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Zitiervorschlag

Aus: AVR Kindergarten Magazin 1997, Heft 4, S. 24-26

Elternberatung und Gesprächsführung

Martin R. Textor

 

Zu den unangenehmen Seiten des Erzieher/innenberufes gehört der Umgang mit verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen Kindern. Frustration, Verärgerung und Unzufriedenheit auf der einen sowie Mitleid und der starke Wunsch zu helfen auf der anderen Seite sind häufige Reaktionen. Da viele Schwierigkeiten von Kleinkindern ihre Ursache in der Familie haben (Textor 1996a), liegt es nahe, die Eltern verantwortlich zu machen. So besteht die Gefahr, dass Ursachen im Kindergarten, also z.B. im Verhältnis zwischen dem "Problemkind" und den Fachkräften oder zwischen ihm und anderen Kindern (Teuber 1996), übersehen werden.

Im Hinblick auf unser Thema ist aber relevanter, welche Folgen die Schuldzuweisung an die Eltern haben kann: Ist die Erzieherin frustriert oder wütend, mag sie ihren Ärger an den Eltern auslassen, sie anklagen oder belehren. Identifiziert sich die Erzieherin mit der Not des Kindes und hat sie Mitleid mit ihm, mag sie aus ihrer emotionalen Parteilichkeit heraus ebenfalls die Eltern beschuldigen. Da niemand sich sein Versagen gerne eingesteht, ist es nicht verwunderlich, wenn die Eltern dann ebenfalls mit Kritik, Schuldzuweisung und Wut reagieren.

Bernd, 5 Jahre alt, ist sehr aggressiv. Er verwickelt immer wieder andere Kinder in Raufereien, wobei er um sich schlägt und kratzt. Außerdem ist er unaufmerksam und unruhig, kann sich nicht konzentrieren, läuft fortwährend durch den Raum. Schließlich hält es die Gruppenleiterin mit ihm nicht mehr aus. Impulsiv bittet sie die Mutter beim Abholen des Kindes, zu einem Gespräch ins Büro der Kindergartenleiterin zu kommen: "Bernd ist für die Gruppe nicht mehr tragbar. Er hält sich nicht an Regeln. Fortwährend prügelt er auf andere Kinder ein. Sie sollten mit ihm unbedingt zu einer Beratungsstelle gehen. Wenn Bernd in einem Jahr in die Schule kommt und dann immer noch hyperaktiv und gewalttätig ist, landet er bei den Erziehungsschwierigen in der Förderschule".

Bevor ein Gespräch mit den Eltern über die "Probleme" ihres Kindes geführt wird, sollte sich die Erzieherin zunächst einmal ihrer Gefühle bewusst werden und sich von ihnen distanzieren. Sie sollte zu einer Grundhaltung gelangen, die es ihr erlaubt, Verständnis sowohl für das Kind als auch für seine Eltern zu empfinden. Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass nicht die Fachkraft das erzieherische Verhalten der Eltern oder deren Beziehung zum Kind verändern kann, sondern dass diese selber aktiv werden müssen. Eltern sind aber am ehesten offen für eine Reflexion der Familienerziehung oder für Ratschläge, wenn sie sich akzeptiert und verstanden fühlen.

Von großer Bedeutung ist somit, dass Erzieher/innen die Grundsätze der Gesprächsführung befolgen, wie sie z.B. von Leupold (1995) detailliert beschrieben wurden. Die Reflexion und Verbesserung des eigenen Gesprächsstils ist am leichtesten durch Fortbildungsveranstaltungen zu erreichen, in denen großer Wert auf Selbsterfahrung (Wahrnehmung des eigenen Sprachverhaltens anhand von Videoaufzeichnungen) und praktische Übungen (Rollenspiel) gelegt wird. Zumeist werden folgende Grundhaltungen vermittelt:

  1. Achtung vor der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Eltern: Erzieher/innen können Verhaltensänderungen anregen, aber nur die Eltern können sich ändern.
  2. Wertschätzung und Respekt: Die Eltern sollen den Eindruck gewinnen, dass sie als Person geschätzt werden, dass die Erzieherin sie achtet und ihnen gegenüber positive Gefühle ("Wärme") empfindet.
  3. Echtheit: Die Erzieherin reagiert als Person, offenbart sich selbst, bringt ihre Gedanken und Gefühle in klaren Aussagen zum Ausdruck. Verbale Botschaft, Gesichtsausdruck und Körperhaltung stimmen überein ("Kongruenz").
  4. Einfühlsames Verstehen ("Empathie"): Die Erzieherin interessiert sich für die subjektive Welt der Eltern und zeigt Verständnis.

Diesen Grundhaltungen entsprechen bestimmte Gesprächstechniken. Dazu gehört beispielsweise das "aktive Zuhören": Die Erzieherin geht auf die Gedanken und Gefühle der Eltern ein, akzeptiert sie, reflektiert sie zurück, gibt Rückmeldung (und stellt zugleich ihre eigenen Meinungen, Wertungen und Emotionen zurück). Bei einem solchen Verhalten der Fachkraft fühlen sich die Eltern verstanden. Sie müssen sich nicht verteidigen, sondern können sich leichter mit den Problemen ihres Kindes und den eigenen Schwierigkeiten auseinandersetzen und nach Lösungen suchen. Sie werden zugänglicher für Aussagen und Vorschläge der Erzieherin.

Eine andere wichtige Gesprächstechnik wird als "Ich-Botschaft" bezeichnet. Die Erzieherin kritisiert nicht das Kind oder die Eltern, sondern beschreibt das Problem so, wie sie es persönlich erlebt: "Ich habe Schwierigkeiten mit Ihrem Kind. Ich erlebe sie vor allem in der und der Situation. Dann reagiere (empfinde) ich leicht so oder so. Können Sie mir vielleicht helfen, das Verhalten Ihres Kindes zu verstehen?" Offensichtlich ist, dass bei Ich-Botschaften die Wahrscheinlichkeit recht gering ist, dass sich die Eltern als angegriffen und beschuldigt erleben. Hingegen ist anzunehmen, dass sie dann berichten, wie sie selbst ihr Kind erfahren, dass sie ihre Gefühle äußern und zusammen mit der Erzieherin nach Lösungen für "ihr" Problem suchen.

Joachim ist ein sehr aggressives und ungehorsames Kind, das in der Gruppe viele Probleme macht. Die Erzieherin beschließt, mit seinen Eltern ein Gespräch zu führen. Zuvor beobachtet sie Joachim eine Woche lang zweimal am Tag für fünf Minuten und notiert ihre Beobachtungen. Dabei stellt sie u.a. fest, dass Joachim vor allem dann aggressiv wird, wenn eine Aktivität Konzentration und Ausdauer erfordert. Ferner bemerkt sie, dass er beim Spielen in der Außenanlage überhaupt nicht aggressiv ist, wenn sie weit entfernt von ihm (und nicht in seinem Blickfeld) steht. Dann vereinbart sie mit Joachims Eltern einen Gesprächstermin, an dem Vater und Mutter kommen können. Sie bietet ihnen einen gemütlichen Platz auf dem Sofa im Büro der Leiterin an und erzählt zunächst, wie sich Joachim generell entwickelt. Dann leitet sie über: "Allerdings habe ich auch Probleme mit Joachim. In der letzten Woche habe ich in den und den Situationen erlebt, dass ich mich nur mit Mühe durchsetzen konnte. Auch ist er oft aggressiv zu anderen Kindern, und ich weiß dann nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Haben Sie vielleicht so ähnliche Beobachtungen gemacht?"

Wurde auf die skizzierte Weise eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut - wobei dies idealerweise schon vor einem "Problemgespräch" durch die Vielzahl anderer Interaktionen (bei Tür- und Angel-Gesprächen, Elternabenden usw.) erfolgt sein sollte - und wurde die Kooperationsbereitschaft der Eltern gewonnen, kann das jeweilige Problem entsprechend der Stufen des sogenannten "Problemlösungsprozesses" angegangen werden:

  1. Problemdefinition: genaue Beschreibung der Verhaltensauffälligkeit oder der Erziehungsschwierigkeit; Eltern und Erzieherin müssen diese Definition akzeptieren.
  2. Suche nach den Ursachen des Problems: Bestimmung vorausgehender und nachfolgender Ereignisse und Verhaltensweisen, von Auslösern und Verstärkern; Suche nach problematischen Strukturen und Erziehungsfehlern in Kindertageseinrichtung und Familie.
  3. Zielbestimmung: Festlegung realistischer Ziele für den Problemlösungsprozess.
  4. Suche nach allen denkbaren Lösungsmöglichkeiten: Brainstorming; anschließend Beurteilung der Vor- und Nachteile sowie möglicher Umsetzungsschwierigkeiten.
  5. Auswahl der voraussichtlich besten Alternative: danach Planung der Umsetzung sowie Ermittlung benötigter Ressourcen und möglicher Widerstände.
  6. Umsetzung der Alternative: in Familie und/oder Kindergarten; dabei gegenseitige Unterstützung und Hilfestellung.
  7. Erfolgskontrolle: Überprüfung der Effektivität des Problemlösungsversuches.

Insbesondere wenn sich bei der Ursachenanalyse (Schritt 2) herausstellt, dass sich vor allem die Eltern ändern müssen, sollte sich die Erzieherin zurückhalten und die Eltern selbst nach Lösungsmöglichkeiten suchen lassen. So zeigt sie, dass sie ihnen zutraut, dass sie ihre Probleme selber lösen und ihr Verhalten selbst ändern können. Die Erzieherin beschränkt sich dann vor allem auf die Strukturierung der Gesprächssituation sowie auf die Unterstützung und Beratung der Eltern beim Durchlaufen der folgenden Stufen des Problemlösungsprozesses. Sie wirkt ermutigend und motivierend.

Eventuell sind mehrere Besprechungen nötig, um Probleme bei der Umsetzung der Lösungsstrategie zu diskutieren, eine andere, erfolgversprechendere Alternative auszusuchen oder neu aufgetretene Schwierigkeiten zu klären. Die Erzieher/innen sollten aber ihre Grenzen erkennen und nicht versuchen, professionelle Berater/innen oder gar Therapeut/innen zu ersetzen. Wird also bei der Problemdefinition (Schritt 1) oder spätestens bei der Suche nach den Ursachen (Schritt 2) deutlich, dass die Erzieher/innen nicht weiterhelfen können, sollten sie die Hilfsangebote von Beratungsstellen und anderen sozialen Diensten vermitteln und die Eltern zu deren Nutzung motivieren (Textor 1996b).

Anmerkung

Eine umfassendere Darstellung der Thematik finden Sie in meinen Büchern "Elternarbeit im Kindergarten. Ziele, Formen, Methoden" (Books on Demand, 4. Aufl. 2021) und "Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen" (Books on Demand, 3. Aufl. 2020), die im Buchhandel und z.B. bei Amazon erhältlich sind.

Literatur

Leupold, E.M.: Handbuch der Gesprächsführung. Problem- und Konfliktlösung im Kindergarten. Freiburg: Herder 1995

Teuber, M.: Tageseinrichtungen: Problemerzeugende Situationen. In: Textor, M.R. (Hg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim: Beltz 1996, S. 22-29

Textor, M.R.: Familien - Lebenslagen von "Problemkindern". In: Textor, M.R. (Hg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim: Beltz 1996a, S. 12-21

Textor, M.R.: Vermittlung der Hilfsangebote psychosozialer Dienste. In: Textor, M.R. (Hg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim: Beltz 1996b, S. 114-121

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de