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Zitiervorschlag

Gelingensbedingungen individueller Förderung in Kindertagesstätten - Ergebnisse einer Studie

Birgit Behrensen und Meike Sauerhering

 

Die Mitarbeiterinnen der Forschungsstelle Begabungsförderung des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) haben in den Jahren 2009 und 2010 eine große niedersachsenweite Studie durchgeführt, um auszuloten, wie sich individuelle Förderung in der Arbeit in Kindertagesstätten darstellt. Hintergrund dieser Studie war zweierlei. Erstens scheinen Ansätze individueller Förderung besonders geeignet für Begabungsförderung, da hiermit bei dem einzelnen Kind, seinen Interessen, seinen Lernwegen und seinem Lerntempo im Rahmen der Gruppenarbeit angesetzt werden kann. Zweitens ist bisher wenig bekannt, in welchem Ausmaß und in welcher Form in der Kita individuell gefördert wird. Die zentrale Frage, die mit der Studie beantwortet werden sollte, war also: Wie wird individuelle Förderung in der Kita verstanden und welche Ansätze und welche Bedingungen werden von Erzieher/innen als wichtig, Erfolg versprechend und umsetzbar erachtet?

Die Studie setzt sich aus zwei Teiluntersuchungen zusammen, einer quantitativen Online-Erhebung und einer qualitativen Interviewerhebung.

Den Ausgangspunkt der Gesamtstudie stellte eine Online-Befragung in den niedersächsischen Tageseinrichtungen für Kinder dar. Zu diesem Zweck wurde ein Fragebogen konstruiert, der Fragen zu drei Themenbereichen beinhaltet: die persönliche Sichtweise individueller Förderung der Fachkräfte, individuelle Förderung in der Einrichtung und der Übergang zur Grundschule. Mit Unterstützung von Praktiker/innen ist ein Fragebogen mit insgesamt 52 Fragen entstanden. Viele Fragen boten die Möglichkeit, offen zu antworten. Es handelt sich daher um einen umfangreichen Fragebogen, der den Teilnehmer/innen viel Engagement beim Ausfüllen abverlangte, ihnen andererseits aber auch die Möglichkeit bot, ihrer persönlichen Einschätzung und Meinung großes Gewicht zu verleihen. Nach der Bereinigung der Daten konnten von eingegangenen 700 Bögen 563 Fragebögen ausgewertet werden.

Nach der Online-Befragung wurden mit 36 Erzieher/innen in persönlichen Interviews ausführlichere Gespräche geführt. Geleitet von der Idee eines theoretischen Samplings (Glaser und Strauss) wurden für diesen Teil der Studie Erzieher/innen gesucht, die sich möglichst stark voneinander unterschieden, um so die Vielfalt möglicher Erfahrungen in Kindertagesstätten einfangen zu können.

In dem Gesprächsleitfaden, der für diese Interviews entwickelt wurde, sind eine Reihe von Themen als offene Fragen formuliert: Fragen zum Bild vom Kind, Fragen zu den institutionellen Erfahrungen gerichteter und ungerichteter Beobachtung (Schäfer) plus daraus resultierender Handlungen und Förderansätze, Fragen zu den Erfahrungen mit der Fokussierung auf einzelne Kinder in der täglichen Arbeit sowie mit der besonderen Beachtung verschiedener Gruppen von Kindern, Fragen zu den Erfahrungen im Umgang mit als besonders begabt wahrgenommenen Kindern, Fragen zum Verständnis des Auftrags der Kita-Arbeit, Fragen zum Bild der Eltern sowie Fragen zum beruflichen Selbstverständnis und zur Zusammenarbeit mit der Schule. Außerdem wurde nach konkreten Erfahrungen gefragt, die die Haltung der Expert/innen zu den verschiedenen Aspekten belegen oder konkretisieren.

Die Online-Daten wurden mit dem quantitativen Datenprogramm SPSS ausgewertet, während die Interviews abgetippt und mit dem Computerprogramm zur Analyse qualitativer Daten Max QDA ausgewertet wurden.

Zusammenfassend lässt sich eine Reihe typischer Merkmale zu Einstellungen individueller Förderung in Kindertagesstätten ausmachen, die zugleich die Gelingensbedingungen aus Sicht der Erzieher/innen beschreiben.

Individuelle Förderung kann als pädagogische Grundhaltung verstanden werden

Die Studie zeigt, dass der Blick der Erzieher/innen konsequent auf das einzelne Kind mit seinen spezifischen Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten gerichtet ist. Dabei überwiegt das (aktuelle) Bild vom Kind als aktivem Gestalter seiner eigenen Entwicklung. Ein solches konstruktivistisches Bild vom Kind prägt das professionelle Selbstverständnis der Erzieherinnen. In der Konsequenz ist die Erzieherin weniger eine Bildungsvermittlerin als vielmehr eine Entwicklungsbegleiterin.

Die Gestaltung der Lernumgebung, die sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen des einzelnen Kindes orientiert und das Kind zur Eigenaktivität anregt, ist der Kern individueller Förderung in der Kita. Den Erzieher/innen geht es nicht um eine Vorverlagerung schulischer Lerninhalte, also nicht um eine zusätzliche Anreicherung des Kita-Alltags mit neuen Wissensinhalten.

So verstandene individuelle Förderung unterstützt das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Im Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsauftrag der Kita ist diese Unterstützung ausdrücklich formuliert und entspricht auch der elementarpädagogischen Tradition. Auf diesem Wege kann individuelle Förderung den Eigenwert der Kita stärken, weil sie ihrem originären Auftrag entspricht.

Individuelle Förderung kann in jeder Kita stattfinden

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass individuelle Förderung grundsätzlich in jeder Tageseinrichtung für Kinder stattfinden kann und in vielen auch stattfindet. Die Studie zeigt eindeutig, dass individuelle Förderung weder vom Träger noch vom pädagogischen Konzept oder der Organisationsform der Gruppen abhängt. Wir können aufgrund unserer Studie diesbezügliche Zusammenhänge ausschließen. Allein was die Einrichtungsgröße angeht, lässt sich eine kleine Nuancierung feststellen: Denn in der Tendenz arbeiten Erzieher/innen, die individueller Förderung positiv gegenüber eingestellt sind, eher in größeren Einrichtungen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass das Nebeneinander verschiedenster pädagogischer Ansätze, das die deutsche Landschaft von Tageseinrichtungen für Kinder prägt, der Verbreitung einer Grundhaltung individueller Förderung nicht im Wege steht - ja vielleicht sogar unterstützt.

Individuelle Förderung bedarf struktureller Voraussetzungen

Erzieher/innen leisten individuelle Förderung nicht alleine sondern immer in Abstimmung mit den Gruppenkolleg/innen oder dem gesamten Kita-Team. Es müssen in den Einrichtungen daher Strukturen vorhanden sein, die eine entsprechende Vor- und Nachbereitung gewährleisten können. Als hilfreich erweisen sich festgelegte Zeiten zum inhaltlichen Austausch, in denen gemeinschaftlich Aktivitäten geplant und reflektiert werden können und in denen zusätzlich Zeit für Einzelfallbesprechungen zur Verfügung steht. Hier ist noch erheblicher Entwicklungsbedarf, denn nach den Ergebnissen der Online-Befragung stehen solche Zeitfenster nur bei etwa der Hälfte der Befragten zur Verfügung. In den persönlichen Interviews beschreiben einige Erzieher/innen sogar, dass sie aufgrund der fehlenden Möglichkeiten im Arbeitsalltag dazu übergegangen sind, solche Besprechungen in ihrer Freizeit durchzuführen. Manche Erzieher/innen berichten, dass die fehlende Zeit für Reflexion dazu führt, dass nicht alle Kinder gleichermaßen wahrgenommen werden können.

Wichtig ist auch der Hinweis, dass sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen - wie dem Personalschlüssel von zwei Erzieher/innen für eine Gruppe von 25 Kindern in Regeleinrichtungen - individuelle Förderung nicht für jedes Kind in der täglichen Praxis umsetzen lässt. Auch wenn es der pädagogischen Grundhaltung entspricht, jedes Kind individuell fördern zu wollen, wird es zu einer Notwendigkeit im Alltag, Kindern mit sozial erwünschtem Verhalten weniger Aufmerksamkeit und in Folge dessen weniger oder keine individuelle Förderung zukommen zu lassen.

Zeit spielt grundsätzlich eine wichtige Rolle. So ist das individuelle Entwicklungstempo der Kinder zu berücksichtigen. Auch brauchen die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen unterschiedlich viel Raum. Erst durch die Anerkennung dieser individuellen Zeitbedürfnisse kann sowohl die Erzieherin als auch das Kind selbst wahrnehmen, welche Erfahrungen für die jeweils anstehenden Entwicklungsaufgaben gerade relevant sind. Individuelle Förderung braucht in der Konsequenz Zeit, die nicht vermessen und verplant ist.

Die Beziehungsqualität nimmt eine Schlüsselrolle ein

Die professionelle Beziehung zum Kind ermöglicht es der Erzieherin, das Kind in seiner Einmaligkeit zu achten und wert zu schätzen. Andersherum stellt diese Achtung und Wertschätzung eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau von gelungenen Beziehungen dar. Zugleich gilt es, die unterschiedlichen Bedürfnisse eines jeden Kindes nach Nähe oder Distanz beziehungsweise nach Sicherheit oder Freiheit in der Kita zu achten. Für die Erzieherin bedeutet es, das eigene pädagogische Verhalten diesem Bedürfnis fortwährend anzupassen.

Dem Bedürfnis der Kinder sowohl nach Sicherheit als auch nach Freiheit kann in allen Organisationsformen entsprochen werden. Die Strukturen der Einrichtungen sind als Antworten zu verstehen, die sich aus der Verschiedenheit des professionellen Selbstverständnisses der Erzieher/innen und der unterschiedlichen pädagogischen Konzeptionen ergeben.

Offene Beobachtung ist die Basis für das Handeln im pädagogischen Alltag

Die Studie zeigt, dass die Fachkräfte offene Beobachtung und eigene Verfahren favorisieren. Standardisierte Verfahren bewähren sich dagegen nur dann im Kita-Alltag, wenn sie mit der Erzieher/innentätigkeit und mit der Beziehung zum Kind im Einklang stehen. Zum einen entspricht die Standardisierung von Beobachtung nicht der professionellen pädagogischen Grundhaltung, da hierdurch Normierungen oder Defizite in den Vordergrund geraten. Zum anderen lassen sich viele standardisierte Beobachtungsverfahren schlecht in den Kita-Alltag einpassen. Die Bearbeitung von Beobachtungsbögen wird in der Konsequenz oftmals als zusätzliche Belastung betrachtet, die das pädagogische Handeln nicht beeinflusst, sondern Zeit für die direkte Arbeit am Kind raubt. Letztendlich dient sie vielen Fachkräften lediglich als Grundlage für Entwicklungsgespräche mit Eltern oder Lehrer/innen.

Die Professionalität vieler Erzieher/innen zeigt sich darin, dass es ihnen gelingt, ihre offenen Beobachtungen intersubjektiv abzusichern, weil sie gezielt Gespräche mit Kolleg/innen zur Überprüfung ihrer Einschätzungen suchen. Zusätzlich gelingt es den Erzieher/innen teilweise, standardisierte Verfahren kreativ zu nutzen, um eine Bereicherung für das pädagogische Handeln daraus zu ziehen.

Sowohl mit der offenen als auch mit der standardisierten Beobachtung kann die Erzieherin der Verschiedenheit der Kinder gerecht werden. Ein ressourcenorientierter Beobachtungsblick im Sinne einer Anerkennung dieser Verschiedenheit braucht dabei Übung und gewinnt durch die Rücksprache mit Kolleg/innen.

Individuelle Förderung ist ein Balanceakt

Die Umsetzung individueller Förderung im Kita-Alltag stellt sich als Balanceakt auf vielerlei Ebenen dar. So muss die Erzieherin-Kind-Beziehung permanent austariert werden, um den jeweiligen Bedürfnissen der Akteure beispielsweise nach Nähe oder Distanz gerecht zu werden. Auch muss die Erzieherin immer wieder aufs Neue entscheiden, ob sie sich in Spielsituationen einmischt oder Beobachterin bleibt. Hier gilt es, eine Balance zu halten zwischen dem Vertrauen auf die Eigenaktivität des Kindes und unterstützendem Erzieher/innenhandeln. In der Beobachtung indessen besteht der Balanceakt darin, einerseits die Ressourcen des einzelnen Kindes in den Blick zu nehmen, die Defizite andererseits aber nicht aus den Augen zu lassen. Ferner wird der Umgang mit Zeit von der Erzieherin als komplexer Balanceakt erlebt, der sowohl die tägliche Arbeit beeinträchtigt als auch Einfluss auf das Selbstverständnis der Arbeit als Erzieherin hat. Es gilt zu entscheiden, wie viel Zeit für die direkte Arbeit am Kind beziehungsweise für Planung, Gestaltung und Reflexion verwendet wird. Wie viel der täglichen Betreuungszeit bleibt unverplant, wie viel wird vorstrukturiert?

Erzieher/innen müssen auf die Anforderungen, die von außen an sie herangetragen werden, ebenso reagieren, wie sie ihren eigenen Überzeugungen gerecht werden müssen. Dieser Balanceakt wird beispielsweise in der Schulvorbereitung sichtbar. Obwohl die Mehrheit der Erzieher/innen es als ihre wichtigste Aufgabe ansieht, das Kind durch Persönlichkeitsstärkung auf die Herausforderungen in Schule vorzubereiten, sehen Erzieher/innen sich gleichzeitig in der Rolle, konkrete schulspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie stillsitzen können und zuhören oder phonologische Bewusstheit, zu fördern. Ebenso werden die gesellschaftlichen Anforderungen, die beispielsweise von Eltern an die Kita herangetragen werden, als Herausforderung erfahren. So muss beispielsweise die Balance zwischen den Polen gefunden werden, ein möglichst breites Angebot an Frühfördermaßnahmen zu präsentieren und zugleich die jeweiligen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder als handlungsleitende Maxime in das Zentrum der täglichen Arbeit zu stellen.

Individuelle Förderung kann als komplexe Antwort auf Verschiedenheit und Heterogenität im professionellen Alltagshandeln der Kita verstanden werden, weil mit ihr sowohl das einzelne Kind als auch die Gruppe in den Blick genommen wird.

Anmerkung

Veröffentlichung zur gesamten Studie: Behrensen, B./Sauerhering, M./Solzbacher, C./Warnecke, W.: Das einzelne Kind im Blick. Individuelle Förderung in der Kita. Freiburg 2011.

Autorinnen

Dr. Birgit Behrensen und Meike Sauerhering, M.A., sind Mitarbeiterinnen der Forschungsstelle Begabungsförderung des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Die Forschungsstelle Begabungsförderung ist eine von vier Forschungsstellen des nifbe. Die Studie ist in der pädagogischen Abteilung der Forschungsstelle entstanden, die von Prof. Dr. Claudia Solzbacher geleitet wird.

Homepage: www.nifbe.de
Email: [email protected] oder [email protected]