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Zitiervorschlag

Aus: Kindertageseinrichtungen, KiTa aktuell 1990, 2, S. 92-93

Familie und Kindergarten: Vier Fragen zum Familienbild

Ingeborg Becker-Textor und Martin R. Textor

 

Über veränderte Familienstrukturen und die Auswirkungen auf den Kindergarten wurde in den vergangenen Monaten viel geschrieben. Auch wird in Erzieherkreisen heftig über dieses Thema diskutiert. Fragen über Fragen tun sich auf. Immer mehr und differenziertere Anforderungen werden an Erzieherinnen und Erzieher gestellt.

Die Fortbildung reagiert noch sehr "sparsam" auf diese neuen Themen; Erzieher und Erzieherinnen nehmen jedoch die wenigen Angebote in großer Zahl an. Großveranstaltungen zum Thema "Familienwandel" sind allerdings ungünstig, da exemplarische Einzelfälle aus der Praxis der Teilnehmer nur sehr global behandelt werden können. Deshalb sind Gesprächskreise nötig, die Erziehern helfen, mit der neuen Situation von Familien fertig zu werden.

In diesen Veranstaltungen sollten die Erzieher und Erzieherinnen auch Unterstützung im Umgang mit schwierigen Kindern erfahren. Es ist immer wieder zu verdeutlichen, dass die häufigsten Ursachen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten in den familiären Bedingungen liegen, und dass die "Therapie" von Kindern (heilpädagogische Maßnahmen etc.) nur begrenzt Erfolg haben kann. Das familiäre Umfeld muss als Störfaktor erkannt sowie durch Elternarbeit und -beratung stärker beeinflusst werden. Auf diese Weise könnte Kindern und Eltern (aber auch den Erziehern) geholfen werden.

Hierzu ist eine wichtige Voraussetzung, dass sich Erzieher über ihr Familienbild im Klaren sind. So haben wir im Rahmen einer von uns durchgeführten Fortbildungsveranstaltung folgende Fragestellungen mit den Erzieherinnen bearbeitet:

1. Was bedeutet Familie für mich als Erzieher/Erzieherin?

Genannt wurden unter anderem Schutz, Geborgenheit, Liebe, Zuhause, Wärme, Geschwister, Zusammenhalt, Freizeit, Gespräche, Ehrlichkeit, Offenheit, Austragen von Konflikten, Verständnis, Hilfsbereitschaft. Aber auch negative Aspekte wurden erwähnt, wie zum Beispiel Stress, zu wenig Zeit, zu enge Wohnung, familienfeindliche Umgebung, Eifersucht, geheime Miterzieher, keine heile Welt.

In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass das eigene Familien(ideal)bild die Betrachtung der Familien von Kindergarten- und Hortkindern stark bestimmt, ja sogar zu negativen wie positiven Zuschreibungen führen kann. Oft werden die in der eigenen Herkunfts- oder Zeugungsfamilie erlebten und praktizierten Familienstrukturen (Arbeitsteilung, Hierarchie), Geschlechtsrollenbilder, Werte, Erziehungsstile und so weiter - oder ein Gegenbild derselben, wenn diese negativ erfahren wurden - zum Maßstab genommen. An diesem werden dann die Familien der Kinder in der jeweiligen Einrichtung gemessen. Es ist offensichtlich, dass dann "untypische" Familien wie Ausländer-, Scheidungs-, Teil- und Stieffamilien oder nichteheliche Lebensgemeinschaften oft negativ beurteilt werden. Es muss uns jedoch gelingen, die Familien unserer Kinder objektiv zu betrachten, wenn der Kindergarten oder Hort familienergänzend und -unterstützend wirken soll.

Ferner wurde in der Diskussion deutlich, dass sich auch die eigene Familie belastend auf die Arbeit im Kindergarten und Hort auswirken kann. Wenn zum Beispiel eine Erzieherin unter Familienproblemen leidet, in Scheidung lebt oder durch Haushalt und Erziehung eigener Kinder überlastet ist, wird sie weniger Geduld, Zuneigung und Verständnis für die Kinder in ihrer Gruppe aufbringen. Sie mag aber auch Probleme, die sie mit ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter oder ihren eigenen Kindern hat, auf bestimmte Elternteile oder Kindergarten- beziehungsweise Hortkinder übertragen, die den Familienangehörigen in Alter, Aussehen oder Verhalten ähneln. Diese werden dann nicht mehr als einzigartige Individuen behandelt, sondern wie die "problematischen" Familienmitglieder. So wurde deutlich, wie wichtig es ist, das eigene Verhalten zu hinterfragen und nach derartigen Übertragungsprozessen zu suchen.

2. Was bedeuten die Familien der Kindergarten- und Hortkinder für mich als Erzieher/Erzieherin?

Auch hier ergab sich ein breites Spektrum an Antworten: Personen, die ihren Kindern positive oder negative Entwicklungsbedingungen bieten; Erwachsene, mit denen ich zum Wohl der Kinder zusammenarbeiten muss; "Störenfriede und Kontrolleure"; Konkurrenten um die Liebe der Kinder; Personen, die wenig Verständnis für die erzieherische Arbeit haben, sich einmischen und alles so schwer machen.

Hier wird deutlich, wie unausgewogen und belastet das Verhältnis zwischen Eltern und Erziehern sein kann. Eine zum Wohl der Kinder erfolgende Kooperation setzt voraus, dass in Aus- und Fortbildung viele Missverständnisse und falsche oder unberechtigte Erwartungshaltungen ausgeräumt werden. Auch muss den Erziehern die Angst vor dem Kontakt mit den Eltern, vor der Elternberatung und -arbeit genommen werden.

3. Was bedeutet Familie für unsere Kindergarten- und Hortkinder?

Hier wurden beispielsweise genannt: Geborgenheit, Sicherheit, Wärme, Erlebnisfeld, Erwachsenenwelt, Sorgen, Isoliertheit, Überbehütung, Verwöhnung, Überforderung, Leben mit einem fehlenden Elternteil oder mit Stiefmutter/-vater.

Die Familie ist das wichtigste Lebensfeld für Kleinkinder - sie sind von ihren Eltern gänzlich abhängig, können nicht ohne sie überleben. Diese Abhängigkeit wird besonders deutlich, wenn man Kinder beobachtet, die einen Elternteil durch Trennung oder Tod verloren haben oder die weiterhin in ihrer Familie bleiben wollen, obwohl sie vernachlässigt und misshandelt werden. Aufgrund der Abhängigkeit und der Intensität familialer Einwirkungen prägt die Familie das Verhalten und Erleben von Kindern - und bei den 20 bis 30 %, bei denen Verhaltensauffälligkeiten festzustellen sind, auf negative Weise.

Hier stehen Kindergarten und Hort vor der Aufgabe, Wege zu finden, wie sie positive Aspekte des Familienlebens fördern und negativen entgegenwirken können. Es wird deutlich, wie wichtig die familienergänzenden und -unterstützenden Funktionen von Kindergarten und Hort sind. Diese werden wohl größtenteils in Gesetzestexten, Verordnungen und pädagogischen Abhandlungen berücksichtigt, spielen in der Praxis aber aufgrund der Rahmenbedingungen, der mangelnden Kompetenz der Erzieher und der Angst vor Elternarbeit noch keine große Rolle. Kindergarten und Familie sollten ein Ganzes für Kinder sein. Dies bedeutet, dass neue Wege in der Ausbildung sowie neue Konzepte für die Arbeit in der Kindergruppe, die Elternberatung und die anderen Formen der Elternarbeit entwickelt werden müssen.

4. Welchen Familienproblemen begegnen wir im Kindergarten und im Hort?

Hier reihte sich eine Aussage an die andere, von denen nur einige als Beispiele genannt werden sollen: Überforderung von berufstätigen Müttern, Unzufriedenheit von Hausfrauen, Arbeitslosigkeit, unterschiedliche Erziehungsziele der Eltern, Suchtprobleme, Krankheit, Ehekonflikte, Verdrängung von Problemen, Scheidung, Alleinerzieherschaft und so weiter. Alle diese Belastungen haben Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben von Kindern und können in ungünstigsten Fällen zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten beitragen.

Hier wird noch deutlicher, wie Erzieher im Kindergarten und Hort gefordert sind, neue Mittel und Wege zur Einwirkung auf familienbedingte Ursachen von Verhaltensproblemen zu finden. Elternarbeit, Familienberatung und die Verknüpfung der Familie mit sozialen Einrichtungen müssen eine noch viel größere Bedeutung in der Praxis bekommen. Und dementsprechend müssen sich Aus- und Fortbildung verändern. Es gilt: Mit den Familien unserer Kindergarten- und Hortkinder müssen wir uns in Zukunft viel intensiver beschäftigen!