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Zitiervorschlag

Kindertageseinrichtungen als Ort für die ganze Familie - Beispielprojekte für die Öffnung

Lisa Jares

 

Kindertageseinrichtungen müssen sich immer mehr als Häuser für die Familie als Ganzes verstehen, um den neuen Anforderungen der Erziehung, Bildung und Betreuung gerecht zu werden. Kindertageseinrichtungen als Begegnungsstätten für Familien im Stadtteil lautet die neue Prämisse (vgl. Wehrmann 2008, S. 65 f.). Die Projekte "Early Excellence Centres", "Orte für Kinder", "Kind & Ko" sowie "Familienzentrum NRW" sind herausragende Beispiele für eine erfolgreiche Veränderung und Öffnung der Kindertagesbetreuung, weshalb sie im Folgenden näher dargestellt werden.

Early Excellence Centres

In Deutschland sind die Diskussionen um eine bessere frühe Förderung von Kindern sowie um die Weiterentwicklung von Kindertagesstätten zu multifunktionalen Kindertagesstätten im Gemeinwesen erst in den letzten Jahren entbrannt. Die EPPE- Längsschnittstudie, die von 1997 bis 2003 in England mit ca. 2.800 Kindern an 141 Einrichtungen durchgeführt wurde, ergab schon damals, dass Kinder, die eine qualitativ hochwertige Kindertagesstätte besuchten, sich im kognitiven und sozialen Bereich signifikant positiver entwickeln als Kinder, die eine qualitativ nicht so hochwertige Einrichtung besuchten. Ebenfalls ergab die Studie, dass es sich positiv auf die Kinder auswirkt, wenn Einrichtungen zusätzlich zur Kinderbetreuung familienbildende Angebote anbieten und die Eltern eng in die Arbeit der Kindertageseinrichtung einbezogen werden (vgl. Eichrodt 2008, S. 61).

Der in den 1980er Jahren entwickelte Early Excellence Ansatz aus England verknüpfte bereits damals Angebote für Familie und Kinder zum Nutzen aller Beteiligten (vgl. Hebenstreit-Müller/ Lepenies 2007, S. 7). Margy Whalley hatte den Early Excellence Ansatz aufgrund ihrer Erfahrungen in den brasilianischen Favelas und ihren Erfahrungen in Neu-Guinea entwickelt. Sie gründete "Pen Green" in Corby, einer Stadt in England, wo aufgrund der Schließung von Stahlwerken, die als Hauptarbeitgeber dienten, eine große Arbeitslosigkeit herrschte. Die Lebensumstände der Bevölkerung in Corby waren geprägt durch schlechte Ernährung, mangelnde Wohnverhältnisse und einer hohen Kindersterblichkeit. Für Familien gab es nur unzureichende Angebote im Bereich der Familienbildung, Unterstützung, Förderung und Betreuung ihrer Kinder.

Aus diesen Begebenheiten heraus gründete Margy Whalley die Einrichtung mit dem Namen "Pen Green" (vgl. Lepenies 2008, S. 9). Pen Green war das erste Zentrum, welches von der Regierung als "Centre of Excellence" anerkannt wurde (vgl. Whalley 2008, S. 27). Die Einrichtung ist offen für Kinder ab zwei Jahren bis zum Schulbeginn. Insgesamt werden ca. 35 bis 40 Kinder und ihre Familien betreut (vgl. Burdorf-Schulz/ Müller 2004, S. 17). Der Name Early Excellence impliziert nicht, dass es sich um eine Einrichtung für hochbegabte besser gestellte Kinder handelt, vielmehr stellt der Name den Anspruch an eine qualitative Förderung von Kindern dar (vgl. Hebenstreit-Müller 2008, S. 239).

Im Jahr 2004 gab es in England bereits 107 erfolgreiche Early Excellence Centres, sodass man sich entschloss, das Early Excellence Programm auslaufen zu lassen und ein größeres Projekt mit dem Namen "Children Centres" ins Leben zu rufen, welches das Ziel hat, ein Fünftel aller Kindergärten in Brennpunkten zu ebensolchen Children Centres umzuwandeln. Die Children Centres sollen ein noch breiteres Netz an Unterstützung und Förderung für Kinder und ihre Familien bieten (vgl. Wehringer 2007, S. 7).

Drei zentrale Grundannahmen zeichnen den Early Excellence Ansatz aus. Es gilt zunächst die Exzellenz- Vermutung, also die Annahme, dass jedes Kind ein exzellentes Potenzial besitzt, d.h. das Kind steht mit seinen Stärken und Kompetenzen im Mittelpunkt. Die Eltern werden als erste Erzieher und Experten ihres Kindes angesehen; die Kindertagesstätte wandelt sich zu einem Familienzentrum und öffnet sich damit dem lokalen Umfeld. "Involving Parents in their Children's Learning" ist ein Schlüsseltext der Pädagogik, der im englischen Pen Green entwickelt worden ist. In der Pädagogik ist die Verbindung von individueller Förderung eines Kindes und der engen Zusammenarbeit mit den Eltern innerhalb von Institutionen bereits anerkannt und empirisch belegt, z.B. durch die OECD-Studie von 1999 (vgl. Lepenies 2008, S. 7).

Grundgedanke des Early Excellence Ansatzes ist die "Gemeinschaft forschend Lehrender", und das impliziert nicht nur das pädagogische Fachpersonal, sondern in besonderer Weise auch die Eltern und ihre Kinder. Eltern sollen einerseits in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt und in die Bildungsprozesse ihrer Kinder einbezogen werden; andererseits geht es um eine qualitative Beobachtung der Kinder, um damit eine bestmögliche individuelle Förderung zu erzielen. Der Gedanke, der dahinter steht, ist der, dass jedes Kind unabhängig seines Geschlechts, seiner Herkunft und des gesellschaftlichen Standes der Eltern individuell, d.h. entsprechend seiner Ausgangsvoraussetzungen und Möglichkeiten, gefördert wird.

Early Excellence Centres wollen Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken. Gerade Eltern, deren Alltag von Arbeitslosigkeit, sozialer Isoliertheit und Armut geprägt ist, benötigen Wertschätzung, Anerkennung, Entlastung und Unterstützung in der Betreuung, um der Erziehung und Förderung ihres Kindes gerecht zu werden. Daher sind in den Early Excellence Centres unterschiedliche Unterstützungsangebote für Familien und Kinder integriert:

  • Angebote frühkindlicher Bildung und Betreuung mit hohem Qualitätsstandard,
  • Einbeziehung der Eltern in die Bildungsprozesse ihrer Kinder,
  • familienunterstützende Angebote,
  • Erwachsenenbildungs- und arbeitsmarktbezogene Angebote,
  • Fort- und Weiterbildung,
  • Forschung sowie
  • lokale Gesundheitsdienste.

Ziel ist die "(...) Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit dem Ziel, sie eine selbstbestimmte Orientierung für das eigene gegenwärtige und zukünftige Leben finden zu lassen" (Gerhold/ Hebenstreit/ Kühnel 2004, S. 13). Nicht jedes Early Excellence Centre muss all diese Angebote in der Einrichtung anbieten können. Wenn bereits solche Angebote im Stadtteil existieren, werden Kooperationen mit den jeweiligen Trägern geschlossen, so dass ein breites vernetztes Angebot und somit eine familienfreundliche Infrastruktur entsteht (vgl. Hebenstreit-Müller 2008, S. 239 f.).

Orte für Kinder

Das Projekt "Orte für Kinder" war ein handlungsorientiertes Modellprojekt des Deutschen Jugendinstitutes, welches von 1991 bis 1994 lief und zum Ziel hatte, Anregungen für eine Neubestimmung von Kindertageseinrichtungen zu entwickeln und zu erproben. Es hat aufgezeigt, wie Kindertageseinrichtungen auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren können und auch müssen, um den sich veränderten Bedarfen gerecht zu werden. Durchgeführt wurde das Projekt an 14 Standorten. Die Kindertageseinrichtungen waren unter verschiedenen Trägerschaften organisiert und befanden sich in sozialstrukturell unterschiedlichen Wohngebieten (vgl. Ledig/ Schneider/ Zehnbauer 1996, S. 349).

Mit unterschiedlichen Methoden der Sozialforschung wie Befragungen, teilnehmenden Beobachtungen oder Stichtagserhebungen von Kindern, Eltern, Experten und Jugendämtern sowie mit kommunikativen Arbeitsformen wie Hospitationen, Besprechungen oder Tagungen etc. wurden die relevanten Themen und Aspekte von Kindern und ihren Familien, auf die Kindertageseinrichtungen reagieren sollten, herausgefiltert (vgl. Colberg-Schrader 1994, S. 7). Es ging praktisch um eine Angebotserweiterung in den bereits bestehenden Kindertageseinrichtungen, um den Aufbau neuer Betreuungsformen in Einrichtungen der Familienselbsthilfe sowie um die Herstellung einer neuen Öffentlichkeit für Kinder. Ziel war, bestehende Angebote für Kinder und Familien in den Regionen zu erweitern und zusätzlich neue Angebote zu schaffen.

Die Arbeitsschwerpunkte waren die Öffnung von Einrichtungen im Inneren und nach außen sowie die Vernetzung von Familienselbsthilfe und Institutionen. Bei der Öffnung der Einrichtungen ging es um die Angebotserweiterung für Altersgruppen, die bisher keine Berücksichtigung fanden. Daneben standen eine Konzeptveränderung sowie neue Formen der Zusammenarbeit mit Eltern und Akteuren aus dem Stadtteil im Fokus. Im Rahmen des Arbeitsschwerpunktes "Die Vernetzung von Familienselbsthilfe und Institutionen" wurden neue Kinderbetreuungsangebote in Mütterzentren und Familientreffs aufgebaut, die sich an den Bedarfen der Familien orientierten (vgl. Ledig/ Zehnbauer 1994, S. 19).

Die Ergebnisse aus dem Projekt "Orte für Kinder" ergaben sich aus vielen Maßnahmen und Projekten, die an den einzelnen Standorten durchgeführt wurden. Folgende Erkenntnisse wurden vom DJI zusammenfassend formuliert (Ledig/ Zehnbauer 1994, S. 20-24):

  • Es sind übergreifende Planungsprozesse erforderlich, um den Bedarf in einer Einrichtung bzw. einer Region zu ermitteln.
  • Die Situation von Kindern und Eltern muss in unterschiedlichen flexiblen Angebotsformen berücksichtigt werden.
  • Die Verknüpfung von Familienselbsthilfe und institutioneller Kinderbetreuung eröffnet neue Ressourcen.
  • Die Erweiterung der Altersstruktur in Tageseinrichtungen für Kinder entsprechend dem Bedarf kann nicht nur organisatorisches Prinzip sein, sondern fordert konzeptionelle Veränderungen.
  • Die Zusammenarbeit von Laien und Professionellen, von Selbsthilfe und Institutionen birgt neue Chancen in der Kinderbetreuung.
  • Tageseinrichtungen für Kinder als "Agenturen für soziale Kontakte" können dazu beitragen, die Situation von Kindern und Familien im Stadtteil zu verbessern.

Im dem Projekt "Orte für Kinder" wurde bereits Anfang der 1990er Jahre eine bedarfsgerechte Infrastruktur unter Berücksichtigung der regionalen Voraussetzungen für Kinder und ihre Familien im Stadtteil an 14 Standtorten entwickelt. Das Projekt hat auch heute noch einen Beispielcharakter für die Veränderung von Kinderbetreuungseinrichtungen unter Berücksichtigung der regionalen Begebenheiten (vgl. Ledig/ Schneider/ Zehnbauer 1996, S. 360).

Kind & Ko

Mit Unterstützung der Bertelsmann Stiftung sowie der Heinz Nixdorf Stiftung wurde in den Jahren 2005 bis 2007 ein kommunales Modellprojekt initiiert: In den Städten Chemnitz und Paderborn wurde das Projekt "Kind & Ko" gestartet (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne/ Stieve 2008, S. 13). Ziel des Projektes war der Aufbau eines Netzwerkes, welches Kinder in ihrer Entwicklung und ihren Bildungsprozessen präventiv, kontinuierlich und nachhaltig begleitet (vgl. Stieve 2009, S. 2), so dass dadurch die Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern in den Kommunen gefördert werden.

Ein Leitsatz des Projektes lautete "Kooperation und Vernetzung sind kein Selbstzweck" (Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 211; Bock-Famulla/ Langness/ Schöne/ Stieve 2008, S. 13). Kooperationen und Vernetzungen mit Akteuren aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Gesundheit und Soziales sollten in den Kommunen produktiver gestaltet und ausgebaut werden; eine klare Zielsetzung war von Bedeutung (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 211).

Für diesen umfassenden Kooperations- und Vernetzungsprozess in den Kommunen wurden Koordinationsbüros eingerichtet. Zudem setzte sich ein Steuerungsgremium aus Vertreter/innen des Jugendamtes, des Gesundheits- und Schulbereiches, der Jugendhilfe, der freien Träger und den Koordinator/innen zusammen, um Entscheidungen zu treffen. Neben diesem Steuerungsgremium schloss sich ein Forum "Frühkindliche Bildung" mit Multiplikator/innen aus unterschiedlichen Berufsgruppen und Organisationen in der Kommune zusammen und machte es sich zur Aufgabe, die Prozesse zu reflektieren und sich über aktuelle Bedürfnisse und Bedarfe von Familien im Nahraum auszutauschen. Darüber hinaus bildeten sich Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen. Das Koordinationsbüro hatte eine Verbindungsfunktion und begleitete bzw. unterstützte das Gremium, das Forum sowie die Arbeitsgruppen (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 215 f.).

Im Projektverlauf kristallisierten sich drei zentrale Themenschwerpunkte heraus:

  • Rund um die Geburt,
  • Kind und Familie im Zentrum,
  • Übergang Kita - Grundschule

(vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne/ Stieve 2008, S. 13). Im Rahmen dieser Themenbereiche wurden innerhalb der Arbeitsgruppen Maßnahmen wie z.B. ein ehrenamtliches Besuchsangebot nach der Geburt, Ausweitung des Hebammeneinsatzes, Kooperationen mit Kinderärzten, Erziehungsberatungsstellen, Grundschulen etc. sowie Qualifizierungsmaßnahmen in Kindertageseinrichtungen eingeführt. Nach Stieve (2009, S. 2) orientierten sich alle Maßnahmen "an gemeinsam entwickelten Zielen und an verschiedenen Schwellen im Lebenslauf von Kindern und Familien". Die Lebenswelt von Kindern und ihren Familien sollten stärker miteinander vernetzt werden, in dem kommunale Akteure, Lebenswelt und Bildungsorte forciert werden (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 213). Eine Governance der frühkindlichen Bildung sollte entstehen (vgl. Stieve 2009, S. 1).

Ein weiteres Leitziel war die individuelle Förderung, Unterstützung und Begleitung von Kindern und ihren Familien. Kindertagesseinrichtungen sollten in ihrem Bildungsauftrag gestärkt werden, und die Erziehungs- und Bildungspartnerschaften zwischen Kindertageseinrichtung und Eltern sollten weiter ausgebaut werden (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 213).

Dem geht ein einheitliches Bildungsverständnis voraus, welches die Kommune als Ganzes fordert (vgl. Stieve 2009, S. 2). Bildung wird in dem Projekt "Kind & Ko" als ein ganzheitlicher Prozess verstanden, der sich nicht nur in formellen Institutionen wie in Schule oder Kindertageseinrichtung vollzieht, sondern mit der Geburt beginnt und sowohl in formellen als auch in informellen Settings stattfindet (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 212).

Die Handlungsempfehlungen, Maßnahmen und Projekte, die aus "Kind & Ko" entstanden sind, sind vielleicht nicht gänzlich neu - was dieses Projekt jedoch auszeichnet ist, dass sie das Produkt eines umfassenden Partizipations- und Entwicklungsprozesses in Kommunen sind, woran unterschiedliche Akteure beteiligt waren (vgl. Bock-Famulla/ Langness/ Schöne 2008, S. 219).

Familienzentrum NRW

Die Entwicklung von Familienzentren in Nordrhein-Westfalen war eine Reaktion auf die in der Öffentlichkeit viel diskutierte Veränderung von "Familie" und den dadurch steigenden Unterstützungsbedarf. Familienzentren führen bislang getrennte Bereiche der Betreuung, Bildung, Förderung und Beratung zusammen (vgl. MGFFI-NRW 2009, S. 8).

Zentrales Ziel des Projektes ist, dass Kindertageseinrichtungen - neben den Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsleistungen - Unterstützung im Bereich Beratung, Bildung, Information, Hilfe und Austausch für Familien anbieten. Damit soll die Förderung von Familien sowie die Unterstützung von Kindern zusammen gestaltet werden (vgl. Syassen 2009, S. 32), und bei der Zusammenführung von Kindertageseinrichtung, Familienbildung und Familienhilfe sollen bedarfsgerechte Angebote entstehen (Diller 2005, zit. in Diller/ Schelle 2009, S. 13).

Kindertageseinrichtungen wandeln sich unter diesen Aspekten zu multifunktionalen Einrichtungen. "Synergieeffekte sollen durch die Zusammenführung familienorientierter Angebote im Stadtteil erzielt werden" (Kasüschke/ Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 161). Kindertageseinrichtungen sollen durch die Weiterentwicklung zu Familienzentren NRW zu einer Anlaufstelle und einem Ort der Begegnung, Kommunikation, Information sowie Beratung im Stadtteil werden. Das Vertrauen, welches Eltern oftmals in Kindertageseinrichtungen setzen, bietet den Fachkräften eine gute Vorrausetzung, um den Eltern Angebote leichter zugänglich zu machen bzw. auch Hilfen besser an Familien aus bildungsfernen Schichten heranzutragen. Familienzentren haben zum Ziel, einen Knotenpunkt in einem Netzwerk der Unterstützung für Familien zu bilden. Sie sollen Angebote aus dem Nahraum durch Kooperation und Vernetzung bündeln, um Familien umfassender unterstützen und beraten zu können (vgl. Vierling 2008, S. 72).

Dieser Vernetzungsgedanke hat zum Ziel,

  • Sprachdefizite früher festzustellen und durch eine individuelle Förderung systematisch abzubauen,
  • Stärken und Schwächen der Kinder früher zu erkennen,
  • Eltern in Fragen der Erziehung, Bildung, Gesundheit etc. gezielter zu beraten und dadurch präventiv bereits sehr früh integrierte Beratung anzubieten,
  • Kindertageseinrichtungen zu Bildungs- und Erfahrungsorten für Kinder und ihre Eltern weiterzuentwickeln und damit auch Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken,
  • Eltern bei der Überwindung von Alltagskonflikten dadurch zu unterstützen, dass ihnen Hilfen unmittelbarer und ohne Hemmschwelle zugänglich gemacht werden,
  • Zuwandererfamilien und Familien aus bildungsfernen Schichten besser anzusprechen,
  • insgesamt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern durch eine Öffnung der Angebotsstruktur,
  • unter Einbeziehung der Familien mehr Variabilität in den Betreuungszeiten zu schaffen sowie
  • Hilfe und Unterstützung bei der Vermittlung von Tagesmüttern und -vätern zu bieten (vgl. MGFFI-NRW 2009, zit. in Kasüschke/ Jares 2010, S. 260).

Im Gütesiegel NRW Kriterienkatalog werden die vier Leistungs- und Strukturbereiche, die ein Familienzentrum abzudecken hat, differenziert beschrieben. Die Leistungsbereiche unterteilen sich in:

  • Beratung und Unterstützung,
  • Familienbildung und Erziehungspartnerschaft,
  • Kindertagespflege sowie
  • die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

In Bezug auf die Beratung und Unterstützung von Kindern und Familien bieten Familienzentren niederschwellige Angebote. Diese sind im Idealfall interkulturell ausgerichtet, um auch Kinder und ihre Eltern mit Migrationshintergrund zu erreichen, damit Familien mit Zuwanderungsgeschichte die Möglichkeit haben, sich an einem interkulturellen Dialog zu beteiligen und ihre Bedürfnisse in den Angeboten wiederzufinden. Familienzentren sollen ein Ort der Familienbildung sein - dies impliziert der Leistungsbereich Familienbildung und Erziehungspartnerschaft. Eltern sollen als Partner verstanden werden und aktiv in die Erziehungsprozesse ihres Kindes einbezogen werden. Im Leistungsbereich der Kindertagespflege bietet das Familienzentrum Familien Beratung und Unterstützung bei der Suche nach einer qualifizierten Kindertagespflege. Je nach Kommune übernimmt das Familienzentrum eine Vermittlerrolle und leitet direkt die konkreten Anfragen an potentielle Tageseltern weiter. Durch ein individuelles, flexibles Betreuungsangebot bieten Familienzentren Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Öffnungszeiten richten sich nach dem Bedarf der Eltern. Die Kinderbetreuung für unter dreijährige und über sechsjährige Kinder sowie die Möglichkeit, das Kind in Notfällen außerhalb der Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtung gut betreut zu wissen, bieten eine große Unterstützung für Familien. Bei dieser flexiblen Unterstützung von Familien mit unterschiedlichen Bedürfnissen wird der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsgedanke dennoch nicht außer Acht gelassen (vgl. MGFFI-NRW 2008, S. 53-72).

Neben den beschriebenen vier Leistungsbereichen Beratung und Unterstützung, Familienbildung und Erziehungspartnerschaft, Kindertagespflege sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind die folgenden vier Strukturbereiche Kernelemente eines Familienzentrums:

  • Ausrichtung des Angebotes am Sozialraum,
  • Aufbau einer verbindlichen Zusammenarbeit mit Einrichtungen und Diensten, deren Tätigkeit den Aufgabenbereich des Familienzentrums berührt (z.B. Erziehungsberatung und Frühe Hilfen nach dem Bundeskinderschutzgesetz),
  • Bekanntmachen des Angebotes durch zielgruppenorientierte Kommunikation sowie
  • Sicherung der Qualität des Angebotes durch Leistungsentwicklung und Selbstevaluation.

Der Sozialraumbezug eines Familienzentrums ist hierbei ein zentraler Punkt: Die Angebote des Familienzentrums sollen niederschwellig, wohnortnah und auf die Bedürfnisse der Bewohner/innen des Stadtteils individuell zugeschnitten sein. Wie in einem nachfolgenden Abschnitt noch erläutert wird, haben Familienzentren die Möglichkeit, Leistungen einerseits durch eigene Ressourcen zu decken sowie in Kooperation mit anderen Kindertageseinrichtungen und Trägern zu erbringen. Somit werden die Kompetenzen und Ressourcen verschiedener Träger gebündelt, wodurch eine kooperative Entwicklung und ein breites Spektrum an Angeboten für Familien im Stadtteil entstehen. Der Strukturbereich der Kommunikation beinhaltet die Bekanntmachung der Angebote des Familienzentrums, d.h. die Einrichtung hat die Möglichkeit, ihre Angebote auf unterschiedliche Weise (Internetseite, Feste, Presseartikel, Flyer etc.) zielgruppendifferenziert bzw. zielgruppenspezifisch an die Bewohner/innen des Stadtteils zu bringen. Der letzte Strukturbereichspunkt befasst sich mit der Leistungsentwicklung und Selbstevaluation von Familienzentren. Familienzentren haben zum Ziel, familienorientiert zu arbeiten. Vorrausetzung dafür ist ein stetiges Hinterfragen und Weiterentwickeln des Konzeptes, um die Leistung und Qualität zu sichern (vgl. MGFFI-NRW 2008, S. 33-49).

Der Gütesiegelkriterienkatalog wurde vom unabhängigen Forschungs- und Entwicklungsinstitut Pädquis entwickelt. Das Gütesiegel ist ein Zertifikat, welches einem Familienzentrum einen gewissen Qualitätsstandard bescheinigt. Dabei handelt es sich nicht um eine Überprüfung der pädagogischen Qualität, sondern lediglich um eine Prüfung, inwieweit die Leistungs- und Strukturbereiche umgesetzt werden (vgl. Stöbe-Blossey 2008, S. 197 f.).

Die Familienzentren haben die Möglichkeit, ihre Angebote entsprechend ihrer Vernetzung und Kooperation mit anderen Institutionen zu gestalten. Sie können ihre Leistungen entweder "unter einem Dach" anbieten, d.h. alle Angebote befinden sich in der Einrichtungen, oder wie es in der Praxis gängiger ist, die Angebote in einem Kooperationsverbund anbieten, d.h. die Einrichtung stellt eine Vermittlerfunktion dar und verweist auf die Angebote (vgl. Lindner/ Sprenger/ Rietmann 2008, S. 280 f.). Die Angebote eines Familienzentrums sollen die Familien als Ganzes ansprechen "und einen Lebensraum sowohl für Kinder als auch für die gesamte Familie bieten". Dem liegt ein familienorientierter Ansatz zugrunde, der sich an alle Familien richtet und nicht nur gewisse Zielgruppen von Familien ein- oder aber auch ausschließt (Kasüschke/ Jares 2010, S. 260).

Fazit

Angeregt durch die Ergebnisse der Pisa-Studie gewann die frühe individuelle Förderung von Kindern in den letzten Jahren deutlich an Beachtung. Die Kindheits- und Vorschulphase wird nun als wichtige eigenständige Entwicklungszeit von Kindern betrachtet. Die Bildungsbedeutsamkeit der Familie, die Selbsttätigkeit (Tätigkeit aus eigenem Antrieb) und die subjektive Auseinandersetzung mit der Umwelt sind zentrale Elemente der neuen Sicht. In dieser entscheidenden Lebensphase benötigen Kinder eine intensive Zuwendung und darüber hinaus Pflege, Betreuung sowie altersgerechte Lern- und Bildungsangebote, um sich die kulturelle, soziale, materiell-dingliche und subjektive Welt zu erschließen.

Ihr Bildungspotenzial können Kinder nur entfalten, wenn ihnen entsprechende Bildungsmöglichkeiten geboten werden, z.B. im Kontakt mit der Umwelt, im praktischen Handeln sowie im sozialen Austausch. Diese Bildungsmöglichkeiten werden im Gegensatz zu früher nicht mehr nur im familiären Kontext gesehen, vielmehr liegen sie heute verstärkt in öffentlicher Verantwortung. "Dabei ist die zentrale Zielrichtung die Gestaltung eines kommunal abgestimmten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung, das ein lebensweltlich orientiertes Netzwerk an Unterstützung, an Bildungsförderung und frühen Hilfen für Familien bietet" (Maykus 2008, S. 71).

Die Öffnung von Kindertageseinrichtungen als Ort für die ganze Familie hat sich als pädagogisches und organisatorisches Konzept etabliert. Die hier dargestellten Projekte stellen beispielhaft dar, wie eine ebensolche notwendige Öffnung von Kindertageseinrichtungen hin zu Häusern für die Familie als Ganzes ausgestaltet werden kann.

Literatur

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