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Zitiervorschlag

In: Kita aktuell NRW, 02/2006, S. 31-34.

Die Zukunft der Kitas sind Familienzentren!

Ulrich Braun

 

Die neue Landesregierung in NRW hat sich zum Ziel gesetzt, im Kindergartenjahr 2006/2007 in jedem Jugendamtsbezirk Nordrhein-Westfalens eine Kindertageseinrichtung zu einem Familienzentrum weiterzuentwickeln und mittelfristig jede dritte Kindertageseinrichtung zu einem Familienzentrum auszugestalten.

Aufgaben sollen über "Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern" und "vorschulische Sprachförderung" hinaus z.B. die Vermittlung von Tagesmüttern und Tagesvätern und die Unterstützung der Familien durch intensivere Zusammenarbeit in oder außerhalb der Kindertageseinrichtungen sein - mit Angeboten der Familienhilfe wie Familienberatung, Familienbildung, ASD und Familienpflegedienste. Angekündigt ist ein Wettbewerb, der "best practice"-Beispiele herausstellen und fördern möchte.

Bei einem "Familienzentrum" hat man zunächst eine "institutionelle" Vorstellung eines "Hauses für Familien", das unter seinem Dach verschiedenen Dienstleistungen vereinigt. Hätte man eine andere Vorstellung, müsste man eine andere Begrifflichkeit wählen, z.B. den Begriff eines "Familiennetzwerkes".

Die Programmatik "Kindertageseinrichtungen zu einem Familienzentrum weiterzuentwickeln" suggeriert zudem, dass etwas Neues entstehen soll, das es bisher noch nicht gab. Aber stimmt diese Annahme?

Jede Kindertageseinrichtung ist ein (klitze-) kleines "Kinder- und Familienzentrum"

Jede Kindertageseinrichtung nimmt bereits heute Aufgaben wahr, die konstituierend für ein "Familienzentrum" sind. Von der Annahme ausgehend, dass "Familien Unterstützung erfahren sollen", finden sich in jeder Kindertageseinrichtung

  • Elemente einer "Zusammenarbeit mit Familien" - wie z.B. Elterngespräche, Elternberatung, Familienfeste, Väterarbeit,
  • Elemente der Zusammenarbeit mit Institutionen - wie z.B. Frühförderung, Psychologische Beratungsstelle, Therapeuten, Soziale Dienste, Kinderärzte,
  • Elemente der Sprachförderung - wie z.B. im Zusammenhang mit Spracherwerb und Zweitspracherwerb oder der Zusammenarbeit mit Logopäden.

Nicht alle Kindertageseinrichtungen repräsentieren diese Elemente vollständig, aber es ist zumindest anzunehmen, dass so gut wie alle Kindertageseinrichtungen einen Mindeststandard an "Zusammenarbeit mit Familien" gewährleisten. Darüber hinaus gibt es auch heute schon ein buntes Netz an unterstützenden Familiendienstleistungen, die weit über den Mindeststandard hinausgehen.

Ein Beispiel für ein buntes Netz an unterstützenden Familiendienstleistungen

Am Beispiel der städtischen Tageseinrichtungen für Kinder in Recklinghausen soll ein solches Netz vorgestellt werden. Jede Trägergruppe oder Kommune könnte für sich gleichermaßen eine ähnliche Zusammenstellung machen.

In Recklinghausen betreibt jede Kindertageseinrichtung (trägerübergreifend) mit mehr als 30% Kinder mit Migrationshintergrund systematisch "vorschulische Sprachförderung", wie es die Vorstellungen der Landesregierung für "Familienzentren" vorsehen. Sehr viele Mütter werden durch das "Rucksack"-Programm erreicht, einem Familienbildungsangebot für Mütter und Väter zur Sprachförderung in der Erstsprache und zur Auseinandersetzung mit pädagogischen und psychologischen Fragestellungen in der Begleitung des Aufwachsens ihrer Kinder.

"PEKiP"-Gruppen (Förderung von Kindern im 1. Lebensjahr) und Mutter-Kind-Spielgruppen werden unter dem Dach von Kindertageseinrichtungen angeboten.

Ein Bewegungsangebot für türkische Mütter (und Erzieherinnen) findet regelmäßig am frühen Abend in einer Kindertageseinrichtung statt - in einen Sportverein würden türkische Mütter niemals gehen.

In einer anderen Kindertageseinrichtung gibt es eine Kleiderbörse. Praktisch heißt das, dass Eltern Kleidung ihrer Kinder, die sie nicht mehr benötigen, in einer speziellen Ecke der Einrichtung anderen Eltern kostenlos zur Verfügung stellen. Sie selbst können dann wieder schauen, ob andere Eltern etwas "ausrangiert" haben, dass sie selber noch brauchen können. Das Ganze wird nicht gegeneinander aufgerechnet, so dass es gleichzeitig eine stille Unterstützung von Familien in Notlagen ist.

Jede Kindertageseinrichtung arbeitet eng mit der Psychologischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien zusammen. Alle Leitungen befinden sich in Ausbildung, um "Elternkurse" anbieten zu können, die bisher noch von Mitarbeiterinnen der Psychologischen Beratungsstelle oder vom Dt. Kinderschutzbund ("Starke Eltern, starke Kinder") angeboten werden. Künftig können - in der Regel von der Gruppenarbeit freigestellte - Leitungen solche Angebote selbst durchführen. Das verhindert Wartezeiten und die Begrenzung auf vereinzelte Angebote.

Das "Familie- und Nachbarschaft (FuN)"-Familienprojekt wird künftig in Kindertageseinrichtungen angeboten, ebenso wie eigens konzipierte Familienberatungsangebote wie "Elternführerschein" oder "MachMit", ein Angebot für deutsche Mütter, entstanden aus der Anfrage, ob es so etwas wie "Rucksack" nicht auch für deutsche Mütter geben kann.

Gesundheitsangebote für Eltern und Kinder findet man in einer Kneipp-zertifizierten Kita.

In einer musikbegeisterten Kita dürfen auch alle Kinder, die längst der Einrichtung entwachsen sind, weiter mitsingen. Für die Organisation und die Veröffentlichung der aufgenommenen CD sorgen die Eltern.

Jede Kindertageseinrichtung kennt den zuständigen Ansprechpartner im Sozialen Dienst des Jugendamtes, und es gibt einen regelmäßigen Austausch.

Jede Kindertageseinrichtung bietet Eltern vor den Untersuchungen U 8 und U 9 beim Kinderarzt Gespräche und Entwicklungsdokumentationen an.

Präventive Maßnahmen wie ein gesundes Frühstück oder die Anwendung des "Bielefelder Screenings" zur Vermeidung der Ausbildung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche einschließlich des Würzburger Trainingsprogramms "Hören, Lauschen, Lernen" kommen standardisiert zur Anwendung.

Eine solche - beliebige - Aufzählung unterstreicht die These, dass alle Kindertageseinrichtungen bereits Teil eines Netzwerkes von "Kinder- und Familienzentren" sind.

Im Gegensatz zur häufig diskutierten Position, dass "Kinder- und Familienzentren" besonders geeignet sind für einen Zugang zu benachteiligten Familien, wird in einer solchen Aufzählung deutlich, dass eine kinder- und familienfreundliche Stadt jede Familie, unabhängig von ihrer individuellen Lage wohnbereichsnah, niedrigschwellig und vielfältig unterstützen kann und auch sollte. Eine kinder- und familienfreundliche Stadt muss davon ausgehen, dass die komplexen Lebenslagen von Familien in allen Bildungsschichten zu Problemlagen führen können und damit auch zu Benachteiligungen von Kindern.

Deshalb ist das Bild eines durch die Jugendhilfeplanung gesteuerten bunten Teppichs von wohnbereichsnahen, niedrigschwelligen und vielfältig vernetzten Dienstleistungen für Kinder und Familien hilfreicher als das eines einzigen modellhaften Familienzentrums. Mit diesem Bild bekommen auch die Kindertageseinrichtungen ein wenig Entlastung, denn sie sind Teil eines Teppichs und nicht als Familienzentrum alleiniger Anlaufpunkt für Familien. Und es entsteht nicht eine Konkurrenzsituation von ausgewählten Kinder- und Familienzentren und anderen Kindertageseinrichtungen, die im Wettkampf um den Status (und die eventuellen Förderung) von Kinder- und Familienzentren verloren haben.

Wenn jede Kindertageseinrichtung schon ein wenig ein Kinder- und Familienzentrum ist, ist dann überhaupt etwas zu tun? Ja!

Die Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu professionellen wohnbereichsnahen, niedrigschwelligen Kinder- und Familienzentren ist dringend erforderlich!

Die bereits vorhandenen klitzekleinen Kinder- und Familienzentren müssen professionell weiterentwickelt werden. Der bereits gewebte Teppich ist noch löchrig, eher angefangen als fast fertig. Vor allem die Erkennungsmerkmale "niedrigschwellig" und "wohnbereichsnah" kommen in Kindertageseinrichtungen für Familien noch zu wenig zum Tragen.

Kitas sind der beste Ort für ein niedrigschwelliges und wohnbereichsnahes Angebot für Familien

So manche Familie kennen Mitarbeiter/innen seit vielen Jahren, denn manche Mitarbeiterin ist schon seit Jahrzehnten in der Einrichtung tätig. Manche ehemalige Kinder sind schon wieder selber Mütter. Zumeist sind Schwierigkeiten in Familien schon vorhanden, wenn die Kinder neu in die Einrichtung kommen, und meist wissen die Erzieher/innen darüber Bescheid.

Die Tageseinrichtung für Kinder ist bestens geeignet, auf Familien zuzugehen und Hilfen anzubieten. Die Schwierigkeiten und Probleme, die Eltern mitbringen, werden am ehesten einer Erzieherin im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die Kinder in der Einrichtung haben, mitgeteilt. Hier kann frühzeitig und niederschwellig, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme der Fachlichkeit einer Beratungsstelle oder des Jugendamtes, einer jungen Familie Unterstützung angeboten werden. Damit wird die Tageseinrichtung für Kinder ein "Frühwarnsystem".

Aber nur "warnen" ist auf Dauer zu wenig - eine präventive Unterstützung sollte das Ziel sein. Dies wird Effekte haben, denn Längsschnittstudien weisen nach, dass frühe Förderungs- und Präventionsprogramme in der Lage sind, die Wirkungsketten zwischen frühkindlichen Störungen und späteren Problematiken effektiv zu durchbrechen. Richtig konzipierte Präventionsprogramme im Vorschulalter können z.B. dazu beitragen, bei bestimmten Hochrisikogruppen die Delinquenz im Jugendalter um die Hälfte zu senken. Musterberechnungen belegen darüber hinaus, dass frühe Interventionen im Kostenvergleich wesentlich kostengünstiger sind als spätere Maßnahmen im Jugendalter.

Solche präventive Konzepte können in überschaubaren Sozialräumen besonders effektiv umgesetzt werden. Tageseinrichtungen sind dabei von zentraler Bedeutung. Zumeist beginnt mit dem Besuch einer Tageseinrichtung für junge Familien die institutionelle Biographie: Hier ist erstmalig kontinuierlich ein Einblick in ihre Familienkultur möglich und hier können Angebote im Stadtteil, die für junge Familien von Bedeutung sind, vermittelt werden.

Für junge Familien wäre es hilfreich, wenn sie von Beginn einer Schwangerschaft an Angebote wie Geburtsvorbereitung, Mutter-Kind-Kurse, Kinderbetreuung, Tageseinrichtung für Kinder, Beratung in Erziehungsfragen u.a.m. an einem Ort vorfänden. Viele Eltern besitzen nicht die erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen, um die breite Vielfalt von Unterstützungsangeboten für Familien an verschiedenen Orten in Anspruch nehmen zu können. Das Fehlen der Sprache, die fehlende Kenntnis über mögliche Angebote, weite Fahrten mit dem Bus, das nicht vorhandene Wissen über die Bedeutung des frühen Lernens u.a.m. sind Hindernisse, die z.B. die Teilnahme an einem Mutter-Kind-Kurs verhindern können.

Die Ressource "Raum" ist flächendeckend als Immobilie "Tageseinrichtung für Kinder" vorhanden. Wenngleich nicht in jedem Einzelfall, so sind die Räume doch grundsätzlich geeignet, die Tageseinrichtung zu einem Ort der Begegnung mit jungen Familien im Sozialraum zu machen. So können Tageseinrichtungen z.B. Räume für gemeinsames Essen, zum Treffen und Feiern, für Beratung, Begegnung, Austausch und Weiterbildung zur Verfügung stellen.

Die Unterstützung junger Eltern durch wohnbereichsnahe, konzeptionell zusammengeführte Angebote an einem Ort würde die Möglichkeiten für Eltern, Angebote in Anspruch zu nehmen, erheblich erweitern. In der Folge wird dies zu einem enormen Kompetenzgewinn dieser Eltern in der Begleitung des Aufwachsens und Erziehens ihrer Kinder führen.

Welche strukturellen Bedingungen sind wesentliche Voraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes Familiennetzwerk im Stadtteil?

Jede Kindertageseinrichtung wird in einem Familiennetzwerk eigene Konzepte zur Unterstützung ihrer Familien und für Familien über ihre Kindertagesstätte hinaus vorhalten. Diese "Netzwerkarbeit" erfordert ein Zeitkontingent für "Netzwerkmanagement". Traditionell wird von "Sozialraumorientierung" mit Beteiligung an Stadtteilkonferenzen etc. gesprochen. Dies geht nur mit Freistellung(-sstunden) für jede Leitungstätigkeit. Es ist bereits jetzt unzumutbar, dass Leitungen von Kindertageseinrichtungen mit bis zu 75 Kindern und Eltern ihre Kinder- und Familienarbeit ohne jede Freistellung leisten. Gleichzeitig ist das Personal schon vor Jahren so verknappt worden, das keine impliziten Freistellungsressourcen (Entlastung durch Ergänzungskraftstunden) mehr vorhanden sind.

Das ausgezeichnete preisgekrönte Modell "MoKi Monheim für Kinder" lehrt, dass eine Koordinatorentätigkeit in Sozialräumen Voraussetzung für das Gelingen von Familiennetzwerken ist. Eine koordinierende Tätigkeit kann nicht durch selbstorganisierte Arbeitskreise von Kita-Leitungen oder abgeordnete Mitarbeiter von Jugendämtern dauerhaft erfolgreich mitgemacht werden, sondern eine Koordinatorentätigkeit muss strukturell verankert werden. So ist in Monheim die Koordinatorenstelle in den Stellenplan übernommen worden. Vielleicht können hier Ressourcen aus der Familienbildung neue Aufgaben erhalten.

Neue Netzwerke in den Stadtteilen können nicht allein auf dem guten Willen der Netzwerkakteure aufgebaut werden. Es gibt gesetzliche Rahmenbedingungen, die eine familienfreundliche Unterstützung erschweren. Deshalb sind Gesetze und Vereinbarungen zu überdenken, die zum Nachteil von Familien sind. So dürfen Therapeuten Therapien in Kindertageseinrichtungen nicht abrechnen, was zur Folge hat, dass Eltern vor oder nach der Zeit des Kindes in der Kindertageseinrichtung erforderliche Therapien wahrnehmen müssen. Wenn man alleinerziehend Vollzeit berufstätig ist, wird dies zu einem großen Problem.

Warum die Zukunft der Kindertageseinrichtungen Kinder- und Familienzentren sind!

Der Gesetzgeber fordert die Weiterentwicklung!

Eine Unterstützung und Förderung von Familien hat der Gesetzgeber bereits seit 1991 ausdrücklich gesetzlich in § 16 SGB VIII (KJHG) verankert: "Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen sollen Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie angeboten werden. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können."

Die Novellierungen des SGB VIII (KJHG) im Jahr 2005 haben im 3. Abschnitt "Förderung von Kinder in Tageseinrichtungen und Tagespflege" die Zusammenarbeit mit Eltern konkretisiert. Kindertageseinrichtungen sollen:

  • die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen (§ 22 (2) 2.)
  • den Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können (§ 22 (2) 3.)
  • mit anderen kinder- und familienbezogenen Institutionen und Initiativen im Gemeinwesen, insbesondere solchen der Familienbildung und -beratung zusammenarbeiten (§ 22a (2) 2.)
  • das Angebot pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren (§ 22 (3))

Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen bekommen ein neues Profil

Der Rückgang der Kinderzahlen hat bereits dazu gezwungen, hinsichtlich der Angebotsstrukturen neue Konzepte zu entwickeln. Kinder unter drei Jahren und Kinder mit Behinderung sind vermehrt in die Konzepte integriert worden. Nicht nur die demografische Entwicklung, sondern auch die Verlagerung der Schulkindbetreuung an die Grundschulen - Offene Ganztagsschulen - hat das Angebotsprofil verändert.

Die Veränderung des Einschulungstermins verringert zusätzlich den Angebotsumfang der Kindertageseinrichtungen. Nordrhein-Westfalen plant sukzessive die Einschulung über die Stichtage 30.09. - 31.12. - 31.03. so anzupassen, dass am Ende dieses Prozesses Kinder in Nordrhein-Westfalen mit 5 Jahren in die Schule gehen. Erster Schritt wird sein, den Stichtag 30.09. zu wählen, um damit das erste Ziel, ein durchschnittliches Schuleingangsalter von 6,0 Jahren, zu erreichen. In Rheinland-Pfalz ist der Stichtag für die Einschulung bereits auf den 30.09. verlegt, in Berlin ist der Stichtag der 31.12.. Es werden also immer jüngere Kinder und deren Eltern die Zielgruppen frühpädagogischer Bildungskonzepte sein.

Familienbildung verändert sich

Die gesetzliche Absicherung eines bedarfsgerechten Angebotes für Kinder unter drei Jahren (§ 24 SGB VIII) verändert die Angebote der Familienbildung. Immer mehr Kinder sind immer früher in Institutionen. Immer mehr Kinder werden in "Eingewöhnungsgruppen" an zwei bis drei Tagen in der Woche außerhalb der Familie betreut. Die Anzahl der Kinder, die ganztägig in Kindertageseinrichtungen betreut werden, nimmt rasant zu. Man geht in den westlichen Bundesländern von einem Ausbau in den letzten Jahren auf inzwischen 8% aus. Dabei ist zu differenzieren zwischen den ganz jungen Kindern unter zwei Jahren und den Kindern zwischen zwei und drei Jahren. Diese Altersgruppe wird in immer größeren Maß bereits außerhalb der Familie betreut. Gründe sind u.a. ein großes Interesse an einer schnellen Rückkehr an den Arbeitsplatz, und das nicht nur, weil Nachteile befürchtet werden oder finanzieller Druck die Rückkehr erforderlich macht. Immer mehr Frauen möchten nicht mehr wegen eines Kindes darauf verzichten, am Berufsleben teilzuhaben, weil ihnen ihr Beruf Freude macht und sie die beruflichen Herausforderungen in ihren Lebensentwurf integrieren möchten.

Familienbildung orientiert sich nun stärker in Richtung Schule und Offener Ganztagsschule (z.B. Streitschlichtung), und sie geht mit neuen Konzepten auf die Kindertageseinrichtungen zu (Angebote der Familienbildung in Kindertageseinrichtungen; Präventionskonzepte wie "Familie und Nachbarschaft (FuN)" u.a.m.)

Chancengerechtigkeit beginnt im Kinder- und Familienzentrum!

Die Ergebnisse von PISA 2 haben gezeigt, dass die Bildungsbiografie weiterhin fast ausschließlich von der Herkunft abhängt. Kinder- und Familienzentren können gerade für die Zeitfenster 0- 3 Jahre und 3 - 6 Jahre durch niedrigschwellige Angebote für alle Familien mehr Chancengerechtigkeit erreichen.

Dies wird nicht kurzfristig umgesetzt werden können. Voraussetzungen für mehr Chancengerechtigkeit sind eine Qualitätsentwicklung aller Kindertageseinrichtungen einer Kommune, die auf Kooperation und Entwicklung und nicht auf Konkurrenz und Abgrenzung setzt, und ein "kommunaler Bildungsplan", der für Kinder von 0 - 16 Jahren eine Konzeption gemeinsamer Bildungsziele und gemeinsamer Gestaltung der Übergänge ausgestaltet.

Am Beispiel der Sprachförderung und der damit eng verknüpften Chancengerechtigkeit für Kinder aus Migrationsfamilien werden diese Voraussetzungen verständlich. Es bedarf gemeinsamer trägerübergreifender Bildungsanstrengungen aller Kindertageseinrichtungen, um ein gemeinsames Bildungsziel (dem Unterricht der Grundschule folgen können...) zu erreichen. Gemeinsames Ziel wird dabei auch sein müssen, Familien eher zu erreichen als bei Eintritt in den Kindergarten, also bei einem Alter der Kinder zwischen 0 und 3 Jahren. Hier ist über 1.000 Tage früher Förderung zu gestalten, um mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Zur Zielerreichung bedarf es gemeinsamer Zielvereinbarungen zwischen Kindergarten und Grundschule. Grundschule und weiterführende Schulen müssen ebenfalls gemeinsame Vereinbarungen treffen, damit es gelingt, mehr als die derzeitigen 25% Kinder aus Migrationsfamilien zu einem Berufsabschluss zu führen.

Je früher Familien, vor allem sogenannte bildungsferne und benachteiligte Familien, erreicht werden, umso größer ist die Chance, frühkindliche Bildungsprozesse zu unterstützen. Hierfür sind wohnbereichsnahe und niedrigschwellige Familiennetzwerke, geknüpft durch Kindertageseinrichtungen, eine ausgezeichnete Möglichkeit. Sie müssen mit den Akteuren "rund ums Kind" möglichst sofort flächendeckend geknüpft werden. Unsere Gesellschaft kann und darf es sich nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen, das mehr aus seinen Möglichkeiten machen könnte, wenn es die erforderliche Unterstützung bekäme.

Anmerkung

Der Artikel beruht auf einem Referat, gehalten bei einem Workshop im Rahmen der GEW-NRW - Fachtagung "Armut benachteiligt - Bildung schafft Chancen" am 19.11.2005 in Bochum.

Literatur

Braun, Ulrich: Kita im Netzwerk. Für eine gelingende Jugendhilfe braucht es ein ganzes Dorf. In: KiTa aktuell 1/2001, S. 17-19.

Braun, Ulrich: "Haus für Kinder" - Kita-Konzept der Zukunft? In: KiTa aktuell NRW, 03/2002, S. 68-69.

Diller, Angelika/ Riedel, Birgit: Eltern-Kind-Zentren. Die neue Generation kinder- und familienfördernder Institutionen. Grundlagenbericht im Auftrag des MBFSFJ. München: DJI 2005.

www.bildungsserver.de -> Elementarbildung -> Kindertagesstätten als Orte für Kinder und Familien (Hier findet sich eine gute aktuelle Übersicht!).

www.kinder-frueher-foerdern.de (Projekt "Kind & Ko" in Paderborn und Chemnitz).

www.kinderschutzbund-essen.de (Blaue Elefanten des Kinderschutzbundes in Essen).

www.mckinsey-bildet.de (Projekte, Preisträger und Fachbeiträge).

www.monheim.de (Projekt "MoKi Monheim").

Autor

Ulrich Braun ist stellvertretender Abteilungsleiter Tageseinrichtungen für Kinder im Fachbereich Kinder, Jugend und Familie bei der Stadt Recklinghausen, u.a. verantwortlich für Qualitäts- und Personalmanagement. Expertentätigkeiten im Bereich Frühpädagogik, z.Zt. im Beirat des Projektes "Kinder früher fördern" der Bertelsmann-Stiftung (www.kinder-frueher-foerdern.de).

Homepage: http://www.u-braun.de
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