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Zitiervorschlag

Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Maria Montessori

Manfred Berger


Kein(e) Ausländer(in) hat die Kindergartenpädagogik in Deutschland so maßgebend und innovativ beeinflusst wie die Italienerin Maria Montessori. Sie entwickelte ein in sich geschlossenes Programm einer systematischen Kleinkindererziehung, das sich sowohl auf entwicklungspsychologische als auch auf anthropologische Grundannahmen stützt. Ihr pädagogisches Konzept erfährt zur Zeit eine wahre Renaissance:

"Offenbar stellt die Montessori-Pädagogik ein Konzept dar, das Erziehungswissenschaftlern, in der Erziehungspraxis in unterschiedlichen Bereichen tätigen Pädagogen, aber auch Eltern und anderen interessierten Personen für die Lösung heutiger Erziehungs- und Bildungsprobleme aktuell und hilfreich erscheint" (Ludwig 1999, S. 7).

Dabei hatten sich um das Für und Wider der Montessori-Pädagogik immer wieder lebhafte Auseinandersetzungen entfacht, die in den 1920er Jahren in der "Fröbel-Montessori-Diskussion" wohl ihren Höhepunkt erreicht hatten. Zusammenfassend waren die Hauptdiskussionspunkte:

"Der wichtigste Kritikpunkt war der Vorwurf des Positivismus. Der Ärztin Montessori wurde als Grundlage ihrer Pädagogik eine rein biologistische Denkweise vorgeworfen, die jeder Theologie und Metaphysik entbehrt. Weitere Kritikpunkte waren der Vorwurf des Intellektualismus und des Individualismus" (Denner 1995, S. 71).

Besonders für den Bereich der Kindergartenerziehung galt (gilt) der Vorwurf, das didaktisch streng geordnete Montessori-Material lasse zu wenig Platz für das spontane Spiel der Kinder. Wichtig erscheint, die Pädagogik Maria Montessoris nicht auf den Einsatz ihres Materials zu verengen. Dazu formuliert treffsicher Ingeborg Becker-Textor:

"Nach Maria Montessori zu arbeiten bedeutet ... weit mehr, als nur Montessori-Material einzusetzen. Es kommt darauf an, ihre Sichtweise vom Kind zu akzeptieren und anzunehmen, sich in der Rolle in der von ihr beschriebenen 'neuen Lehrerin' zurechtzufinden. So wird ein Montessori-Kindergarten geprägt von einem anderen Geist, einer anderen Atmosphäre. Im Zentrum des pädagogischen Alltags stehen die Begriffe Freiheit, Ordnung, Stille, Konzentration, schöpferisches Lernen, Selbstentfaltung, Selbständigkeit, die neue Lehrerin, die sensiblen Perioden, das Kind als Baumeister des Menschen und nicht zuletzt die von ihr formulierte Forderung des Kindes an den Erwachsenen: 'Hilf mir, es selbst zu tun!'" (Becker-Textor o.J., S. 16 f).

Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle bei Ancona geboren. Der Vater, Alessandro Montessori, war Finanzberater, die Mutter, Renilde Montessori, geb. Stoppani, entstammte einer vornehmen Gutsbesitzerfamilie. Bald übersiedelte die Kleinfamilie nach Rom, wo Maria den größten Teil ihrer Kinder- und Jugendzeit verbrachte. Nach dem Besuch eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums, entschied sich Maria Montessori für ein Medizinstudium, das sie 1896, als erster weiblicher Doktor Italiens, mit der Promotion abschloss. Anschließend arbeitete die junge Ärztin, neben ihrer freien Praxis, mit schwachsinnigen Kindern in einer psychiatrischen Klinik Roms:

"Sie ist durch den Zustand und das würdelose Leben dieser Kinder, deren 'Schwachsinnigkeit' auch nur als eine Verhaltensauffälligkeit aufgrund ihrer sozialen Verwahrlosung erscheinen konnte, so tief berührt, daß sie sich intensiv um Abhilfe bemüht. Durch ihre Förderung lernen einige dieser 'Idioten' zum Erstaunen der Fachwelt so gut lesen und schreiben, daß sie hier die gleichen Leistungen erreichen wie Kinder an öffentlichen Schulen ... Sie studiert die Arbeiten des französischen Arztes und Pädagogen Edouard Sèguin (1812-1880) und seine Methode der 'physiologischen Behandlung' geistig behinderter ('idiotischer') Kinder. Dieser knüpfte seinerseits an Erfahrungen Jeans Itards (1774-1838) mit seinem Erziehungsversuch des 'Wildkindes von Aveyron' an. Montessori hat didaktische Materialien Sèguins unverändert übernommen, jedoch im Gegensatz zu seiner 'gebundenen Unterweisung' die 'freie Arbeit in vorbereiteter Umgebung' als den für ihre originäre Pädagogik entscheidenden Praxisansatz postuliert" (Bergeest 2000, S. 241).

Nach der Geburt ihres unehelichen Sohnes (den sie in ein Internat in der Nähe von Florenz gab), einem weiteren Studium und einer Anstellung als Professorin an der Universität in Rom bekam Maria Montessori die Gelegenheit ein Kinderhaus, genannt Casa di Bambini, in einem Armenviertel Roms nach ihren Ideen zu leiten. Das am 6. Januar 1907 eröffnete Kinderhaus war bald berühmt und viele Besucher aus aller Welt kamen, um das "Wunder von San Lorenzo" zu sehen. Weitere Kinderhäuser, die nicht nur in sozial schwachen Gegenden angesiedelt waren, wurden in Rom und Mailand eröffnet. Später u.a. auch in England, Australien, den USA und Deutschland, wo bis 1933/34 24 Kinderhäuser und 12 Montessori-Schulen bestanden hatten (vgl. Günnigmann 1979, S. 11 f).

Die zentrale pädagogische Einsicht, die Maria Montessori im Casa di Bambini im Umgang mit dem von ihr entwickelten Sinnesmaterial erfuhr, und die daraus sich ergebenen Fragen, beschreibt Helmut Heiland wie folgt:

"Die geistigen Kräfte können durch Angebote seiner Umgebung aktiviert werden. Sie äußern sich dann eruptiv, explosionsartig. Sie werden aber nicht im direkten Zugriff durch Erziehung aktiviert, sondern im freien Umgang des Kindes mit Materialien, die es seine Sinne, seine Motorik und dann eben auch seine ganze geistige Kraft auf den Gegenstand konzentrieren lassen. Das Sinnesmaterial ist also Kristallisationspunkt, der 'Faden' für die 'Lösung' der Kräfte, der auslösende Faktor oder Katalysator dafür, daß die geistigen Kräfte gebündelt werden und nach außen treten. Montessori nennt dies die Polarisation der Aufmerksamkeit. Dies also ist das Ergebnis von Montessoris Arbeit in der Casa: Geistig nicht behinderte, nicht sinnesgeschädigte Kinder im Vorschul- und Schulalter sind keineswegs als 'normal' hinsichtlich ihrer geistigen Aktivität zu betrachten. Vielmehr: Ihre geistige Kraft kann aktiviert werden durch Materialangebote, die das Kind ganz fordern, seine Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch nehmen. Die weitere Forschung Montessoris konzentrierte sich daher nun auf diese Fragen: Wenn das Sinnesmaterial für behinderte auch für 'normale' Kinder brauchbar ist, die so ihre eigentliche 'Normalheit' oder Normalisation, wie Montessori später sagen wird, erreichen können - welche weiteren Angebote und Materialien, welche spezifische Umgebung also unterstützt diesen Prozeß? Gibt es für spezifische Kräfte und Funktionen spezifische Angebote? Wie ist überhaupt die Psyche beschaffen, die eine Polarisation der Aufmerksamkeit ermöglicht?" (Heiland 1991, S. 46 f).

Mit der Eröffnung des ersten Kinderhauses begann für Maria Montessori eine weltweite aufsehenerregende Öffentlichkeitsarbeit, die an dieser Stelle nicht beschrieben werden kann (vgl. dazu Kramer 1983; Heiland 1991; Hebenstreit 1999; Schwegman 2000).

Am 27. Oktober 1922 hielt Maria Montessori, die seit 1916 in Barcelona wohnte, in der Universität zu Berlin einen vielbeachteten und umstrittenen Vortrag über "Grundlinien meiner Erziehungsmethode". Darin betonte sie die "Entwicklungsfreiheit", die ihre "neue Erziehung" den Kindern zu gewähren habe:

"Als wir das Kind erzogen, um aus ihm einen Erwachsenen nach unserem Bilde zu machen, erzogen wir es nur bis zu unseren eigenen Fähigkeiten. Es konnte uns die Frische seiner jungen Seele nicht offenbaren, weil wir es zu einer Nachahmung unser selbst führten und so die Kraft des neuen Menschen in ihm unterdrückten. Die kindliche Seele ist zart; sie braucht es mehr als jede andere, daß man sie schützt, weil sie nicht die Kraft hat, sich gegen Unterdrückung durch die Seele des Erwachsenen zu wehren: das Kind ist das einzige menschliche Wesen, das leiden kann ohne zu klagen. Sein Reichtum ist die Lebensflamme, die es dazu treibt zu wachsen und sich zu entfalten. Die Gesetze des Lebens sind in ihm enthalten, aber es kann sie uns offenbaren, wenn wir ihm Entwicklungsfreiheit lassen. Wir können also nichts anderes tun, als ihm die Mittel darzubieten, die es zu dieser Entwicklungsfreiheit führen" (zit. n. Berger 2000, S. 43).

Als die Nazis an die Macht kamen, zerstörten diese die deutsche Montessori-Bewegung. Der Bürgerkrieg in Spanien veranlasste Maria Montessori 1936 Barcelona den Rücken zu kehren und nach Amsterdam zu übersiedeln. Doch drei Jahre später verließ sie Europa und lebte bis 1946 mit ihrem Sohn und dessen Familie in Adyar (Indien). Dort entwickelte sich eine kraftvolle Montessori-Bewegung. Im Jahre 1949 kehrte Maria Montessori, die zwischenzeitlich das von Bomben zerstörte Europa bereist hatte, endgültig nach Europa zurück und zog wieder nach Amsterdam. Die hochbetagte Pädagogin führten noch Vortragsreisen u.a. nach Norwegen, Schweden und Österreich, wo sie 1951 in Innsbruck ihren letzten Ausbildungskurs hielt.

Am 6. Mai 1952 starb Maria Montessori überraschend im niederländischen Noordwijk aan Zee mitten in den Überlegungen für eine Afrikareise. Die Verstorbene wurde auf dem römisch-katholischen Friedhof in Noordwijk aan Zee beigesetzt. In ihre Grabstätte ritzte man die Worte:

IO PREGO I CARI BAMBINI, CHE POSSONO TUTTO DI UNIRSI A ME PER LA COSTRUZIONE DELLA PACE NEGLI UOMINI E NEL MONDO

Übersetzt:

"Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten".

Literatur

Becker-Textor, I.: Maria Montessori. Erziehung zur Selbständigkeit, in: kindergarten heute spezial: Pädagogische Handlungskonzepte von Fröbel bis zum Situationsansatz, Freiburg o. J.

Berger, M.: Clara Grunwald. Wegbereiterin der Montessori-Pädagogik, Frankfurt 2000

ders.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt 1995

ders.: Maria Montessori: "Hilf mir, es allein zu tun", in: Spielmittel 1998/H. 5

ders.: Pionierinnen der Kindergartenpädagogik: Maria Montessori, in: Unsere Kinder 1999/H. 3

Bergeest, H.: Maria Montessori (1870-1952), in: Buchka, M./Grimm, R./Klein, F. (Hrsg.): Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen des 20. Jahrhunderts, München 2000

Denner, E.: Montessoris Beitrag zur frühen Erziehung, in: Friedrich-Fröbel-Museum Bad Blankenburg (Hrsg.): Beiträge zum 155. Gründungsjahr der Institution Kindergarten, Bad Blankenburg 1995

Günnigmann, M.: Montessori-Pädagogik in Deutschland. Bericht über die Entwicklung nach 1945, Freiburg 1979

Hebenstreit, S.: Maria Montessori. Eine Einführung in ihr Leben und Werk, Freiburg 1999

Heiland, H.: Maria Montessori Reinbek 1991

Kramer, R.: Maria Montessori. Biographie, Frankfurt/Main 1983

Ludwig, H. (Hrsg.): Montessori-Pädagogik in der Diskussion. Aktuelle Forschungen und internationale Entwicklungen, Freiburg 1999

Schwegman, M.: Maria Montessori 1870-1952. Kind ihrer Zeit. Frau von Welt, Darmstadt 2000