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Zitiervorschlag

Aus: Martin R. Textor (Hrsg.): Elternarbeit mit neuen Akzenten. Reflexion und Praxis. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1994, S. 44-48

Der alte Elternabend im neuen Kleid

Ingeborg Becker-Textor

 

Leider verbreitet das Wort "Elternabend" bei vielen Erziehern und auch Eltern eher ein negatives als ein positives Gefühl. Der Begriff wird auch noch immer als Synonym für das breite Feld der Elternarbeit verwendet. Dies mag daran liegen, dass es sich beim Elternabend wohl um die älteste und am meisten praktizierte Form der Elternarbeit handelt. Auch wird noch heute von vielen Aufsichtsbehörden die Qualität der Elternarbeit an der Zahl der Elternabende gemessen. So finden sich in den Besichtigungsprotokollen der Kindergartenaufsicht Fragestellungen wie:

  • Wie viele Elternabende pro Jahr führen Sie durch?
  • Arbeiten Sie mit Referenten - wenn ja, mit welchen?
  • Wie lauteten die Themen Ihrer diesjährigen Elternabende?

usw. Es ist verständlich, dass eine derartige Befragung nach Elternabenden nicht unbedingt motivierend ist und kaum zu experimenteller Elternarbeit ermutigt.

Der Kindergarten braucht aber mehr denn je eine aktualisierte Form der Elternarbeit, die sich an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten von Familien, von Eltern und Kindern, orientiert. So benötigen auch die tradierten Elternabende "ein neues Kleid" - wie es in der Überschrift zu diesem Beitrag heißt.

Liest man in älteren Fachbüchern zum Thema "Elternarbeit" nach, so fällt auf, dass die Empfehlungen zur Gestaltung von Elternabenden zum einen nicht mehr den heutigen Fragestellungen der Eltern entsprechen und zum anderen Kriterien einer modernen, teilnehmerorientierten Erwachsenenbildung keine oder kaum Berücksichtigung finden. So sind Vortragsabende - selbst wenn sich eine Diskussion anschließt - ganz einfach "out". Auch dürfen Themen nicht stark verallgemeinert und mit Eltern auf einer eher abstrakten Ebene besprochen werden. So kann man sie nicht erreichen oder gar für Erziehungsfragen und die Probleme ihrer Kinder sensibel machen. Wie soll nun ein bedürfnisorientierter Elternabend gestaltet werden?

Wenn es uns gelingen soll, Eltern "dort abzuholen, wo sie stehen", dann müssen wir auf individuelle Fragestellungen und Problemlagen von Vätern und Müttern eingehen. Gleichzeitig müssen wir ihnen Erfahrungsspielräume eröffnen, die für Kinder im Kindergartenalltag ganz normal und selbstverständlich sind. Am Beispiel eines Elternabends zum Thema "Wie bereitet der Kindergarten auf die Schule vor?" lässt sich dies sehr gut verdeutlichen. Wie ist ein solcher Abend "gestern" verlaufen und wie sollte er "heute" gestaltet werden?

"Gestern": Der Kindergarten hat eine Grundschullehrerin als Referentin eingeladen. Sie berichtet, was die Schule vom Kindergarten erwartet, und gibt Hinweise, was Kinder beim Schuleintritt können sollten. Daraus werden dann schnell Forderungen an den Kindergarten abgeleitet. Sie reichen vom ordentlichen Betragen der Kinder über Zählen-Können, sauberes Basteln und Farb-Zuordnungen bis hin zu schreibvorbereitenden Übungen oder gar Arbeitsmappen. Die Eltern wollen nun sehen, dass der Kindergarten auf die Schule vorbereitet, und messen die Qualität der Kindergartenarbeit an schulischen Techniken, perfekten Bastelarbeiten oder exakt ausgefüllten Vorschulblättern.

Im Verlauf eines solchen Elternabends werden somit von den Eltern Erwartungen formuliert, was der Kindergarten zu tun habe. Selten oder nie wird aber genauer betrachtet, was im Kindergarten "gelehrt" wird und wie sich dort frühkindliches Lernen vollzieht. Beispielsweise wird durch den Einsatz von Arbeitsblättern schon im Kindergarten eine Lernzielkontrolle durchgeführt. Ist das notwendig? Ist es richtig, wenn am Elternabend nur diskutiert wird, was Kinder wann können müssen, und dabei der Blick auf die Individualität der Kinder verschwimmt? Kein Wunder, dass Erzieherinnen Angst vor fordernden Eltern und einem Elternbeirat haben, der bestimmt, was im Kindergarten getan werden soll!

Ein zeitgemäßer Elternabend

Wieder hat der Kindergarten zum Thema "Wie bereitet der Kindergarten auf die Schule vor?" eingeladen. Auch dieses Mal ist die Lehrerin dabei. Aber sie hält nicht das Hauptreferat - es gibt gar kein Referat. Stattdessen hat sich die Erzieherin etwas ganz besonderes ausgedacht. Sie hat sich den Fächerkanon der ersten Klasse vorgenommen und auf kleine Kärtchen jeweils ein Fach aufgeschrieben.

Die Erzieherin begrüßt die Eltern an der Haustüre und bittet sie, sich ein Kärtchen pro Person zu nehmen. Im Flur stehen die Eltern noch ein paar Minuten in kleinen Gruppen herum und unterhalten sich. Als wohl die meisten Eltern eingetroffen sind und im Gruppenraum Platz gefunden haben, begrüßt die Erzieherin nochmals alle und informiert über den Ablauf des Abends: Für jedes spätere Unterrichtsfach relevante Materialien liegen in den Räumen des Kindergartens aus. Ein Schild an der Tür oder in einer Ecke des Raumes weist auf das jeweilige Fach hin. Der Arbeitsauftrag an die Eltern ist nun, sich mit den für das auf ihrer Karte vermerkte Fach vorgegebenen Materialien zu beschäftigen und dabei zu überlegen, wie diese auf die Schule vorbereiten. Die Erzieherinnen und Praktikanten des Kindergartens geben im Bedarfsfall Hilfestellung.

Schreiben: Hier stehen Kleister, alte Zeitungen, Wasser, Tonmehl, Plastilin, Mehl und Salz zur Verfügung. Die Eltern werden zu den verschiedenen Aktivitäten angeleitet. Aus den Zeitungen reißen sie kleine Schnipsel, die dann mit Kleister zur Papiermaché verknetet werden. Eine mühsame Arbeit. Währenddessen rühren einige andere Eltern Ton an. In den Schlick aus Tonmehl und Wasser wird immer mehr Tonmehl geknetet, so dass eine geschmeidige Tonmasse entsteht. Ähnlich aktiv sind Eltern bei der Herstellung von Salz-Mehl-Teig oder beim Kneten mit Plastilin.

Ob die Eltern erkennen, dass es sich bei ihren Aktivitäten um "schreibvorbereitende Übungen" handelt? Ob sie spüren, wie sie die Muskulatur der Arme und vor allem der Hände trainieren und lockern? Zunächst sind jedoch die Gesichter "lang", und die Frage, was das mit dem Schreiben zu tun habe, steht unausgesprochen im Raum.

Heimat- und Sachkunde: Die vorbereiteten Materialien umfassen Steine, einen dicken Erdklumpen, ein Büschel Unkraut, eine alte Uhr, Schraubenzieher, Lupen usw. Jetzt können die Mütter und Väter auf Entdeckungsreise gehen... Es kostet sie schon einige Überwindung, den Erdklumpen auseinanderzunehmen und mit der Lupe nach Spuren von Regenwürmern oder anderem Getier zu suchen. Mutig machen sich andere Eltern an die Demontage der alten Uhr. Bald geht es recht geschäftig zu. Es wird viel gelacht.

Kunsterziehung: Verschiedenste Papiersorten, Farben aller Art - Fingerfarben, Wachskreiden, Wasserfarben, Buntstifte usw. - liegen bereit. Die Eltern bekommen den Auftrag, ein Frühlingsbild zu gestalten. Sie wählen ganz unterschiedliche Materialien aus und machen wichtige Erfahrungen: So stellen sie beispielsweise fest, dass sich auf Japan- oder Hochglanzpapier nicht so gut mit Wachskreiden malen lässt. Erst gehen sie noch zaghaft an die Arbeit, doch nach einer Weile stürzen sie sich in Mal- und Zeichenexperimente, versinken richtig in ihr Tun. Ob sie wohl bei der Auswertung feststellen werden, dass sie die wichtigste Erfahrung während des Malens gemacht haben - dass der Prozess für den Lernerfolg wichtiger ist als das Produkt, das am Ende steht...

Es erübrigt sich, hier noch die für weitere Fächer ausgelegten Materialien näher darzustellen. Vielmehr interessiert, wie es mit dem Elternabend weitergegangen ist...

Nach rund 45 Minuten aktivem Tuns müssen die Eltern ihre Beschäftigungen abbrechen. Einige sind enttäuscht; sie hätten gerne noch viel länger "gearbeitet" und "gelernt". Alle treffen sich nun im Plenum. Die einzelnen Gruppen berichten von ihren Erfahrungen, Erlebnissen, ihren Lernerfolgen - aber auch, wie es ihnen gefühlsmäßig ergangen ist. Gemeinsam wird versucht, herauszuarbeiten, warum alle diese Aktivitäten, die im Kindergartenalltag ganz selbstverständlich sind, für die kindliche Entwicklung ebenso wie für die Vorbereitung auf die Schule von Bedeutung sind. Hier kann sich nun auch die Lehrerin einbringen und die Zusammenhänge zwischen dem Lernen im Kindergarten und dem Lernen in der Schule aufzeigen.

Nach einem solchen Elternabend werden Eltern verstehen - besonders aufgrund der eigenen Erfahrungen, die sie machen durften -, dass schulische Techniken keinen Platz im Kindergarten haben, dass aber die ganzheitlichen Erfahrungen, das Erleben und das Wahrnehmen mit allen Sinnen das Lernen im Kindergarten bestimmen. Die Kinder finden hier Raum für eigene Entdeckungen und Erfahrungen, können aber vor allem prozessorientiert lernen. Das Ergebnis bzw. Ziel bleibt im Blick, ist jedoch nicht handlungsbestimmend. Die Freude am Tun und am selbständigen Aktiv-Sein rückt in den Mittelpunkt. Für dieses Tun kann sich das Kind im Kindergarten viel Zeit lassen, kann sein Tempo selbst bestimmen, kann Aktivitäten beliebig oft wiederholen. Es erwirbt auf solche Weise ganz verschiedene Kompetenzen und erfährt zugleich die notwendige Vorbereitung auf die Schule.

Schlussgedanke

Es ließen sich noch viele Beispiele für "Elternabende im neuen Kleid" beschreiben. Allen gemeinsam wäre jedoch die Zielsetzung, Eltern das Leben und Lernen ihrer Kinder im Kindergarten über das eigene Erfahrungslernen und die eigenen Erlebnisse näherzubringen. "Tot" ist hingegen der Elternabend, bei dem Eltern belehrt werden, bei dem ihnen Rezepte vermittelt oder gar alle Erziehungsprobleme fachmännisch gelöst werden sollen.

Es ist selbstverständlich, dass Elternabende in das breite Feld der Elternarbeit eingebettet sein müssen. So sind z.B. Hospitationen von Vätern und Müttern im Kindergarten fast schon unverzichtbar, denn sie bieten die Möglichkeit, dass Eltern Kinder bei ihrem aktiven Tun beobachten können und in dieses einbezogen werden. Was Eltern während einer solchen Hospitation alles über Kinder und das Leben im Kindergarten erfahren können! Reflektiert, diskutiert und vertieft werden die Erlebnisse und Erfahrungen dann z.B. beim Elternabend - bei einem Elternabend im neuen Kleid.

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de