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Zitiervorschlag

Aus: news aus jugendhilfe und sozialarbeit. GEW-Landesverband NRW, 11/2005, S. 5

Gleichung mit Unbekannten: KITA = Familienzentrum = frühe Förderung?


Wie wandelt sich eine KITA zum "Familienzentrum", wie es die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen in jeder Kommune einrichten will? Wir sprachen mit Ulrich Braun, Diplom-Pädagoge, Fachberater für Tageseinrichtungen für Kinder und stellv. Abteilungsleiter im Fachbereich Kinder, Jugend und Familie der Stadt Recklinghausen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist Qualitätsmanagement in Tageseinrichtungen für Kinder.

news: Familienminister Laschet will Kitas in Familienzentren umwandeln und die Hilfen für Familien zusammenführen. An welche Familien soll sich dieses Angebot richten?

Braun: Aus meiner Sicht an alle. Wichtig ist, dass das Förderangebot nicht nur als Benachteiligtenunterstützung angesehen und angelegt wird, wie es der Ursprung der als Vorbild herangezogenen englischen "Early excellence centres" ist. Außerdem sollte es KINDER- und Familienzentrum heißen, denn diese Zentren sollen für Kinder und ihre Familien da sein.

news: Familienzentren sollen nicht zuletzt die frühkindliche Bildung verbessern. Wie lang wird es dauern, bis man die ersten Erfolge sieht?

Braun: Lange. Es ist schon als Erfolg anzusehen, wenn sich Bedingungen in benachteiligten Stadtteilen nicht weiter verschlechtern. Wir müssen die Platzzahlen und die Qualität von Kitas weiter verbessern, wenn wir die gesellschaftliche Aufgabe, Kinder ab der Geburt zu fördern, wirklich ernst nehmen. Die Hirnforschung unterstreicht, wie wichtig die Phase von 0 bis 3 für das Lernen ist. Und PISA 2 konnte einen ersten Zusammenhang herstellen zwischen dem Besuch eines Kindergartens und späteren Schulerfolgen. Um wie viel mehr hätten vor allem benachteiligte Kinder mehr Chancen, wenn ihnen mehr frühe Förderung zugänglich wäre. Wir müssen die Familien aus ihrer Vereinzelung herausholen und Eltern so früh wie möglich unterstützen, ihren eigenen guten Weg mit ihren Kindern zu finden, der zu ihren persönlichen Voraussetzungen passt und den Bedürfnissen und Begabungen der Kinder gerecht wird.

news: Wie könnte das praktisch aussehen?

Braun: Ideal wäre es, wenn bereits Schwangere zum Geburtsvorbereitungskurs in ihr Familienzentrum eingeladen würden. Oder PEKiP, sonst ein klassisches Mittelschichtprogramm für Neugeborene, könnte in der Kita stattfinden. Man kann auch Sportkurse, z.B. Gymnastik für türkische Frauen, die niemals ein Angebot im Sportverein annehmen würden, im Kindergarten abhalten. So lernen Eltern und Erzieherinnen sich besser kennen. Die Eltern haben das Gefühl, dass sie einfach mal vorbeischauen und ein Schwätzchen halten können, in dem es nicht gleich um Probleme gehen muss. Dieser persönliche Kontakt kann gegenseitiges Vertrauen herstellen und die Ängste vor Hilfsangeboten nehmen.

news: Wird da nicht etwas auf Erzieherinnen abgewälzt, was den Rahmen ihrer Aufgaben eigentlich sprengt?

Braun: Das sehen eigentlich die Wenigsten so. Die Familien früher zu erreichen, Übergänge zu erleichtern und mit Eltern und anderen Institutionen der Jugendhilfe oder der Schule enger zusammen zu arbeiten, um Kinder besser zu fördern, das möchten viele engagierte Kräfte - und vieles tun sie ja bereits! Außerdem geht es hier ja um Vernetzung von Ressourcen und um Synergieeffekte und überhaupt nicht darum, dass Erzieherinnen noch wieder mehr tun sollen! Natürlich geht das nicht ohne Fortbildung. Denn bisher bereitet die Ausbildung der Erzieherinnen nicht genug auf diese Aufgaben vor.

news: So wie es aussieht, ist nicht zu erwarten, dass für die Umwandlung der Kitas zusätzliche Finanzen zur Verfügung gestellt werden. Kann das funktionieren?

Braun: Das ausgezeichnete Konzept "Mo.Ki" in Monheim zeigt, dass die Mehrkosten für die Vernetzung von Familiendienstleistungen im Stadtteil nicht hoch sein müssen. Sicherlich sind aber in jeder Kita Leitungsstunden für Vernetzung erforderlich, also mindestens eine "anteilige Freistellung" jeder Leitung. Das könnte aber mit dem Ausbau für Kinder unter drei Jahren gekoppelt werden. Es ist auf jeden Fall nicht möglich, von Leitungen, die ohne jede Freistellung eine Kindertageseinrichtung mit 75 Kindern leiten müssen, noch zu verlangen, dass sie jetzt zu "Netzwerkmanagerinnen" werden, die Dienste in der Kita vernetzen oder Tagesmütter vermitteln.

news: Wie groß ist der Aufwand auf dem Weg zum Familienzentrum?

Braun: In jeder Kommune soll sich jede dritte Kita nach den Vorstellungen des Familienministers zu einem Familienzentrum entwickeln. Noch ist nicht geklärt, ob ein Familienzentrum, wie es sich das Land vorstellt, wirklich alle Hilfen unter seinem Dach vereint, oder ob die Erzieher/innen nicht eher eine Lotsenfunktion ausüben sollen, das heißt, Eltern bei Bedarf an die verschiedenen Hilfsangebote zu vermitteln. Damit könnte man die klassische Versäulung in der Jugendhilfe verändern, Netzwerke bilden und die Angebote in einer Kommune zusammenführen, die sonst nebeneinander laufen, damit man mehr Familien erreicht und auch die Helfer miteinander ins Gespräch kommen.

news: Wann geht es denn los mit Kinder- und Familienzentren?

Braun: Jede Kindertageseinrichtung ist heute schon ein (klitze-) kleines Kinder- und Familienzentrum. Betrachtet man sie alle zusammen, zeigt sich ein buntes Netz an Familiendienstleistungen, von Beratung von Eltern, Zusammenarbeit mit Beratungsstellen bis hin zu manchem anderen Familienbildungsangebot. Es muss also nichts begonnen werden, sondern niedrigschwellige und wohnbereichsnahe Unterstützungsnetze für Familien müssen weiter ausgebaut werden. Wie schnell und wie gut das gelingt, wird sicherlich viel vom Engagement von Jugendämtern abhängen. Sie können solche Unterstützungsnetze schnell und effektiv schaffen.

Beispiele

Projekt "Kind und Ko" der Bertelsmann-Stiftung: www.kinder-frueher-foerdern.de

Projekt "Mo.Ki" Monheim": www.monheim.de

"Blaue Elefanten" des Kinderschutzbundes Essen: www.kinderschutzbund-essen.de

Familie und Nachbarschaft (FUN): www.praepaed.de