Zitiervorschlag

Bildung geschieht durch Bindung. Die Person und Rolle der Erzieherin als wichtigster Impulsgebung für die kindliche Entwicklung

Armin Krenz

 

Wenn es dich nicht gäbe...

Wenn es dich nicht gäbe, wäre Vieles anders.
Ich wäre nicht so fröhlich.
Ich wäre nicht so mutig.
Ich wäre nicht so hoffnungsvoll.

Wenn es dich nicht gäbe, wäre Vieles anders.
Die Sonne wäre nicht so hell.
Der Mond wäre nicht so nah.
Der Himmel wäre nicht so blau.

Wenn es dich nicht gäbe, wäre Vieles anders.
Mein Leben wäre nicht so bunt.
Mein Leben wäre nicht so interessant.
Mein Leben wäre nicht mein Leben.

(Diego Armando)

Max Frisch, Schweizer Schriftsteller, hat sich in seinen vielen Schriften mit der Frage nach der Identität des Menschen und dem Umgang mit seiner Welt auseinandergesetzt. In seinem ersten Tagebuch (1946-1949) schrieb er unter anderem: "Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage."

Dieser Satz trifft mit seiner Bedeutung genau in die hohe Verantwortung der erzieherischen Tätigkeit. Gleich den Verfassern von Büchern, Fachartikeln und Konzeptionen, die ihre Gedanken "schwarz auf weiß" zu Papier bringen, sind es auch Erzieher/innen, die mit ihrer Persönlichkeit und ihrer besonderen Arbeitsweise eine prägende (Aus-) Wirkung auf Kinder haben - neben den Einflüssen der Elternhäuser auf ihre Kinder. Auch Erzieher/innen wirken heimlich und unentrinnbar! Entsprechend dem Watzlawick'schem Axiom, das sich der Mensch nicht nicht verhalten kann, bringen sie ihren Einfluss körpersprachlich und verbal ins Interaktionsgeschehen mit Kindern ein - wirkend und ständig Einfluss nehmend! Und damit zeigen Kinder ihre Verhaltensweisen auch (und immer) als eine Reaktion auf das subjektive Erleben der elementarpädagogischen Kräfte. Insoweit überrascht es nicht, wenn der bekannte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung einmal schrieb: "Wenn wir bei einem Kind etwas ändern wollen, sollten wir zuerst prüfen, ob es sich nicht um etwas handelt, das wir an uns selbst ändern müssen."

"Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben" (Wilhelm von Humboldt).

Ein Satz, der von hoher Aussagekraft ist und dennoch häufig außer Acht gelassen wird. Elementarpädagogische Fachkräfte sind es durch ihre (geschichtlich zurückliegende und darin begründete) Profession gewohnt, Bildungsziele für Kinder zu formulieren: Sie versuchen immer wieder dafür zu sorgen, dass sich Kind auf unterschiedlichste Herausforderungen einlassen, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden lernen, sich selbst und ihre Handlungstätigkeiten genau anschauen, Fragen stellen und Hypothesen bilden, Theorien entwerfen und diese handlungsorientiert überprüfen, ihre Handlungen durch Versuch und Irrtum immer wieder neu einrichten und gestalten, an neuen Erkenntnissen arbeiten und Erfolge erringen, unbrauchbare Strategien verwerfen und expansiv die Herausforderungen der Zeit und der Welt aufgreifen. So weit, so gut.

Doch an dieser Stelle sei spätestens jetzt darauf hingewiesen, dass Bildung nur dann geschehen kann, wo Erwachsene die für Kinder formulierten Ziele zunächst immer zu eigenen Zielsetzungen erklären, getreu dem Motto: "Nur was ich selbst begreife, verstehe und auf mich selbst übertrage ist gegebenenfalls dazu geeignet, als Zielsetzung für Kinder und deren Bildungsprozess tauglich zu sein." Bildung ist daher - wie der "Delors-Bericht" feststellt, nicht nur "der Kern der Persönlichkeitsentwicklung, in dem es darum geht, all unsere Talente voll zu entwickeln und unser kreatives Potential, einschließlich der Verantwortung für unser eigenes Leben und der Erreichung persönlicher Ziele auszuschöpfen", sondern auch eine selbstverantwortliche Aufgabe, dass "Bildung (und Qualität) stets mit Selbstbildung" beginnt. Pestalozzi hat es einmal so formuliert: "Erziehung ist Liebe und Vorbild. Sonst nichts!" Etwas abgewandelt könnte nun die aktualisierte Form dieser Aussage lauten: "Bildung ist Selbstbildung und Modell. Sonst nichts."

Ich möchte es lernen:
dir Halt zu geben, dich aber nicht zu zwingen.
Dir Stütze sein, dich aber nicht hemmen.
Dir Hilfe sein, dich aber nicht abhängig machen.
Dir nahe sein, dich aber nicht erdrücken.
Dir Raum geben, dich aber nicht alleine lassen.
Dir Geborgenheit geben, dich aber nicht festhalten.
Ich möchte lernen, für dich da zu sein -
nur so können wir beide wachsen.

(M. Feigenwinter / Änderung A. Krenz)

Konkret, auf den Punkt gebracht, könnte dies im Einzelnen bedeuten: Bildungsarbeit im Kindergarten beginnt dort, wo elementarpädagogische Fachkräfte selbst Freude daran haben, immer wieder ein neues Wissen zu erwerben, vertiefende Kenntnisse zu gewinnen, Lernherausforderungen (auf-) suchen, Handlungskompetenzen aufbauen bzw. erweitern, Konfliktkompetenzen erwerben, um vorurteilsfrei, offen und neugierig schwierige Situationen zu meistern, Interesse an der eigenen Lern- und Lebensgeschichte und der anderer Menschen zeigen, bisher verborgene Talente entdecken und neu nutzen, weltoffen auf alles Unbekannte zugehen und sich immer wieder selbst motivieren, mit Engagement und Risikofähigkeit die Welt humaner mitzugestalten.

"Erfülltsein entsteht, wenn ich das, was ich mir wünsche, in das Leben anderer bringe nach dem Motto: Sei die Quelle!" (Neale Donald Walsch).

So ist die besondere berufliche Identität stets mit der persönlichen Bildungsidentität der Erzieher/in auf das Engste verknüpft, und beide Identitätsbereiche entstehen nicht von alleine. Sie entwickeln sich vielmehr aus der eigenen Motivation heraus, humanorientierte, kompetente und professionelle Verhaltensmerkmale auf- und auszubauen, um einerseits selbstverantwortlich mit sich umgehen zu können, andererseits eine qualitätsgeprägte und bildungsoffensive Elementarpädagogik durchzuführen, die tatsächlich den viel genutzten Begriff "bildungseffiziente Qualität" zu Recht beansprucht.

"Wer bringt dem Kind das Lachen bei? Die Sonne, die Blumen. Wer bringt dem Kind das Singen bei? Die Vögel, wenn sie jubilieren. Wer bringt dem Kind das Staunen bei? Alle Dinge, die es sieht. Wer bringt dem Kind das Weinen bei? Die Menschen, wenn sie die Seele verletzen. Nur eine Kinderseele ohne Narben kann herzlich lachen" (R. Timm).

Die persönliche und berufliche Identität entwickelt sich im (selbst-) kritischen Umgang mit den eigenen, fremden und Arbeitsfeld spezifischen Anforderungen, die mit dem Berufsbild der Erzieher/in auf das Engste verbunden sind. So geht es beispielsweise darum, immer wieder selbstreflexiv die eigene Lebensgeschichte, das konkrete Verhalten mit dem konkreten Alltagsgeschehen vor Ort zu vernetzen, um festzustellen, welche Handlungsmomente konstruktiv und welche destruktiv waren/ sind. Dazu gehört unter anderem eine ausgebaute Dialogfähigkeit, um mit sich in den unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitssituationen in Selbstbetrachtungen und -verhandlungen einzutreten. Hier heißt es dann, lebendige Entwicklungsfelder zu entdecken, Entwicklungschancen zu nutzen und Fehlentwicklungen durch neue Handlungsstrategien zu ersetzen.

In einem immer wiederkehrenden Klärungsprozess müssen unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen, die man selbst an sich (zu haben) hat und die von außen kommen, auf ihre fachliche Existenzberechtigung hin überprüft werden. Es müssen Widersprüche entdeckt und geklärt, rigide Verhaltensmuster entdeckt und verändert, Auseinandersetzungen mit sich und anderen geführt, Stellung bezogen, Entscheidungen mitgetragen bzw. korrigiert bzw. durchgehalten, Selbstaktivität gezeigt, Standpunkte fachlich begründet vertreten, Lernmöglichkeiten gesucht, Selbstverantwortung übernommen und neue Handlungsstrategien ausprobiert werden.

Weiterhin geht es darum, persönliche Meinungen in Fachargumente zu wandeln, Vermutungen und Vorurteile zurück zu stellen und stattdessen Wahrnehmungsoffenheit für Realitäten zu entwickeln, Lernanregungen selbst zu bemerken und Lernräume für sich zu gestalten und Handlungsalternativen für die Situationen zu finden, die auf bisher bekannten Möglichkeiten i.S. einer tatsächlichen Lösung nicht ausreichten.

Bei all den vielen Selbstentwicklungsaufgaben wird es nicht ausbleiben, dass immer wieder Identitätskrisen auftauchen. Doch gerade sie sind immer eine Chance, ein erlebtes, aktuelles Chaos als einen Neuanfang zu verstehen. So heißt es in einer fernöstlichen Weisheit: "Du musst Abschied nehmen wenn du weiter gehen willst".

"Wir finden unsere größten Chancen und Gelegenheiten zu wachsen jenseits unserer Bequemlichkeitsbremse" (Neale Donald Walsch).

Krisen und Störungen sind Wege für innovative Veränderungen! Seit vielen Jahren schon zeichnet sich das realisierte Berufsbild der elementarpädagogischen Fachkräfte vor allem durch zwei Merkmale aus: "(l) Das berufliche Selbstbewusstsein der Erzieherinnen bleibt weit hinter der Bedeutung der tatsächlich geleisteten bzw. zu leistenden Arbeit zurück. (2) Das berufliche Selbstverständnis von Erzieherinnen ist geprägt von einer überhöhten Bereitschaft, möglichst allen Verhaltenserwartungen, die an sie gerichtet werden, gerecht zu werden." Es wäre bzw. ist eine zwingende Aufgabe in der Elementarpädagogik, diese beiden Annahmen/ Aussagen/ Realitäten endlich ins Gegenteil zu wandeln.

Doch eines ist sicher: eine bildungsoffensive Professionalität, nach außen gezeigt, wird nur dann glaubhaft aufgenommen werden, wenn eine innere Professionalität zur Entwicklung von Humanität und Fachlichkeit in Gang gesetzt und ausgebaut wird. Selbstentwicklung und Selbsterziehung führen zu einer professionellen Selbstverwirklichung und Selbstbildung - ein umgekehrter Weg führt zu Starrheit und Ignoranz von notwendigen Handlungsschritten. Aurelius Augustinus, ein großer Kirchenlehrer, sagte einmal: "In dir muss brennen, was du entzünden willst." Wenn elementarpädagogische Fachkräfte Kinder und ihre Entwicklung, Kollegien und Träger, die Öffentlichkeit und Eltern sowie die Politik i.S. einer qualitätsgeprägten und bildungsaktiven Elementarpädagogik immer wieder neu entzünden wollen, sind Engagement, offensives Handeln, Lebendigkeit und vor allem Selbstbildung unausweichlich.

Es gibt einen Weg, den keiner geht, wenn Du ihn nicht gehst.
Wege entstehen, indem wir sie gehen.

Die vielen, zugewachsenen, wartenden Wege -
von ungelebtem Leben überwuchert.

Es gibt einen Weg, den keiner geht, wenn Du ihn nicht gehst.
Es gibt einen Weg,
einen Weg, der entsteht, wenn Du ihn gehst.

(Werner Sprenger)

 

Pflicht in Liebe ausgeübt macht beständig,
Verantwortung in Liebe ausgeübt macht fürsorglich.
Gerechtigkeit in Liebe ausgeübt macht zuverlässig,
Erziehung in Liebe ausgeübt macht geduldig.
Klugheit in Liebe ausgeübt macht verständnisvoll,
Freundlichkeit in Liebe ausgeübt macht gütig.
Ordnung in Liebe ausgeübt macht großzügig,
Sachkenntnis in Liebe ausgeübt macht vertrauenswürdig.
Macht in Liebe ausgeübt macht hilfsbereit,
Ehre in Liebe ausgeübt macht bescheiden.
Besitz in Liebe ausgeübt macht freigiebig und
Glaube in Liebe ausgeübt macht friedfertig.
Ein Leben mit Liebe bringt Erfüllung.

(A. Lassen)

Literatur

Bowlby, John (2003): Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. Ernst Reinhardt Verlag

Brandes, Holger (2008): Selbstbildung in Kindergruppen. Die Konstruktion sozialer Beziehungen. Ernst Reinhardt Verlag

Crain, Holger (2005): Lernen für die Welt von morgen. Kindzentrierte Pädagogik - Der Weg aus der Erziehungs- und Bildungskatastrophe. Arbor Verlag

de Saint-Exupery, Antoine (1991): Man sieht nur mit dem Herzen gut. Verlag Herder

Friedrich, Hedi (2003): Beziehungen zu Kindern gestalten. Beltz Verlag, 3. Aufl.

Greenspan, Stanley I. (2003): Das geborgene Kind. Zuversicht geben in einer unsicheren Welt. Beltz Verlag

Grossmann, Karin/Grossmann, Klaus E. (2004): Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Klett-Cotta

König, Anke (2010): Interaktion als didaktisches Prinzip. Bildungsprozesse bewusst begleiten und gestalten. Bildungsverlag EINS

Krenz, Armin (2001): Qualitätssicherung in Kindertagesstätten. Das Kieler Instrumentarium für Elementarpädagogik und Leistungsqualität, K.I.E.L. Ernst Reinhardt Verlag

Krenz, Armin (2007): Werteentwicklung in der frühkindlichen Bildung und Erziehung. Cornelsen Verlag Scriptor

Krenz, Armin (2007): Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher. Grundlagen für die Praxis. Cornelsen Verlag Scriptor

Krenz, Armin (2009): Was Kinder brauchen. Aktive Entwicklungsbegleitung im Kindergarten. Cornelsen Verlag Scriptor, 7. Aufl.

Krenz, Armin (Hrsg.) (2007): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Vorschule + Hort. Loseblattwerk mit 5 Nachlieferungen/Jahr. Olzog Verlag

Krenz, Armin (2009): Kinder brauchen Seelenproviant. Was wir ihnen für ein glückliches Leben mitgeben können. Kösel-Verlag, 2. Aufl.

Lee, Jeffrey (2004): Abenteuer für eine echte Kindheit. Die Anleitung. Piper Verlag

Neumann, Ursula (2004): Lass mich Wurzeln schlagen in der Welt. Von den seelischen Bedürfnissen unserer Kleinsten. Kösel Verlag

Tschöpe-Scheffler, Sigrid (2003): Fünf Säulen der Erziehung. Wege zu einem entwicklungsfördernden Miteinander von Erwachsenen und Kindern. Grünewald Verlag

Autor

Dr. Armin Krenz
Institut für angewandte Psychologie & Pädagogik
Legienstr. 16
D-24103 Kiel
Tel.: 0431/93450 (tel. Sprechstunde: freitags, 9.15-11.45 Uhr)
Email: [email protected]
Homepage: www.ifap-kiel.de/krenz



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/gruppenleitung-erzieherin-kind-beziehung-partizipation/beziehungsgestaltung-gespraechsfuehrung-konflikte/2102/