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Zitiervorschlag

Erziehungspartnerschaft mit Eltern behinderter oder chronisch kranker Kinder

Martin R. Textor

 

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden immer mehr behinderte und chronisch kranke Kinder in Kindertagesstätten aufgenommen - zuerst überwiegend in "Integrativen Kindergärten" und dann zunehmend auf dem Wege der Einzelintegration in Regeleinrichtungen. Die von den Vereinten Nationen geforderte Inklusion wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. So haben inzwischen nahezu alle Erzieher/innen mit Eltern behinderter oder chronisch kranker Kinder zu tun und müssen deren Bedürfnisse und Wünsche im Rahmen der Elternarbeit berücksichtigen. Im vorliegenden Artikel wird zunächst die Lebenssituation dieser Eltern skizziert und dann werden Konsequenzen für die Erziehungspartnerschaft herausgearbeitet.

Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern müssen sich mit besonderen Anforderungen und Belastungen auseinandersetzen. Diese beginnen ab dem Zeitpunkt, an dem die Behinderung bzw. chronische Krankheit diagnostiziert wurde. Dies geschieht nur in einem Teil der Fälle plötzlich und unerwartet - z.B. bei pränatalen Untersuchungen, bei der (Früh-) Geburt oder direkt danach. In anderen Fällen erfolgt die Diagnose erst Monate oder gar Jahre nach der Geburt - beispielsweise bei vielen lern-, geistig- und mehrfachbehinderten Kindern. Ihr geht zumeist ein langer Prozess voraus, in dem sich erst nach und nach Anzeichen einer Behinderung oder chronischen Krankheit zeigen. Die Eltern werden immer mehr verunsichert, wenn sie die Entwicklung ihres Kindes beobachten und mit derjenigen von Gleichaltrigen vergleichen oder entsprechende Kommentare aus ihrem sozialen Umfeld hören. Selbst wenn sie zunächst hoffen, dass z.B. ihr Kind ein Spätentwickler sei, machen sie sich immer mehr Sorgen. Schließlich erfahren sie - was sie dann schon längst vermuten -, dass ihr Kind behindert oder chronisch krank ist.

Somit muss man von zwei ganz unterschiedlichen Ausgangssituationen ausgehen:

  1. akute Krise: Auf die plötzliche Diagnose bzw. auf die traumatische Geburt reagieren Eltern zunächst mit einem Schock. Dieser wird oft noch dadurch verstärkt, dass sie die Ärzte bei der Diagnosevermittlung als distanziert und ohne Mitgefühl erleben. In vielen Fällen muss das Kind sofort nach der (Früh-) Geburt intensivmedizinisch versorgt werden oder bleibt monatelang im Krankenhaus, weil z.B. mehrere Operationen notwendig sind. Hier wird der wechselseitige Anpassungsprozess zwischen Eltern und neugeborenem Kind stark gestört, da sich beide Seiten nicht in der üblichen Intensität und Kontinuität begegnen können, insbesondere wenn der Säugling an Apparaten angeschlossen ist, sodass er nicht auf den Arm genommen oder geschaukelt werden kann. Zugleich kommen immer wieder neue Anforderungen auf die Eltern zu: Beispielsweise müssen sie mit mehreren Ärzten, mit Therapeuten und Pflegepersonal kooperieren und den Umgang mit einem behinderten oder chronisch kranken Baby erlernen, das oft besondere Bedürfnisse hat, andersartig kommuniziert oder auf eine bestimmte Weise behandelt werden muss.
  2. allmähliche Eskalation: Hier fallen beim Kind im Verlauf der Zeit immer stärker Entwicklungsverzögerungen und andere Beeinträchtigungen auf. Häufig dauert es mehrere Jahre, bis schließlich die jeweilige Behinderung oder chronische Krankheit eindeutig diagnostiziert werden kann. In diesen Fällen erleben die Eltern einen langen Prozess der Ungewissheit, der Ängste und Sorgen. Oft verdrängen sie zunächst beunruhigende Beobachtungen und Kommentare, bis die Auffälligkeiten so groß sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Selbst nach der Diagnose bleibt häufig eine große Unsicherheit, wenn aufgrund des langsamen Voranschreitens der Krankheit noch keine eindeutigen Prognosen hinsichtlich ihres weiteren Verlaufs gemacht werden können.

Werden nach der ersten Diagnose immer wieder neue Auffälligkeiten diagnostiziert (z.B. bei mehrfachbehinderten Kindern) oder treten danach unvorhergesehene bedrohliche Situationen auf, kommt es zu einer protrahierten Krise (d.h., die "Ausgangssituation" dauert lange an). Bei manchen Krankheiten mag der Überlebenskampf immer schwerer werden, bis die Krise schließlich in der Sterbesituation kumuliert.

Der Bewältigungsprozess

Manche Fachleute unterscheiden verschiedene Stufen im Bewältigungsprozess der Behinderung bzw. chronischen Erkrankung des eigenen Kindes. So differenziert z.B. Strobel (2005) zwischen folgenden Phasen:

  1. Schock: Die Eltern werden entweder von negativen Emotionen überwältigt oder empfinden eine große innere Leere. Sie fallen in ein tiefes Loch, fühlen Panik, Enttäuschung und Wut. Ihre bisherige Lebensplanung fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
  2. Auflehnung: Die Eltern wollen ihr Schicksal nicht akzeptieren und besuchen mit ihrem Kind immer wieder neue Ärzte in der Hoffnung auf eine "bessere" Diagnose, browsen im Internet nach erfolgversprechenden Therapien oder "verhandeln" mit Gott (bieten ihm z.B. etwas Bestimmtes an, wenn er ihr Kind gesund macht).
  3. Resignation: Die Eltern ergeben sich in ihr Schicksal, sind verbittert oder deprimiert. Sie erleben sich selbst als hilflos und sind von anderen Menschen (z.B. Ärzten, Therapeuten oder dem Partner) enttäuscht.
  4. Adaption: Die Eltern passen sich der Behinderung bzw. chronischen Erkrankung ihres Kindes an, nutzen alle Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten und akzeptieren ihre Grenzen bzw. die ihres Kindes. Oft erleben sie nun ihr Kind als Bereicherung ihres Lebens.

Laut Strobel (2005) kann das Durchlaufen dieser Phasen zwei, drei Jahre dauern. Auch Rückfälle seien immer wieder möglich. Verharren Eltern länger in den ersten drei Phasen, könnten psychische und psychosomatische Störungen, Paarkonflikte und Trennungen die Folge sein.

Viele Fachleute (z.B. Hackenberg 2008; Krause 2002; Thurmaier/Naggl 2000) lehnen jedoch solche Stufenmodelle ab, da sie eine universelle Gültigkeit der jeweiligen Phasen unterstellen, unterschiedliche Lebenssituationen und Probleme zu wenig berücksichtigen, den Einfluss des sozialen Umfeldes und von sozioökonomischen Faktoren ignorieren sowie der Individualität des einzelnen Elternteils und seiner Bewältigungsversuche nicht genügend entsprechen würden. Außerdem ginge von ihnen ein Leistungsdruck aus, weil die Eltern immer wieder daran gemessen würden, wie weit sie in diesem Prozess vorangekommen seien - zumal nur ein Teil von ihnen eine vollständige Adaption erreichen und ohne negative Gefühle weiterleben würde.

Belastungen, positive und negative Reaktionen

Stattdessen werden heute die im Einzelfall auftretenden subjektiven Erlebensweisen, Alltagsschwierigkeiten und existenziellen Lebensprobleme erfasst und berücksichtigt. Dazu gehören beispielsweise:

  • Abwehr: Bedrohliche Beobachtungen werden von den Eltern ausgeblendet. Handeln beide Partner so, kommt es zu einer Kollusion (d.h. einem Wahrnehmungs- und Kommunikationsverbot); verdrängt nur ein Elternteil, während der andere beunruhigende Beobachtungen anspricht, entstehen Konflikte. Oft beteiligen sich Großeltern und andere Verwandte an der Kollusion, übernehmen die entgegengesetzte Position oder gehen bei Konflikten Koalitionen mit einem der beiden Partner ein. Bei geteilter Abwehr kapseln sich die Eltern auch häufig gegenüber dem bisherigen sozialen Netzwerk ab.
  • Enttäuschung: Die Eltern müssen ihre Vorstellungen von dem Kind und die auf es gerichteten Erwartungen revidieren. Sie empfinden die Verwundbarkeit der eigenen Existenz und ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal, das sie als ungerecht erleben.
  • Vorwürfe/Schuldgefühle: Oft weist ein Partner dem anderen die Schuld für die Behinderung zu oder erlebt sich selbst als verantwortlich (z.B. weil der Mann beim Zeugungsakt betrunken war oder die Frau während der Schwangerschaft ungesund gelebt hat). Oder ein Elternteil wirft dem anderen vor, er würde sich zu viel oder zu wenig um das Kind kümmern bzw. es falsch erziehen.
  • Pseudo-Stärke: Ein oder beide Partner behalten ihren Kummer für sich, um den anderen nicht zu belasten. Für die eigene psychische Entwicklung problematisch ist, wenn sie auch mit anderen Menschen nicht über ihre Emotionen sprechen.
  • Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls: Manche Eltern erleben die Behinderung ihres Kindes zunächst als eine "Schande". Häufig hatten sie vor der Diagnose Vorurteile gegenüber Behinderten. Aus Schamgefühl und Angst vor Stigmatisierung ziehen sie sich aus ihrem sozialen Netzwerk zurück und "verstecken" ihr Kind, insbesondere wenn sie diskriminierende Reaktionen in ihrer Umwelt erfahren haben.
  • Trauer: Die Eltern setzen sich damit auseinander, dass ihr Kind nicht gesund ist und dass sie ihre auf das Kind bezogenen Hoffnungen, Wünsche und Pläne teilweise oder weitgehend aufgeben müssen.
  • hoher Betreuungsaufwand: Pflege und Versorgung eines behinderten oder chronisch kranken Kindes ist in der Regel viel zeitaufwändiger als die Erziehung nicht behinderter Kinder. In vielen Fällen wird er mit zunehmendem Alter des Kindes nicht geringer, da dieses weitgehend unselbstständig bleibt. Seine Eltern haben kaum noch Freizeit; soziale Kontakte werden reduziert. Manchmal kommt es zu einer Abkapselung der Familie.
  • intensives Training: Entweder um Entwicklungsverzögerungen weiter ignorieren zu können oder um diagnostizierte Behinderungen offensiv anzugehen, fördern manche Eltern ihr Kind extrem stark ("Drill") und überfordern es dabei. Oft konzentrieren sie sich nur auf Defizite und vernachlässigen andere Bedürfnisse ihres Kindes. Das Familienleben ist um das Kind zentriert; die Paarbeziehung verliert an Bedeutung. Alle Familienmitglieder müssen sich seinem Wohl widmen und eigene Bedürfnisse zurückstellen.
  • Verwöhnung und Überbehütung: Das behinderte oder kranke Kind steht im Mittelpunkt des Familiengeschehens. Ihm wird ein Schonraum zugebilligt. Dementsprechend werden kaum Anforderungen an das Kind gestellt; eine Förderung innerhalb der Familie entfällt weitgehend.
  • Ausstoßung: Das den elterlichen Ansprüchen nicht genügende Kind wird ignoriert, vernachlässigt und in eine Außenseiter- oder Sündenbock-Position hineinmanövriert.
  • traditionelle Arbeitsteilung: In vielen Familien gibt die Mutter ihren Beruf (teilweise) auf, um sich intensiv dem behinderten oder chronisch kranken Kind zu widmen, während sich der Vater voll auf die Erwerbstätigkeit (und das Spielen mit dem Kind) konzentriert. Dies mag auf Kosten der Autonomiewünsche, der Selbstentfaltung und der Lebenszufriedenheit der Mutter gehen, die den Statuswechsel als Identitätsverunsicherung erlebt und sich nach der Berufsaufgabe oft sozial isoliert fühlt. Häufig kommt es zu (wechselseitigen) Vorwürfen, ein Partner würde den anderen vernachlässigen. Besonders problematisch ist das Ungleichgewicht bei den erzieherischen Fähigkeiten: Auf der einen Seite steht die heilpädagogisch und therapeutisch geschulte Mutter, auf der anderen der inkompetent seiende oder sich fühlende Vater.
  • Randstellung des Vaters: Schon nach der Geburt eines behinderten oder kranken Kindes ist die Mutter in der Regel die Hauptansprechpartnerin des Klinikpersonals, da sie zunächst im Krankenhaus verbleibt. Dies gilt verstärkt für die Folgezeit, wenn überwiegend die Mutter die Versorgung und Betreuung des Kindes übernimmt. Viele Männer fühlen sich dann ignoriert und in ihrer Vaterrolle verunsichert, insbesondere wenn sie von ihrer Frau im Umgang mit dem Kind "angelernt" werden oder ihr erzieherisches Verhalten häufig kritisiert wird. Oft erleben sie sich mit ihren Gefühlen als alleine gelassen, weil sie aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation nur begrenzt über ihre Emotionen mit Verwandten und Freunden sprechen können und da Fachleute eher selten das (ausschließliche) Gespräch mit ihnen suchen. So fühlen sie sich häufig einsam.
  • Eltern-Kind-Symbiose: Ein Elternteil konzentriert sich voll auf das behinderte bzw. chronisch kranke Kind. Der Partner und andere Kinder werden weitgehend ignoriert - was in manchen Fällen zu Gewissensbissen führt.
  • materielle Belastungen: Insbesondere wenn ein Elternteil die Erwerbstätigkeit aufgibt, können die hohen Kosten für Behandlungen des Kindes, für Hilfsmittel oder Fahrten zu Fachdiensten kaum noch tragbar sein. Dies gilt verstärkt für Alleinerziehende, die (halbtags) zu Hause bleiben wollen bzw. müssen. Oft ist ein Statusverlust die Folge (Umzug in eine preiswerte Wohnung, Kauf eines kleineren Autos, Verzicht auf Fernreisen usw.).
  • Konflikte mit Behörden, Krankenkassen und Fachdiensten: Dabei geht es z.B. um die "richtige" Pflegestufe, die Kostenübernahme für Behandlungen und Hilfsmittel oder unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der jeweiligen Behandlung bzw. Therapie. Häufig kommt es auch zu Verständigungsproblemen, da die Eltern relevante Fachbegriffe nicht verstehen und vielfach in den Diagnosen und Gutachten ihr Kind nicht wiederfinden.
  • Organisationsprobleme: Die Erwerbstätigkeit muss mit den vielen Untersuchungs- und Behandlungsterminen des Kindes vereinbart werden. Oft sind die Fahrwege zu Kindertageseinrichtungen, Heilpädagogischen Tagesstätten und Förderschulen sehr weit (wenn es keine Fahrdienste gibt), sodass den Eltern ein hoher Zeitaufwand entsteht. Auch Freizeitaktivitäten und Urlaubsreisen lassen sich schwieriger realisieren.

Je schwerer die Behinderung und je größer die Pflegebedürftigkeit des jeweiligen Kindes sind, umso mehr müssen sich die Eltern umstellen: Sie können ihr Kind nicht wie ein normales Baby behandeln, sondern müssen neue Formen des Umgangs suchen. Beispielsweise kann die Kommunikation dadurch beeinträchtigt werden, dass längere Krankenhausaufenthalte das frühe Kennenlernen von Eltern und Säugling behindert haben. Viele schwer behinderte Kinder können keinen Blickkontakt halten oder haben nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Oft beeinträchtigen Bewegungsstörungen Mimik und Gestik und lassen sie fremd erscheinen, sodass sie von ihren Eltern nicht widergespiegelt werden können. Da ihre Signale schlecht lesbar sind, weil sie nicht denjenigen von Gleichaltrigen entsprechen, erfahren die Kinder keine Rückmeldung und erzielen nicht die gewünschten Reaktionen bei ihren Eltern - beispielsweise in Hinblick auf ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Verständigungsprobleme sind auch unvermeidbar, wenn Kinder aufgrund ihrer Behinderungen nicht die Botschaften der Eltern wahrnehmen bzw. entschlüsseln können.

Geistig und mehrfach behinderte Kinder verhalten sich noch im Kleinkindalter wie Babys - und kommunizieren wie diese. Dies ist für Eltern und andere Erwachsene gewöhnungsbedürftig, weil bei Kleinkindern nicht mehr das "Kindchenschema" funktioniert bzw. auf sie nicht mehr so intuitiv wie auf Babys reagiert wird. So wirkt die Kommunikation mit ihnen unnatürlich und fremdartig. Häufig versteht die eine Seite die andere nicht, was den Beziehungsaufbau erschwert.

Aber auch Pflege, Ernährung, Betreuung und Erziehung unterscheiden sich bei vielen behinderten und chronisch kranken Kindern von der Regel. Hier müssen Eltern erst das für ihr Kind richtige Verhalten finden ("traditionslose Elternschaft") und sind dabei oft auf die Hilfe von Fachkräften in Krankenhäusern, Frühförderstellen oder psychosozialen Diensten angewiesen.

Förderliche und hemmende Faktoren

Inwieweit Eltern die mit ihrer besonderen Lebenssituation verbundenen Anforderungen und Belastungen bewältigen, hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gehören beispielsweise die subjektive Wahrnehmung der Behinderung bzw. Krankheit ihres Kindes, die innere Kraft und die Kontrollüberzeugungen der Eltern, ihre körperliche und psychische Belastbarkeit, ihre Problemlösefähigkeiten und ihr sozialer Status (Einkommen, Bildungsstand). Eine große Bedeutung kommt auch der Qualität der innerfamilialen Beziehungen und der Kommunikation miteinander, der Organisation des Zusammenlebens und dem Zusammenhalt zu. Schließlich spielt eine Rolle, in welchem Ausmaße die Familie Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld erfährt, also z.B. durch Verwandte, Freunde und professionelle Helfer.

So können Großeltern entweder emotionale, praktische und finanzielle Hilfe leisten oder Probleme verschärfen, indem sie beispielsweise das Enkelkind ablehnen, den Kontakt reduzieren oder einem Elternteil die Schuld für die Behinderung bzw. chronische Krankheit zuweisen. Viele Großeltern leiden gleich doppelt - mit ihrem Enkelkind und mit ihrem erwachsenen Kind. Sie machen sich Sorgen, ob ihre Tochter bzw. ihr Sohn mit den großen Anforderungen fertig wird und ob deren Paarbeziehung der Belastung standhält. Manchmal entwickeln sie auch Schuldgefühle, z.B. wenn die Krankheit bzw. Behinderung (unter Auslassung einer Generation) vererbt wurde. Wenn Großeltern praktische Hilfe leisten, geht dies oft auf ihre Kosten (z.B. wegen der körperlichen bzw. gesundheitlichen Belastung oder aufgrund des abnehmenden Kontakts zu Freunden, die häufig wenig Verständnis für ihr Verhalten zeigen). Aber auch Konflikte können entstehen, wenn sie sich in die Pflege und Erziehung ihres Enkels einmischen, die Eltern häufig kritisieren oder in eine Konkurrenzsituation mit dem anderen Großelternpaar geraten.

Ähnliches gilt für die Zusammenarbeit mit medizinischen, therapeutischen und psychosozialen Fachdiensten. Sie kann sich positiv auswirken, wenn die Eltern gründlich über die Behinderung bzw. chronische Krankheit ihres Kindes informiert werden, eine verlässliche Prognose erhalten, Verständnis für ihre psychischen Reaktionen und Mitgefühl erfahren und eine gute Anleitung im Umgang mit ihrem Kind erfahren. Die Eltern fühlen sich entlastet, wenn Fachleute die Förderung des Kindes übernehmen, mobile Dienste bei seiner Versorgung und Pflege helfen oder besondere Betreuungsangebote (z.B. Kurzzeitpflege) gemacht werden.

Problematisch wirkt sich hingegen aus, wenn Eltern zunächst die Behinderung bzw. Krankheit ihres Kindes verleugnen und nicht bzw. zu spät Ärzte und andere Fachleute konsultieren. Manche erwarten auch unrealistischerweise, dass die Behinderung "wegtherapiert" werden könnte. Da dies nicht gelingt, geraten sie mit den Fachdiensten in Konflikte oder suchen immer wieder neue Therapeuten auf. Manche Eltern empfinden die Kooperation mit Fachleuten auch als "fürsorgliche Belagerung", als Eingriff in ihre Privatsphäre und als Hinterfragen ihrer pflegerischen bzw. erzieherischen Tätigkeit. Oft kommt es zu Konflikten, wenn sie Ratschläge nicht annehmen wollen, weil sie andere Werte und Einstellungen haben.

Diese Problematik kann verstärkt auftreten, wenn die Eltern einer anderen Schicht oder (als Migranten) einer anderen Kultur angehören als die Fachleute. In diesen Fällen kann es außerdem zu Zugangsproblemen kommen, da die Eltern zu wenig Informationen über relevante Hilfsangebote haben, sich diese nicht aneignen können (z.B. mangels Sprachkenntnissen), dementsprechend ihre Rechte und die ihres Kindes nicht kennen, große Schwellenängste vor bzw. bei der Kontaktaufnahme mit Fachdiensten und Behörden haben, oft Kommunikationsprobleme im Umgang mit deren Mitarbeitern erleben und vielfach negative Vorerfahrungen mit Förderschulen und Heimen haben. Zudem sind bei ihnen häufig andere Probleme als die Behinderung vorrangig (z.B. Langzeitarbeitslosigkeit, Armut, Raumnot, mangelnde gesellschaftliche Integration, Bildungsferne, Alleinerzieherschaft, Suchtkrankheit). Aber auch Mittelschichtseltern erleben das sehr komplexe System von medizinischen, pädagogischen und psychosozialen Diensten, von Verwaltungen und Behörden als kaum durchschaubar und zu bürokratisch. Oft fühlen sie sich bevormundet.

Eine große Belastung für die Eltern kann aus der früher von den meisten und heute noch von vielen Fachdiensten ausgeübten Praxis resultieren, Eltern als "Hilfstherapeuten" bei der Behandlung ihres Kindes einzusetzen. Diese erhalten genaue Anweisungen, welche heilpädagogischen oder therapeutischen Übungen sie mit ihrem Kind zu Hause wie oft durchführen sollen (was oft dem o.g. "Machbarkeitswahn" der Eltern entgegenkommt), werden entsprechend trainiert, überwacht und kontrolliert. Auf der einen Seite entsteht hier ein Leistungsdruck, der es Eltern erschwert, eine "normale" Beziehung zu ihrem Kind einzugehen: Beispielsweise wird ihre Sicht verengt auf die behinderungsbedingten Beeinträchtigungen, müssen die Übungen oft dem Kind entgegen seiner jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse aufoktroyiert werden, sind seine "Leistungen" immer wieder an vorgegebenen Normen zu messen. Im Extremfall wird die ganze Familie zu einer "therapeutischen Gemeinschaft". Auf der anderen Seite wird den Eltern ein zu hohes Maß an Verantwortung für den Erfolg der Behandlung übertragen, wobei oft deren begrenzten Möglichkeiten ignoriert werden (z.B. Mangel an Zeit, physische und psychische Belastung, unzureichende Fähigkeiten, zu wenig Geduld). So ist manches Mal ihr Versagen vorprogrammiert. Die Fachleute können es sich hingegen leicht machen: Schlagen die Übungen nicht an, haben sich die Eltern als ihre "Vollzugsgehilfen" zu wenig engagiert - die Art der Therapie muss hingegen nicht hinterfragt werden. Dieser Schuldzuweisung entsprechen Schuldgefühle auf Seiten der Eltern, die ihre Beziehung zum Kind weiter belasten können.

Deshalb vertreten viele Fachleute (z.B. Krause 2002; Speck 1996; Weiß 1989) die Meinung, therapeutische Maßnahmen seien alleine Angelegenheit der Fachdienste. Die Eltern sollten nicht als Hilfstherapeuten, sondern als Erziehungspartner mit einem eigenen Verantwortungsbereich - der Familie - gesehen werden. Ihre Aufgaben seien in erster Linie die Herstellung einer Familienatmosphäre, in der sich das behinderte bzw. chronisch kranke Kind wohl fühlt, sowie dessen Pflege, Versorgung und Erziehung. Sie sollten also ganz "normale" Eltern sein, die spontan auf ihr Kind reagieren und es als einzigartiges Individuum behandeln. Sie seien für die Gesamtsituation und das "ganze" Kind verantwortlich, während sich die Spezialisten auf kleine Ausschnitte und Teilaspekte am Kind beschränken würden.

Positive und negative Folgen

Die Familienmitglieder können in der Regel selbst recht gut einschätzen, in welchem Ausmaße sie mit der Behinderung bzw. chronischen Erkrankung des jeweiligen Kindes zurechtkommen. Zumeist gelingt es ihnen besser, wenn sie über viele individuelle Stärken, familiale Ressourcen und soziale Unterstützungsangebote verfügen. Aber selbst wenn sie sich als erfolgreich erleben, müssen sie oft (zeitlich begrenzte) Rückschläge hinnehmen: Beispielsweise können neue Anforderungen und Belastungen bei Transitionen (z.B. Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung, Einschulung, Wechsel in die Förderschule, Pubertät, Fremdunterbringung) oder bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes auftreten.

Inzwischen ist empirisch gesichert, dass nahezu alle Familien trotz der zuvor skizzierten Probleme und Belastungen das Leben mit einem behinderten bzw. chronisch kranken Kind erfolgreich meistern. Viele Eltern erleben eine intensive positive Beziehung zu ihrem Kind, akzeptieren seine Fähigkeiten und Grenzen, räumen ihm einen passenden Platz in ihrer Familie ein und erziehen ihn angemessen. Eventuell vorhandene Geschwister fühlen sich nicht vernachlässigt oder überfordert, lieben ihren Bruder bzw. ihre Schwester und entwickeln sich normal. Oft berichten die Eltern auch von einer Stärkung ihrer Partnerschaft, bedingt durch das gemeinsame Bewältigen von Krisen und anderen Schwierigkeiten. Sie wachsen über sich hinaus und entdecken an sich bzw. dem Partner neue positive Eigenschaften und Stärken. Ihr Leben empfinden sie als sinnvoll und erfüllt, die Erfahrung mit einem behinderten Kind als persönlichen Gewinn.

Nur bei wenigen Eltern - überwiegend Müttern - treten psychische Probleme wie Anpassungsstörungen, Depressivität, Angst, Aggressionsneigung oder Burn-out auf. Dies ist häufiger der Fall bei Mehrfachbehinderung oder Verhaltensauffälligkeit des Kindes, bei fehlender sozialer Unterstützung oder Instabilität der Paarbeziehung. Auch gibt es nur in einem kleinen Teil der Familien Ehekonflikte, insbesondere wenn sich ein Partner voll auf das jeweilige Kind konzentriert hat und die Partnerschaft vernachlässigt, wenn der Ehegatte keine emotionale Unterstützung leistet oder wenn Vorwürfe und Schuldgefühle die Beziehung belasten. So ist die Trennungs- bzw. Scheidungsquote nur leicht erhöht.

Ferner erleben einige Eltern Erziehungsschwierigkeiten - beispielsweise wenn sie zu hohe Erwartungen an das behinderte bzw. chronisch kranke Kind stellen, seine Autonomiebestrebungen ignorieren, es verwöhnen und überbehüten oder zu permissiv sind. Bei Ablehnung des Kindes kommt es gelegentlich auch zu physischer und psychischer Vernachlässigung, zu Misshandlung oder sexuellem Missbrauch. Bei Erziehungsfehlern, problematischen Eltern-Kind-Beziehungen und Ehekonflikten entwickeln Kinder oft weitere Verhaltensauffälligkeiten - neben eventuellen behinderungsbedingten Verhaltensstörungen. Manchmal verläuft dann auch die Entwicklung von Geschwistern problematisch.

Erziehungspartnerschaft

Werden behinderte oder chronisch kranke Kinder in einer Tageseinrichtung betreut, sollten die Erzieher/innen nach einer Erziehungspartnerschaft mit ihren Eltern trachten - eine Forderung, die heute für die Zusammenarbeit mit allen Eltern gilt (Textor 2015). Der Begriff "Partnerschaft" impliziert ein gleichberechtigtes Verhältnis, in dem beide Seiten einander wertschätzen. Im Mittelpunkt der Beziehung steht das jeweilige Kind. Erzieher/innen und Eltern tauschen sich über seine Entwicklung, Erziehung und Förderung aus. Sie kooperieren miteinander und bringen dabei ihre besonderen Kenntnisse und Kompetenzen ein - die Fachkräfte als Spezialisten für Kleinkinderziehung und die Eltern als Spezialisten für ihr Kind. So verfügt jede Seite über ein unterschiedliches Wissen und Können; sie ist nur für ihren Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich verantwortlich. Angestrebt wird die wechselseitige Ergänzung der Bemühungen um das jeweilige Kind.

Prinzipiell sollten Erzieher/innen versuchen, beide Elternteile in die Erziehungspartnerschaft einzubeziehen. Wie weiter oben ausgeführt wurde, ist in vielen Familien mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind eine traditionelle Arbeitsteilung zu beobachten: Die Mutter ist weitgehend für die Versorgung, Betreuung, Erziehung und Förderung des Kindes zuständig, während der Vater eine Randposition einnimmt und sich oft inkompetent, unnütz und einsam fühlt. Dieses Ungleichgewicht in der Zuständigkeit für das jeweilige Kind kann nur aufgebrochen werden, wenn ganz bewusst beide Elternteile zu Termingesprächen und Veranstaltungen eingeladen werden. Schließlich sind Mutter und Vater gemeinsam für ihr Kind verantwortlich!

Hier wirkt sich die Feminisierung des gesamten früh-, schul- und heilpädagogischen bzw. therapeutischen Bereichs negativ aus: Den dort tätigen Frauen fällt es leichter, zu gleichgeschlechtlichen Personen eine Kommunikationsbasis herzustellen (also zu den Müttern). Zudem wird oft die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung ignoriert - oder die skizzierte Randposition der Väter in vielen Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern bzw. ihre (vermutete) erzieherische Inkompetenz wird als "normal" akzeptiert. Hier ist vielfach ein pessimistischer bzw. resignativer Unterton festzustellen: In der Elternarbeit wurden bisher kaum Väter erreicht und daran werde sich wohl auch wenig ändern. So entsteht ein Circulus vitiosus: Die Väter werden bzw. fühlen sich von den Erzieher/innen nicht angesprochen und kommen nicht zu den Entwicklungsgesprächen und Elternveranstaltungen, was wiederum die negativen Einstellungen der Fachkräfte bestätigt. Zugleich wird ein stärkeres Engagement der Väter bei der Erziehung und Förderung ihrer Kinder behindert - und damit schwinden die Gelegenheiten, in denen sich Väter erzieherische Kompetenzen aneignen können. Dieser Teufelskreis kann nur aufgebrochen werden, wenn die Väter bewusst in die Erziehungspartnerschaft einbezogen werden.

Schließlich muss noch bedacht werden, dass es sich bei der Beziehung zu Eltern mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind im Gegensatz zur Erziehungspartnerschaft mit Eltern nicht auffälliger Kinder um eine erweiterte Partnerschaft, um ein Dreiecksverhältnis handelt: Die dritte Seite wird hier von den Spezialisten gebildet, die z.B. in der Frühförderstelle das jeweilige Kind heilpädagogisch bzw. therapeutisch fördern und somit ebenfalls erzieherisch tätig werden. Leider ist es aus vielerlei Gründen - die hier nicht weiter ausgeführt werden können - zumeist nicht möglich, dass sich Eltern, Erzieher/innen und Fachleute regelmäßig (und sei es auch nur ein- oder zweimal pro Jahr) zu einem Gespräch treffen, um sich hinsichtlich der Erziehung und Förderung des jeweiligen Kindes abzusprechen. Sofern die Fachkräfte nicht als mobiler Dienst in die Kindertageseinrichtung kommen, sind die Erzieher/innen in der Regel auf die Informationen der Eltern über die jeweiligen Fördermaßnahmen und auf schriftliche Berichte angewiesen. Es sollte aber auch der telefonische Austausch mit den Psychologen, Therapeuten und Heilpädagogen gesucht werden. So kann erreicht werden, dass drei einander respektierende Systeme an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten und sich dabei ergänzen.

Entwicklungsgespräche

Der intensivste Austausch zwischen Erzieher/innen und Eltern über ein Kind erfolgt in den Entwicklungsgesprächen. Sie sollten mindestens zweimal im Jahr stattfinden - bei Kindern mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten ist sicherlich eine höhere Frequenz sinnvoll. Im Mittelpunkt der Gespräche steht der Austausch von Beobachtungen, wie sich das Kind in der Familie und in der Kindertageseinrichtung entwickelt. Hier fällt es Eltern und Erzieher/innen oft schwer, in ihren Augen zu geringe Fortschritte (oder gar Rückschritte) zu berichten (oder zu akzeptieren). Da hilft es auch nicht, wenn man zuvor viele positive Eigenschaften des Kindes aufzählt...

Gelegentlich erleben Eltern und Erzieher/innen das Kind in Teilaspekten unterschiedlich. In solchen Fällen sollte "Rechthaberei" vermieden werden - Familie und Kindertageseinrichtung sind zwei voneinander abgegrenzte Systeme mit verschiedenen Beziehungsdefinitionen, Rollen, Regeln, Werten, Erziehungsvorstellungen etc., und so ist es normal, wenn Kinder sich in ihnen anders verhalten. Möglicherweise ergeben sich aus der Analyse der Faktoren, die zu einem unterschiedlichen Verhalten führen, neue Perspektiven und Hinweise für einen erfolgversprechenderen Umgang mit dem Kind.

Einen weiteren Schwerpunkt bei Entwicklungsgesprächen bilden Erziehung und Förderung des behinderten bzw. chronisch kranken Kindes in Familie und Kindertageseinrichtung sowie damit verbundene Probleme. Dabei sollten die Anstrengungen, das Engagement und die Erfolge der jeweils anderen Seite gewürdigt werden. Wenn die eigenen Bemühungen nicht so viel gefruchtet haben wie erwartet, sind Eltern bzw. Erzieher/innen von sich selbst enttäuscht und erleben sich oft sogar als Versager. Dementsprechend haben sie Hemmungen, über ihre Misserfolge zu sprechen. Häufig rechnen sie auch mit Kritik, Vorwürfen und Schuldzuweisungen von der anderen Seite. In solchen Fällen müssen Eltern und Fachkräfte zum einen das beim Kind Machbare realistisch einschätzen, wobei ihnen die Gutachten und Prognosen der Spezialisten helfen sollten. Dann können sie oft auch kleinste Fortschritte würdigen und gewinnen daraus neue Motivation zum Weitermachen. Zum anderen müssen sie ihre eigenen Grenzen und die des Gegenübers akzeptieren - weder Erzieher/innen noch Eltern haben eine heilpädagogische oder therapeutische Ausbildung, unbegrenzt viel Zeit für die Erziehung und Förderung des Kindes oder ein Übermaß an Geduld und Opferbereitschaft. So gilt es, häufig auch die eigene Hilflosigkeit auszuhalten.

Erzieher/innen sollten also gegenüber den Eltern offen ansprechen, wenn sie nicht die angezielten Veränderungen vollständig erreicht haben oder gar Misserfolge zu verzeichnen haben. Als Professionelle müssen sie dann auch in der Lage sein, die Verärgerung der Eltern anzunehmen, ohne in Verteidigungsposition zu gehen oder gar mit einem Gegenangriff zu reagieren. Sie können sich damit trösten, dass es besser ist, wenn die Eltern ihren Ärger über unzureichende Fortschritte gegen sie als gegen sich selbst oder das Kind richten...

Eine gewisse Entlastung von dem auf ihnen lastenden Leistungsdruck ergibt sich für Erzieher/innen und Eltern aus der Tatsache, dass in den meisten Fällen Frühförderstellen und andere Fachdienste für die behinderungsspezifische Förderung des jeweiligen Kindes verantwortlich sind. Weder Eltern (s.o.) noch Erzieher/innen sind "Hilfstherapeuten" bzw. "Vollzugsgehilfen" der Spezialisten. Dementsprechend die Fachkräfte Eltern auch an medizinische, heilpädagogische und therapeutische Fachdienste verweisen, wenn bei den Entwicklungsgesprächen Besonderheiten der jeweiligen Behinderung bzw. chronischen Krankheit (z.B. zwanghafte Verhaltensweisen, Hyperaktivität, Trennungsangst, Ablehnung von körperlicher Nähe, geringer Blickkontakt, begrenzte Aufmerksamkeitsspanne, niedriges Aktivitätsniveau), der entsprechende Umgang mit dem Kind und spezifische Fördermöglichkeiten angesprochen werden. Sie sollten sich weitgehend auf das Beantworten von eher allgemeinen Fragen zur Entwicklung und Erziehung von Kleinkindern sowie entsprechende Hinweise beschränken. Beispielsweise können sie den Eltern raten, sich mehr auf die Stärken ihres Kindes zu konzentrieren (da bei behinderten Kindern oft die Defizite fokussiert werden), weil dies zu mehr Selbstvertrauen und Selbstständigkeit führen würde.

Elternberatung

In vielen Fällen werden Erzieher/innen Eltern behinderter bzw. chronisch kranker Kinder auch beraten müssen. So mag es sein, dass die Behinderung bzw. Krankheit erst während des Kita-Besuches diagnostiziert wurde. Wie weiter oben angeführt, kann es zuvor eine allmähliche Eskalation gegeben haben - Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten sind immer schwerwiegender geworden. Haben Erzieher/innen die Eltern auf diese Beeinträchtigungen aufmerksam gemacht, mag dies die Erziehungspartnerschaft belastet haben, wenn die Eltern solche Beobachtungen abgewehrt haben. Nun haben die Fachkräfte Recht bekommen, da Ärzte bzw. andere Spezialisten eine unumstößliche Diagnose gestellt haben. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass sich jetzt das Verhältnis zwischen Erzieher/innen und Eltern entspannt. In vielen Fällen werden Letztere aber nun offen für ein Beratungsgespräch sein.

Eine andere Situation entsteht bei einer akuten Krise - wenn plötzlich eine Behinderung oder chronische Krankheit diagnostiziert wird (s.o.). Dies mag ein in der Kindertageseinrichtung betreutes Kind oder ein gerade geborenes Geschwisterkind betreffen (z.B. nach einer Frühgeburt oder bei schwerwiegenden Geburtskomplikationen).

In all diesen Fällen werden Erzieher/innen mit dem Schock und den damit verbundenen starken Emotionen der Eltern konfrontiert (z.B. Schmerz, Trauer, Wut, Angst, Verunsicherung). Da sie den Eltern vertrauter sind als die weitgehend unbekannten und immer wieder wechselnden Ärzte, Psychologen und Krankenschwestern, öffnen sich die Eltern ihnen gegenüber mehr und verlieren auch eher die Beherrschung. Aber nicht nur für Gefühlsausbrüche gilt, dass die Erzieher/innen empathisch zuhören und auch die eigene emotionale Betroffenheit offen zeigen sollten. Die Eltern benötigen jetzt erst einmal eine Vertrauensperson, der sie ihr Herz ausschütten können.

Zu einem späteren Zeitpunkt können Erzieher/innen den Eltern helfen, den Trauerprozess weiter zu durchlaufen, die Behinderung bzw. Krankheit ihres Kindes anzunehmen und es so zu akzeptieren, wie es ist. Auch können sie mit ihnen über den Umgang mit dem Kind und die Alltagsgestaltung sprechen. Oft können Eltern Stresserfahrungen, Gefühle der Überforderung und Erschöpfung, die aus der Reduzierung bzw. Aufgabe der Erwerbstätigkeit resultierenden Schwierigkeiten, Organisationsprobleme sowie Konflikte mit Verwandten, Krankenkassen, Behörden oder Fachdiensten (s.o.) leichter gegenüber den Erzieher/innen ansprechen als gegenüber anderen Fachleuten. Da es nicht Aufgabe der Erzieher/innen ist, hier zu helfen, reicht es aus, empathisch zuzuhören und Verständnis zu zeigen. Hingegen müssen sie bei kindbezogenen Themen beratend tätig werden, also z.B. wenn Eltern fragen, wie sie ihrem Kind helfen können, mit behinderungsbedingten Frustrationen und Minderwertigkeitsgefühlen, mit Spott und anderen Diskriminierungserfahrungen umzugehen.

Bei späteren Beratungsgesprächen können problematische Erziehungsstile angesprochen werden, die in vielen Familien mit behinderten bzw. chronisch kranken Kindern zu beobachten sind (s.o.): Wächst das Kind beispielsweise in einem Schonraum auf, in dem ihm alles abgenommen wird, könnte den Eltern empfohlen werden, mehr Anforderungen an ihr Kind zu stellen: Beispielsweise könnten behinderte Kinder Pflichten im Haushalt übernehmen. Auch Frustrationserlebnisse könnten sie zu neuen Leistungen anstacheln und selbstständiger werden lassen (wenn z.B. ein körperbehindertes Kind etwas erreichen will, was ihm bisher immer die Mutter geholt hat, und so einen geschickteren Umgang mit dem Rollstuhl lernt).

Da bei manchen behinderten bzw. chronisch kranken Kindern Verhaltensauffälligkeiten auftreten, muss in den Beratungsgesprächen auch über solche Probleme gesprochen werden. Erzieher/innen und Eltern können gemeinsam nach den Ursachen suchen - und nach erzieherischen "Gegenmaßnahmen". Auch hier ist die Erfolgswahrscheinlichkeit größer, wenn beide Seiten ihre Reaktionen aufeinander abstimmen und dann beim Auftreten der Auffälligkeiten an einem Strang ziehen.

Bei starken, nicht beeinflussbaren Verhaltensstörungen des Kindes, bei psychischen Problemen der Eltern und bei Partnerschaftskonflikten, die sich aus der besonderen Lebenssituation dieser Familien ergeben (s.o.), sind Erzieher/innen nicht mehr zuständig. Dann müssen sie die Eltern entweder an die Fachdienste oder an Beratungsstellen und Psychotherapeuten verweisen.

Literatur

Hackenberg, W.: Geschwister von Menschen mit Behinderung. Entwicklung, Risiken, Chancen. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2008

Krause, M.P.: Gesprächspsychotherapie und Beratung mit Eltern behinderter Kinder. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2002

Speck, O.: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag, 3. Aufl. 1996

Strobel, B.U.M.: Heilpädagogik für ErzieherInnen. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2005

Textor, M.R.: Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen. Norderstedt: Books on Demand, 2. Aufl. 2015

Thurmair, M./Naggl, M.: Praxis der Frühförderung. Einführung in ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2000

Weiß, H.: Familie und Frühförderung. Analysen und Perspektiven der Zusammenarbeit mit Eltern entwicklungsgefährdeter Kinder. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1989

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de