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Zitiervorschlag

Aus: Entdeckungskiste 1999, Heft 5, S. 76-77 (mit Genehmigung des Kindergarten-Fachverlages, St. Ingbert)

Elternarbeit mit Ausländern und Aussiedlern

Martin R. Textor

 

Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde 1999 verfasst. Er bezieht sich somit in erster Linie auf die "Gastarbeiter" und Aussiedler, die ab den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, und auf deren Familien. Begriffe wie "Migrant/innen" oder "Familien mit Migrationshintergrund" wurden damals noch nicht verwendet.

Die Vielzahl heutiger Familienwirklichkeiten fordert von Erzieher/innen die Bereitschaft, sich mit der individuellen Situation einer jeden Kindergartenfamilie auseinander zu setzen. Dies gilt insbesondere für Ausländer- und Aussiedlerfamilien, da hier Kinder ganz andere Sozialisationsbedingungen vorfinden und mit besonderen Problemen konfrontiert werden (z.B. mangelnde Integration, Ablehnung, Sprachprobleme, Vorurteile). Die Analyse der Lebenssituation von Ausländer- und Aussiedlerfamilien ist aber sehr aufwendig, da beispielsweise

  • sich diese je nach Herkunftsland (und -schicht!) stark unterscheiden,
  • die derzeitige Lebenslage oft nur verstanden werden kann, wenn die Erzieherin auch diejenige im jeweiligen Herkunftsland kennt,
  • Vieles sehr fremd und unverständlich ist (von der Religion über Gebräuche bis hin zu Geschlechtsrollenleitbildern und Erziehungsstilen) sowie
  • Verständigungsschwierigkeiten oft keine tiefergehenden Gespräche zulassen.

Jedoch lohnt sich der Aufwand: Zum einen versteht die Erzieherin das jeweilige Kind, seine Bedürfnisse und sein Verhalten besser. Zum anderen entwickelt sie mehr Verständnis für seine Eltern und deren Lebenssituation. Beispielsweise wird nicht länger die geringe Teilnahme ausländischer Eltern an Aktivitäten des Kindergartens als Desinteresse eingestuft, sondern vielmehr als Reaktion auf Erfahrungen der Ablehnung und Diskriminierung oder als durch Verständigungsschwierigkeiten bedingt verstanden. Auch fühlen sich viele Ausländer bei Elternabenden und vergleichbaren Angeboten durch die sprachgewandten deutschen (Mittelschichts-)Eltern dominiert und eingeschüchtert (Minderwertigkeitsgefühle), so dass sie diesen Veranstaltungen fernbleiben. Schließlich gewinnt die Erzieherin bei der Analyse der fremden Kultur viele Ideen für die interkulturelle Erziehung, die nicht nur Abwechslung in den Kindergartenalltag bringt, sondern die Kinder auch auf das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft, im vereinten Europa und in einer immer kleiner werdenden Welt vorbereitet.

Die Voraussetzung hierfür ist, dass seitens der Kindertageseinrichtung langfristig ein Vertrauensverhältnis zu den Ausländer- und Aussiedlerfamilien aufgebaut wird. Es erweist sich als besonders wichtig, nicht bei den Defiziten dieser Familien anzusetzen, sondern nach ihren Fähigkeiten zu schauen und ihnen zu helfen, ein Gefühl der Sicherheit als Basis für die Kommunikation mit anderen Eltern und den Mitarbeiter/innen des Kindergartens zu entwickeln. Hier ist das Einzelgespräch mit der Erzieherin - einschließlich des Tür- und Angel-Gesprächs - von besonderer Bedeutung, da auf solche Weise am besten das Vertrauen der Eltern gewonnen werden kann. In der Regel gibt es viele Gelegenheiten, wo z.B. erfreuliche Vorkommnisse oder Fortschritte in der Entwicklung des jeweiligen Kindes erwähnt werden können, so dass die Eltern erfahren, dass ihr Kind - und damit sie selbst - positiv wahrgenommen werden.

Zugleich sollte in der Kindertagesstätte ein Klima aufgebaut werden, das dem Kind und seinen Eltern vermittelt, dass sie angenommen werden und Interesse an ihnen und ihrer Herkunft besteht. Gerade die Einbeziehung der Eltern in den Kindergartenalltag bietet hier vielerlei Möglichkeiten wie beispielsweise:

  • Eltern studieren mit der Kindergruppe einen ausländischen Tanz ein,
  • kochen mit oder für die Kinder eine Spezialität aus ihrem Herkunftsland,
  • singen ein fremdsprachiges Kinderlied,
  • stellen für ihr Herkunftsland typische Instrumente vor,
  • präsentieren Bilder aus der Heimat und erklären den Kindern fremdartige Baustile, Sitten, Feste und Feiern,
  • lehren den Kindern fremdsprachige Abzählverse, Lieder und Gedichte oder
  • erzählen ein Märchen aus ihrem Herkunftsland.

Auch kann es beim traditionellen Sommerfest anstatt der üblichen Würstchen Kebap, Pizza und Suflaki geben, können Spiele aus aller Welt angeboten werden.

Der kontinuierliche Kontakt zwischen Erzieherin und Eltern und das Einbeziehen der Eltern in den Kindergartenalltag sind gerade bei Kindern aus ausländischen Familien sehr wichtig. Nur auf diese Weise kann nämlich erreicht werden, dass die Eltern auch das pädagogische Konzept, die Erziehungsziele und -methoden der Fachkräfte akzeptieren - die Kindertagesbetreuung im jeweiligen Herkunftsland mag ganz anders gewesen sein als jetzt hier in Deutschland. Zugleich sind aber auch die Werte, die religiösen Vorstellungen, der Erziehungsstil und das Verhalten der ausländischen Eltern zu tolerieren - schließlich soll das jeweilige Kind nicht aus seinem gewohnten sozialen Umfeld "herausgefördert" werden. Dies verlangt der Erzieherin Einfühlungsvermögen und viele Kommunikationsfertigkeiten ab. So werden Erziehung und Elternarbeit zu einem Balanceakt zwischen verschiedenen Kulturen.

Trotz aller Sprachprobleme sollten nach Möglichkeit Termingespräche mit ausländischen Eltern geführt werden - unter Umständen auch unter Einsatz eines Dolmetschers (z.B. einer "Kindergartenmutter" aus dem jeweiligen Land, die schon länger in Deutschland lebt). In diesen Gesprächen sollte es zum einen um das Kind, seine Entwicklung und sein Verhalten, seine Integration und seine Probleme gehen. Hier gilt es, den Eltern vor allem die Notwendigkeit eines regelmäßigen Kindergartenbesuchs und der Sprachförderung zu verdeutlichen. Nur wenn das Kind jeden Tag in die Kindertagesstätte kommt, wenn die Eltern eine positive Grundhaltung gegenüber der deutschen Sprache vermitteln und dem Kind auch privat den Kontakt zu deutschen Kindern ermöglichen, wird dieses die deutsche Sprache gut lernen - eine der wichtigsten Voraussetzungen für den späteren Schulerfolg. Zum anderen kann über die Lebenssituation der Eltern, ihre Kultur, ihre Erziehungsfragen und Probleme gesprochen werden. Oftmals kann die Erzieherin weiterhelfen und z.B. auf Sprachkurse der Volkshochschulen (oft mit paralleler Kinderbetreuung, häufig auch als reines Angebot für Frauen) verweisen oder den Kontakt zu einer Beratungsstelle für Ausländer bzw. Aussiedler, zum Sozialamt, zur Frühförder- oder Erziehungsberatungsstelle vermitteln.

Zweisprachige Elternabende, Gesprächskreise von Aussiedlereltern oder Treffs für ausländische Eltern ermöglichen es, zu einem bestimmten Teil der ausländischen Eltern Kontakt aufzunehmen. In diesen Gruppen können durch spezielle thematische Angebote, aber auch durch gemeinsame Unternehmungen Kontakte aufgebaut und Hilfen vermittelt werden. Solche Angebote, die von den Eltern selbst organisiert und durchgeführt werden können, müssen die besondere Situation und die Bedürfnisse der jeweiligen Elterngruppe aufgreifen. Diese können in einer Gruppe von "Gleichgesinnten" über Erfahrungen und Probleme reden und so eventuell aus der eigenen Isolation heraustreten. Bei derartigen Gesprächskreisen sollte die Kinderbetreuung sichergestellt werden - auch von Säuglingen und Kleinkindern, die nicht die Kindertageseinrichtung besuchen. Außerdem muss manchmal den Ehemännern gegenüber verdeutlicht werden, dass sich hier nur Mütter treffen.

Nach einem derartigen Angebot - sowie nach den zuvor erwähnten Einzelgesprächen und der Einbeziehung in den Gruppenalltag - können Ausländer und Aussiedler leichter in andere Angebote für Eltern seitens der Kindertageseinrichtung integriert werden. Bei der Jahresplanung der Elternarbeit ist jedoch unbedingt auf ein breit gefächertes Angebot zu achten: Oftmals werden die ausländischen Eltern nämlich eher zu Familienwanderungen, Eltern-Kind-Nachmittagen, Bastelangeboten, einem Gartenprojekt für Eltern und Kinder sowie gemeinsamen Festen und Feiern kommen als zu einem Elternabend. Nur durch die Vielfalt der Angebote ist es somit möglich, den vielfältigen Familienwirklichkeiten deutscher und ausländischer Eltern entgegenzukommen.

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de