungen mit weiter Altersmischung

Martin R. Textor

 

Insbesondere für kleinere Kinder sind Familie und Kindertageseinrichtungen die beiden wichtigsten Sozialisationsinstanzen. Eine bestmögliche Förderung der Kinder lässt sich nur realisieren, wenn beide Seiten partnerschaftlich miteinander kooperieren. Hieraus resultiert die große Bedeutung, die der Elternarbeit zugesprochen wird.

Da im Gegensatz zu Kindergarten oder Krippe die Eltern im "Haus für Kinder und Eltern" fünf, sechs oder gar zehn Jahre lang mit den Erzieherinnen zusammenarbeiten (und teilweise noch länger, wenn Geschwisterkinder hintereinander die Einrichtung besuchen), handelt es sich hier um eine langfristige Partnerschaft. Eltern und Fachkräfte können einander weniger leicht aus dem Weg gehen, sondern sind eher zu einer Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen, Erwartungen und Wünschen der jeweils anderen Seite gezwungen. Eltern und Erzieherinnen - aber auch die Familien untereinander - können einander besser kennenlernen und ein intensives Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, zumal die jährliche Fluktuation viel geringer als in Regeleinrichtungen ist (jedes Jahr werden nur drei, vier neue Kinder aufgenommen) und die wenigen hinzukommenden Familien schnell integriert werden können.

Aufgrund der langandauernden Erziehungspartnerschaft können bei den Eltern einerseits ein ausgeprägteres Interesse an der Einrichtung, mehr Bereitschaft zur Mitarbeit und ein größeres Engagement vorausgesetzt, von ihnen erwartet oder auch gefordert werden. So wissen die Eltern, dass alles, was sie einbringen, ihnen und ihren Kindern lange Zeit zugutekommt. Dies bedeutet aber andererseits, dass sie auch mehr Mitwirkungsrechte und -pflichten bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten erhalten sollten. Die Erzieherinnen können Kompetenzen der Eltern fördern und auf diese zurückgreifen. Haben sie Eltern als Mitarbeiter gewonnen, können sie lange Zeit aus deren Engagement Nutzen ziehen.

Eine intensivere Elternarbeit entspricht auch dem Wunsch einer immer größer werdenden Gruppe von Eltern, die in Kindertageseinrichtungen ihre Bedürfnisse nach sozialen Kontakten, Gesprächsaustausch und (wechselseitiger) Beratung befriedigen wollen. Viele Eltern möchten die außerhäusliche Betreuung ihrer Kinder mitgestalten und eigene Kompetenzen im Rahmen einer freiwilligen bzw. ehrenamtlichen Mitarbeit einbringen.

Eine ausgeprägte Erziehungspartnerschaft verschafft den Fachkräften Kenntnisse über die Lebenswelt der ihnen anvertrauten Kinder und die vielfältigen Lebenslagen ihrer Familien. Dieses Wissen ist unverzichtbar, um einerseits den familienergänzenden und -unterstützenden Auftrag der Kindertageseinrichtungen erfüllen und andererseits gut entsprechend dem jeweiligen pädagogischen Ansatz (z.B. Situationsansatz) arbeiten zu können.

Ziele der Elternarbeit

Ein zentrales Ziel der Elternarbeit im "Haus für Kinder und Eltern" ist die wechselseitige Öffnung von Kindertageseinrichtung und Familie: Auf der Grundlage eines partnerschaftlichen, vertrauensvollen und auf gegenseitigem Respekt beruhenden Verhältnisses sollen beide Seiten die jeweils andere kindliche Lebenswelt und das Verhalten des Kindes in ihr kennenlernen. Eltern und Fachkräfte treten in einen Dialog ein, lernen voneinander, sollen zur Reflexion eigener Vorstellungen und Erfahrungen angeregt werden und mehr Verständnis füreinander entwickeln. Der wechselseitige Austausch über Erziehungsziele, -stile und -probleme soll zur Kontinuität privater und öffentlicher Erziehung führen und durch Abstimmung des erzieherischen Verhaltens zur Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen beitragen. Dies ist aufgrund der langen Verweildauer (bis zu 12 Jahren) der Kinder in der Einrichtung besonders wichtig. Zugleich kann eine neue Qualität im Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern erreicht werden. Die Kinder erfahren, dass sich die Eltern für die Einrichtung und die Erzieherinnen für ihre Familie interessieren, und fühlen sich im Rahmen dieser Erziehungspartnerschaft gut aufgehoben. Schließlich dient die Öffnung des "Hauses für Kinder und Eltern" dazu, dass letztere die pädagogische Arbeit zum einen in der Theorie und zum anderen in der Praxis kennenlernen und z.B. auch die Bedeutung des Spiels als kindgemäße Lernform erkennen.

Ein anderes Ziel der Elternarbeit ist die Förderung von Kontakten zwischen Familien, die teilweise zehn Jahre und länger in der Einrichtung aufeinander treffen. Es sollen der Gesprächs- und Erfahrungsaustausch zwischen möglichst vielen Eltern ermöglicht und Aktivitäten für die ganze Familie oder familiale Subsysteme angeboten werden. Dies kann zur Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Familien führen, die häufiger ihre Freizeit gemeinsam verbringen oder einander auf dem Wege von Nachbarschafts- oder Familienselbsthilfe unterstützen. Gerade bei Übergängen zwischen Phasen des Familienzyklus oder in Krisensituationen wird das soziale Netz von Familien umstrukturiert. Hier könnten neue Kontakte zu anderen Familien aus der Kindertageseinrichtung oder bestehende Beziehungen hilfreich wirken. Außerdem können sozial benachteiligte Familien, Ausländer und Aussiedler im Rahmen gemeinsamer Unternehmungen integriert werden. Schließlich soll durch gemeinsame Familienaktivitäten erreicht werden, dass die in der Einrichtung betreuten Kinder andere Väter und Mütter kennenlernen, die ihnen als Vorbilder und Geschlechtsrollenleitbilder dienen können.

So sollte angestrebt werden, möglichst viele Eltern für eine Mitarbeit im "Haus für Kinder und Eltern" zu gewinnen und ihnen viel Raum für Eigeninitiative und selbstverantwortliches Engagement zu bieten. Mitwirkungsmöglichkeiten im pädagogischen Alltag, bei der Kinderbetreuung und im Rahmen der Elternarbeit, bei Projekten, Veranstaltungen, Ausflügen und besonderen Aktivitäten, bei Verwaltungsaufgaben und handwerklichen Arbeiten sollen eröffnet werden. So wird das Spektrum der Arbeit im "Haus für Kinder und Eltern" gegenüber der herkömmlichen Kindergartenarbeit erweitert. Dies kann zu einer Entlastung der Fachkräfte führen, die hierdurch Zeit für andere Tätigkeiten gewinnen. Sie müssen aber auch bereit sein, Kompetenzen an die Eltern abzutreten sowie mehr organisatorische und koordinierende Aufgaben zu übernehmen. Zugleich kommen die Kinder in engeren Kontakt mit anderen Erwachsenen, lernen von diesen und machen neue Erfahrungen, wenn Eltern z.B. Angebote machen, die von Erzieherinnen in dieser Form nicht gemacht werden könnten. Aber auch den Eltern wird ein neues Bewährungsfeld eröffnet; selbst passive Eltern lernen hinzu.

Elternmitwirkung sollte möglichst dazu führen, dass Eltern mehr Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden. So können Eltern z.B. in die Konzeptionsentwicklung, die Erstellung von Jahres- und Rahmenplänen, die Festlegung der Öffnungszeiten sowie die Vorbereitung besonderer Aktivitäten für Kinder oder Eltern eingebunden werden, wobei sie für viele Angebote die Verantwortung übernehmen können. Dadurch wird ihnen die Gelegenheit geboten, ein intensiveres Interesse an der pädagogischen Arbeit und ein größeres Engagement zu entwickeln. Dies sollte auch Konsequenzen für die Elternvertretung haben: So muss die Elternvertretung nicht auf Grundlage des Kindergartengesetzes gewählt werden; vielmehr sind neue Formen mit erweiterten Rechten und Pflichten denkbar. Auch kann die Elternvertretung die anderen Eltern organisieren und für sie eigene Angebote entwickeln (z.B. Elternstammtisch). Auf diese Weise können auch in der Praxis bereits laufende Entwicklungen aufgegriffen werden (wie der Wunsch vieler Eltern nach mehr Mitbestimmungsrechten). Ferner kann das Engagement der Eltern dazu führen, dass sie sich außerhalb des "Hauses für Kinder und Eltern" engagieren, in der Öffentlichkeit die Interessen von Kindertageseinrichtungen vertreten und sich für eine kinderfreundliche Umwelt einsetzen. Schließlich kann die lange Zeit der Verbundenheit mit der Einrichtung Eltern motivieren, auch nach dem Ausscheiden ihres Kindes neue Wege der Mitwirkung zu entwickeln (z.B. Gründung eines Vereins Ehemaliger, Übernahme einer Tutorenfunktion für bestimmte Familien, Mitarbeit bei Projekten und Festen).

Ein weiteres Ziel der Elternarbeit ist die Verbesserung der Familienerziehung. Durch Elternbildung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sollen Informationen über die kindliche Entwicklung, eine gute Ernährung, ein positiv wirkendes Erziehungsverhalten, altersgemäße Beschäftigungen, Förderangebote, qualitativ hochwertige Spiele und Bücher vermittelt werden. Insbesondere soll Eltern geholfen werden, Lernprozesse bei ihren Kindern zu initiieren und zu begleiten (z.B. durch Vorlesen und Besprechen des Textes, häufige Erklärungen, ausführliches Beantworten von Fragen, Kauf reizvoller Spiele und Materialien). Dies kann dazu führen, dass auch zu Hause eine entwicklungsfördernde Atmosphäre für die Kinder geschaffen wird. Erziehungsunsicherheit auf Seiten der Eltern soll abgebaut werden, indem nicht nur der Kenntnisstand, sondern auch Beobachtungsfertigkeiten, die Form des Umgangs mit Kindern und die Reaktionen auf unerwünschte kindliche Verhaltensweisen verbessert werden. Hier können Eltern viel am Vorbild der Erzieherinnen lernen (z.B. durch Beobachtung ihres Umgangs mit Kindern oder durch Information über ihr Verhalten bei Problemen mit Kindern). Ferner sollen häufig oder im Einzelfall auftretende Erziehungsfehler verdeutlicht werden. Schließlich kann Elternbildung zur Reflexion der Familienerziehung, der Rolle des Vaters und der Mutter, der Eltern-Kind-Beziehung, des Freizeitverhaltens und der Mediennutzung führen sowie den Übergang von einer Phase des Familienzyklus in die nächste erleichtern (z.B. Begleitung und Unterstützung bei der Einschulung eines Kindes).

Ein anderes zentrales Ziel der Elternarbeit ist die Hilfestellung bei Erziehungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten. Aufgrund des viele Jahre langen Kontakts der Erzieherinnen zu den Eltern ist zu erwarten, dass letztere eher zu Offenheit und Vertrauen tendieren und zu einer Beratung bereit sind. So sollen Erzieherinnen und Eltern gemeinsam das problematische Verhalten reflektieren, die Ursachen ermitteln und nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Dies kann zu einem gemeinsamen Erziehungsplan führen, der die Abstimmung des Verhaltens von Eltern und Fachkräften gegenüber dem jeweiligen Kind zur Folge hat. In besonders schwierigen Fällen sollten Hilfsangebote von Beratungseinrichtungen, Frühförderstellen und anderen psychosozialen Diensten vermittelt werden.

Werden die Fachkräfte mit allgemeinen Familienproblemen oder gestörten Familienstrukturen und -prozessen konfrontiert, sollten sie ebenfalls eine wenn auch nur kurze Beratung anbieten. Da diese Schwierigkeiten nicht in ihren Zuständigkeits- und Kompetenzbereich fallen, kommt es hier vor allem darauf an, die Eltern zur Nutzung der entsprechenden Hilfsangebote von Behörden, Wohlfahrtsverbänden, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und sonstigen in Frage kommenden Einrichtungen zu motivieren.

Umsetzung

Neben den traditionellen, "klassischen" Formen der Elternarbeit wurden vor allem im Verlauf der letzten Jahre "neue" Formen entwickelt, um möglichst viele der genannten Ziele erreichen zu können. Jedes "Haus für Kinder und Eltern" soll aus diesen vielfältigen Möglichkeiten diejenigen heraussuchen, die am ehesten der Situation, den Bedürfnissen und Wünschen vor Ort entsprechen. Hierzu können eine Situations- und Bedarfsanalyse (einschließlich Elternbefragungen) durchgeführt werden. Es geht also nicht darum, möglichst viele unterschiedliche Angebote zu machen, da die Zeit der Eltern begrenzt ist und somit unter diesen Umständen die Anzahl der Teilnehmer recht klein werden. Vielmehr soll ein bedarfs- und interessengerechtes Angebot unter Beteiligung der Eltern entwickelt werden, bei dem die Kosten-Nutzen-Relation positiv ist (Effizienz der Arbeit). Dieses wird der Situation vor Ort entsprechen, also für jede Einrichtung unterschiedlich sein (Standortabhängigkeit). Es sollte auch ein individuelles Engagement zulassen.

Die Realisierung der Ziele könnte durch die Rahmenbedingungen (z.B. überlange Öffnungszeiten, durch den Dienstplan bedingter mangelnder Kontakt von Erzieherinnen zu Eltern) und die Zusammensetzung der Elternschaft (Mütter der Kinder im Krippen- und Hortalter sind überwiegend berufstätig oder alleinerziehend; überforderte Eltern) erschwert werden. Dies sollte die Fachkräfte jedoch nicht entmutigen. Vielmehr soll erprobt werden, was an Elternarbeit unter den in der jeweiligen Einrichtung gegebenen (unterschiedlichen) Bedingungen erreicht werden kann. Elternarbeit muss sich entwickeln, und manchmal kann ihr Potential erst nach einer langen Zeit realisiert werden.

Das Erreichen der Ziele kann dadurch erleichtert werden, dass Eltern von Anfang an zur Mitarbeit motiviert werden. So kann z.B. ihr Interesse daran geweckt werden, ihr Kind in unterschiedlichen Erfahrungsfeldern erleben zu wollen. Oft dürfte es auch sinnvoll sein, zunächst mit einigen besonders motivierten Eltern eine neue Praxis der Elternarbeit/-mitwirkung zu etablieren. So kann mit ihnen am Anfang des Kindergartenjahres eine Planungskonferenz durchgeführt werden, auf der das Jahresprogramm und die pädagogische Arbeit besprochen und bestimmte Aufgaben an die Teilnehmer/-innen verteilt werden. Dann können allmählich andere Eltern einbezogen werden.

Erziehungspartnerschaft und Mitwirkung der Eltern im "Haus für Kinder und Eltern" setzen voraus, dass diese von den Fachkräften mitgetragen werden. So sollten sich Erzieherinnen für die Lebenslagen, Bedürfnisse und Wünsche von Familien sensibel werden. Sie sollen die Eltern als Mitverantwortliche für das Wohl und die Erziehung der Kinder sehen, Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit Eltern abbauen und bereit werden, Rechte und Kompetenzen an Eltern abzutreten. Auch müssen sie vermehrt motivierend, Eigenaktivitäten anstoßend, organisierend, vermittelnd und beratend tätig werden. Letztlich ist entscheidend, ob es ihnen gelingt, eine neue Grundhaltung gegenüber Eltern zu entwickeln, die mehr partnerschaftliche Elemente enthält und das Streben nach demokratischeren Strukturen beinhaltet.

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de