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Zitiervorschlag

Aus: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa HRS 2008, 16, S. 132-136 (auch erschienen in: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa BY 2008, 20, S. 222-226). Veröffentlichung mit Genehmigung der Wolters Kluwer Deutschland GmbH

Kinder sollen sich in der Kita wohlfühlen. Bindung als Grundlage der Erzieherin-Kind-Beziehung

Martin R. Textor

 

Wenn Sie an Ihre eigene Kindergartenzeit zurückdenken, woran erinnern Sie sich? An die Ausstattung der Räume oder irgendwelche Spielsachen? An bestimmte Lieder oder Reime? An Kreisspiele oder Bastelaktivitäten? An Feste oder Ausflüge? Nein, all dies dürfte weitgehend aus Ihrem Gedächtnis verschwunden sein. Aber wahrscheinlich erinnern Sie sich noch an Ihre Erzieherin – die Person nach Ihren Eltern, zu der Sie in der frühen Kindheit die intensivste Beziehung gehabt haben, die Sie liebten und nach deren Zuneigung Sie getrachtet haben.

So ähnlich wird es in einigen Jahren auch den von Ihnen betreuten Kindern ergehen: Sie werden sich nicht mehr an irgendwelche (Sprach-)Förderprogramme, naturwissenschaftliche Experimente oder Projekte erinnern – aber noch an Sie. Und von Ihrem jetzigen Verhalten hängt ab, ob die Erinnerungen eher positiv oder eher negativ sein werden: „Frau X lief immer mit irgendwelchen Beobachtungsbögen herum, die sie ausfüllen musste, verschwand stundenlang im Leiterinnenzimmer und holte immer wieder Kinder in den Nebenraum, um mit ihnen bestimmte ‚Aktivitäten‘ zu machen.“ Oder: „Frau Y war ganz schön streng und hat viel von uns erwartet. Aber sie hatte meistens auch Zeit für ein Gespräch, und ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich mochte.“

Für Kleinkinder sind also Beziehungen und die damit verbundenen Emotionen vorrangig – nicht irgendwelche Lern- und Förderprogramme. Sie streben nach einem guten Verhältnis zu ihrer Erzieherin und den anderen Kindern – trotz aller Konflikte, Machtkämpfe, aggressiven Verhaltensweisen und Rückzugstendenzen, die im Grunde nur auf die in der frühen Kindheit noch nicht hinreichend ausgebildeten sozialen Kompetenzen verweisen. Kleinkinder wollen geliebt, geachtet und akzeptiert werden, und sie möchten Zuneigung und Liebe geben. Und so wachsen Kinder am besten in einem emotionalen Klima heran, das durch intensive positive Gefühle gekennzeichnet ist.

Kleinkinder haben aber aufgrund ihres Status und ihrer mangelnden sozialen Fertigkeiten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, die Beziehung zu ihrer Erzieherin zu beeinflussen. Hingegen besitzt die Fachkraft nicht nur eine große Gestaltungskraft bezüglich der Beziehung zu jedem einzelnen Kind, sondern sie besitzt auch die Macht, sein Verhalten und sein Erleben, seine Persönlichkeit und sein Selbstbild, seine kognitive und soziale Entwicklung in hohem Maße zu prägen.

Trotz der großen Bedeutung der Erzieherin-Kind-Beziehung wird diese in den Erziehungs- und Bildungsplänen der Bundesländer kaum thematisiert. In der Diskussion um die Qualität der Kindertagesbetreuung ist die Beziehungsqualität weitgehend ausgeklammert worden, weil sie sich nur sehr schwer messen lässt und dementsprechend graduelle Verbesserungen bzw. Verschlechterungen kaum zu erfassen sind. Wissenschaftliche Studien sind sehr selten, da die Erzieherin-Kind-Beziehung nur durch langfristige Beobachtungen untersucht werden kann, was sehr personal- und zeitaufwändig ist. Erst recht fehlen Forschungsarbeiten, bei denen ermittelt wurde, ob und wie verschiedene Ausprägungen der Erzieherin-Kind-Beziehung bzw. unterschiedliche Formen der Interaktion zwischen Fachkraft und Kind zu andersartigen Resultaten führen – beispielsweise hinsichtlich des Gefühls der Geborgenheit, des Explorationsverhaltens, des Lernerfolgs oder des Selbstbildes des jeweiligen Kindes. Und so gibt es für Erzieher/innen auch keine wissenschaftlich fundierten Materialien zur Reflexion und Analyse ihrer Beziehung zu jedem einzelnen Kind in ihrer Gruppe.

Bindungen

Laut der Bindungstheorie, die von John Bowlby (2006) begründet wurde, benötigen Babys und Kleinkinder lang andauernde und sichere Beziehungen zu Erwachsenen, um sich normal bzw. positiv entwickeln zu können. Besonders intensive Beziehungen werden als „Bindungen“ bezeichnet; sie werden zunächst zwischen Säugling und Mutter ausgebildet, etwas später auch zwischen Baby und Vater. Erst seit einigen Jahren wird akzeptiert, dass Kleinkinder Bindungen über die Beziehungen zu den Eltern hinaus auch mit einigen wenigen weiteren Menschen eingehen (können), wenn diese über einen längeren Zeitraum hinweg viel Zeit mit dem jeweiligen Kind verbringen, ihm Zuneigung und Zuwendung entgegenbringen, intensiv mit ihm interagieren, auf seine verbalen und nonverbalen Äußerungen eingehen sowie angemessen auf seine Bedürfnisse und Wünsche reagieren.

Babys und Kleinkinder entwickeln sich am besten, wenn sie in primären Beziehungen zu einigen Menschen leben, die sie „mit einem eng gesponnenen Netz“ aus Liebe und Zuneigung umgeben (Baker & Manfredi/Petitt 2004, S. 7). Selbstverständlich findet nur ein Teil der Kinder solche Entwicklungsbedingungen vor. Die Qualität der Beziehungen zu anderen Menschen ist zumeist unterschiedlich; die Gesamtheit der Beziehungserfahrungen prägt erst die soziale, kognitive, emotionale und Persönlichkeitsentwicklung des jeweiligen Kindes. Besonders negativ wirkt sich aus, wenn die Beziehungen zu den Eltern problematisch sind. So gibt es neben sicher gebundenen Kleinkindern auch unsicher oder ambivalent gebundene (siehe hierzu Becker-Stoll 2007).

Erzieherin-Kind-Beziehung

Wenn ein Kleinkind in eine Kindertageseinrichtung aufgenommen wird, verlässt es in der Regel zum ersten Mal für längere Zeit den engen Kreis seiner Familie. In der neuen Situation ist es zunächst unsicher, verängstigt und unglücklich. In dieser Übergangsphase ist es wichtig, dass die Erzieherin möglichst schnell zu einer primären Bezugsperson wird - zu einer Basis, wo sich das Kind beschützt und geborgen fühlt, von der aus es die noch weitgehend unbekannte Umgebung erkundet und mit den anderen Kindern Kontakt aufnimmt und zu der es bei Bedarf zurückkehren kann, um sich trösten zu lassen und wieder Mut für neue Unternehmungen zu finden. Baker und Manfredi/Petitt (2004) ergänzen: „Die besten Betreuer/innen sind diejenigen, die fähig sind, sich selbst emotional zu investieren und Kinder in ihre Herzen aufzunehmen. Qualitativ gute Fachkräfte reagieren mit Mitgefühl, wenn Kinder verängstigt oder traurig sind“ (S. 56).

Voraussetzungen für die Entstehung einer bindungsähnlichen Beziehung oder gar einer Bindung zwischen Erzieherin und Kind sind zum einen genügend – oder besser viel – Zeit für individuelle Interaktionen auf Seiten der Fachkraft und zum anderen Eigenschaften, Haltungen und Verhaltensweisen wie Sensibilität, Empathie, Respekt, Wertschätzung, Rücksichtnahme, emotionale Wärme, Zuneigung, positive Rückmeldung, Akzeptanz der Persönlichkeit und des Wesens des Kindes sowie Anerkennung seiner Individualität. Bindungen entstehen auch leichter in kleinen und stabilen Gruppen. Besonders wichtig ist aber, dass sich die Fachkräfte bewusst machen, wie wichtig Bindungen im Leben von Kleinkindern sind und welche Bedeutung sie für eine positive Entwicklung haben. Erst dann werden sie Beziehungsarbeit als Haupttätigkeit von Erzieher/innen verstehen und offen für Bindungen sein (vgl. Becker-Stoll & Textor 2007).

Körperkontakt

Carlson (2006) betont die Bedeutung des Körperkontakts für den Aufbau und die Pflege von Bindungen. Sie schreibt: „Wenn man Kinder warmherzig berührt, sie auf den Schoß nimmt und fürsorglich reagiert, wenn sie unglücklich sind, dann gibt man ihnen die für ein gesundes Selbstbild erforderlichen Zutaten - man gibt ihnen das Gefühl, geschätzt, gehegt und beschützt zu werden“ (S. 21). Auch wenn Kinder ängstlich sind, Sorgen haben, sich mit anderen Kindern gestritten haben, traurig sind oder verletzt wurden, hilft ihnen am meisten, wenn Erzieher/innen sie ankuscheln und Mitgefühl zeigen.

Viele Kinder suchen von sich aus den Körperkontakt, andere sind zurückhaltender. Auch gibt es diesbezüglich kulturelle Unterschiede. Deshalb sollten sich Erzieher/innen bei Berührungen von den Reaktionen der Kinder leiten lassen – diese müssen sich dabei wohl fühlen. Oft bevorzugen einzelne Kinder bestimmte Formen des Körperkontakts und lehnen andere ab. Ältere Kinder, die neu in die Gruppe aufgenommen worden sind, sollten gefragt werden, bevor man sie berührt oder auf den Schoß nimmt: „Kinder werden uns wissen lassen, welche taktilen Erfahrungen für sie angenehm sind, sowie wann, wo und wie sie berührt werden möchten“ (Carlson 2006, S. 30). So tragen Berührungen auch zur Entwicklung des Körperbewusstseins bei. Wenn Erzieher/innen sich an den Reaktionen der Kinder orientieren, lernen diese, dass sie das Recht haben, über ihren Körper zu bestimmen.

In einer Zeit, in der sexueller Missbrauch häufig thematisiert wird, haben vor allem Erzieher, aber auch manche Erzieherinnen Angst, dass körperliche Berührungen bei einem Kind von anderen Erwachsenen missverstanden werden könnten. Deshalb halten sie sich in dieser Hinsicht zurück. Das wirkt sich aber keinesfalls positiv auf die ihnen anvertrauten Kinder aus – diese fühlen sich weniger geliebt und geborgen, entwickeln weniger enge Beziehungen.

Es ist deshalb sinnvoll, sich in einer Teamsitzung mit Körperkontakt zu befassen. Hilfreich sind hier folgende Fragen (nach Carlson 2006, S. 29):

  • Welche Arten von Berührungen erleben Kinder in ihrer Gruppe seitens der Erzieher/innen und anderer Kinder?
  • Welche Formen des Körperkontakts sollten häufiger, welche seltener und welche gar nicht auftreten?
  • Fühlen sich die Kinder wohl, geborgen und sicher in ihren Gruppen? Benötigen sie mehr oder weniger Körperkontakt seitens der Erzieher/innen?
  • Berücksichtigen die Fachkräfte individuelle Vorlieben und Abneigungen sowie kulturelle Unterschiede hinsichtlich Berührungen?
  • Fühlen sich Teammitglieder unwohl, wenn sie (andersgeschlechtliche) Kinder berühren? Vermeiden sie Körperkontakt oder überlassen sie ihn weitgehend der zweiten Fachkraft in der Gruppe?
  • Gab oder gibt es irgendwelche Probleme hinsichtlich des Körperkontakts?
  • Wie fühlen sich die Teammitglieder, wenn sie von Kindern berührt werden? Gibt es Formen des Körperkontakts, die sie nicht mögen? Wie können sie dies Kindern mitteilen, ohne dass sich diese zurückgewiesen fühlen?

Sinnvoll ist, wenn das Team Richtlinien bezüglich des Körperkontakts erarbeitet und diese auf geeignete Weise den Eltern bekannt macht (z.B. in der Konzeption der Kindertageseinrichtung).

Interaktion und Kommunikation

Beziehungen bzw. Bindungen entstehen aus Interaktionen und bestehen aus ihnen. Ihre Intensität hängt weitgehend von der Qualität der verbalen und nonverbalen Kommunikation ab: „... Beziehung ist immer erlebter Austausch, der in jedem Moment der Begegnung gelingen oder misslingen kann“ (Friedrich 2003, S. 12).

So sollten Erzieherin-Kind-Beziehungen reich an Interaktionen sein. Diese fördern am ehestens Bindungen, wenn die Fachkräfte

  • sich auf Augenhöhe der Kinder begeben, sodass die Machtunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern weniger wirksam sind.
  • das Bedürfnis der Kinder nach Aufmerksamkeit befriedigen, also nicht nur ansprechbar sind, sondern auch interessiert zuhören, nachfragen und eventuell das Gesagte in eigenen Worten zusammenfassen.
  • sensibel und verständnisvoll sind, also die oft noch unbeholfenen und unklaren Äußerungen von Kleinkindern sowie die dahinter stehenden Bedürfnisse, Intentionen und Befindlichkeiten zu erkennen und zu verstehen versuchen.
  • sich in die Kinder, ihre Gefühls- und Gedankenwelt, ihre ganz eigene Logik und Sicht der Dinge hineinversetzen und sie ernst nehmen.
  • responsiv sind, also unmittelbar auf (verbale und nonverbale) Äußerungen der Kinder reagieren und Anteilnahme zeigen – ohne aber gleich zu werten, es (immer) besser zu wissen, Ratschläge zu erteilen, mit Informationen zu überschütten usw.
  • angemessen reagieren, also das Alter, den Entwicklungsstand und die Individualität eines Kindes, seinen momentanen Zustand und die aktuelle Situation berücksichtigen.
  • Kinder als gleichberechtigten Gesprächspartner akzeptieren, die offen ihre Gedanken und Gefühle äußern dürfen, die nicht unterbrochen werden und deren Aussagen als bedeutsam betrachtet werden.
  • verständlich, direkt und kongruent kommunizieren – verbale und nonverbale Botschaften sollten immer übereinstimmen.
  • konsistent sind und sich für Kleinkinder vorhersehbar
  • authentisch kommunizieren, also z.B. den eigenen Gefühlszustand nicht verheimlichen.
  • Kritik an Kindern in der Form von Ich-Botschaften senden, sodass sich diese nicht angegriffen bzw. in ihrem Selbstwert verletzt fühlen.
  • auch Kritik seitens der Kinder zulassen und diese ernst nehmen.

In Interaktionen verändern sich sowohl das jeweilige Kind als auch die Erzieherin: Sie lernen einander immer besser kennen, setzen sich mit dem Gehörten und Erfahrenen auseinander, passen ihr Verhalten aneinander an. Hinzu kommt, dass Erzieherin-Kind-Interaktionen in besonders hohem Maße entwicklungsfördernd sind: Zum ersten erweitert das Kind seinen Wortschatz, beherrscht es die Sprache immer besser und erwirbt es kommunikative Kompetenzen, die für die Alltagsbewältigung, die Schullaufbahn und den weiteren Lebensweg sehr wichtig sind. Zum zweiten lernt es sich selbst immer besser kennen, da seine Gedanken, Gefühle und Intentionen von der Fachkraft geklärt und „gespiegelt“ werden: Es entwickelt ein Selbstbild. Zum dritten bildet das Kind kognitive Kompetenzen aus, da in Erzieherin-Kind-Interaktionen besonders oft ko-konstruktive Bildungsprozesse auftreten und höherwertige Denkfunktionen stimuliert werden („gemeinsames längerfristiges Denken“, siehe Textor 2007a). Baker und Manfredi/Petitt (2004) ergänzen: „... Interaktionen lehren Kindern, was zu fürchten ist, welche Verhaltensweisen angemessen sind, wie Botschaften empfangen werden und wie auf sie reagiert wird, wie man seine Bedürfnisse durch andere befriedigt bekommt, welche Emotionen in welcher Intensität geäußert werden können und ob man der Aufmerksamkeit des anderen wert ist oder nicht“ (S. 10).

Kindzentrierung

Deutlich wird, dass die Intensität der Erzieherin-Kind-Beziehung bzw. -bindung in hohem Maße dadurch geprägt wird, wie stark sich die Fachkraft mit dem jeweiligen Kind befasst. Henneberg et al. (2004) sprechen hier von „Kindzentrierung“ als der von Erzieher/innen geforderten professionellen Haltung gegenüber Kindern: „Kindzentriert zu handeln und zu denken, bedeutet im Einzelnen:

  • das einzelne Kind als handelndes Subjekt mit seinen besonderen Bedürfnissen, Interessen und Entwicklungsrhythmen wahrzunehmen.
  • die subjektive Wirklichkeit des Kindes wahrzunehmen, alle Angelegenheiten auch aus dessen Perspektive zu betrachten.
  • auf die Kräfte des Kindes zu vertrauen; den Blick auf das zu richten, was Kinder schon können, statt auf das, was sie noch nicht können.
  • erwachsenes Vorauseilen, Besserwissen und Beherrschen zurückzunehmen, das Kind seine eigene Welt erforschen zu lassen, statt es auf die Gebiete der Erwachsenen zu drängen.
  • dem Kind das Wort zu geben, es an allen wichtigen Entscheidungen zu beteiligen, es um Rat zu fragen und bereit zu sein, sich von ihm beeinflussen zu lassen.
  • die Entwicklungsbedingungen und -gesetzmäßigkeiten des Kindes zur Grundlage der pädagogischen Arbeit zu machen.
  • Kindzentrierung setzt vor allem den Dialog Der Dialog als Merkmal der Kindzentrierung wohnt allen anderen Merkmalen inne. Er ist eine besondere Kommunikationsweise, eine spezielle Form, sich dem Anderen zu nähern und mit ihm in Kontakt zu treten; er durchzieht sämtliche Ausdrucksformen kindzentrierter Haltung. In der Dialogfähigkeit und -bereitschaft von Erwachsenen wird deren kindzentrierte Haltung am deutlichsten spürbar“ (S. 16).

Besonders wichtig ist, dass Erzieher/innen den Selbstzweck des Kindes anerkennen, es also nicht in ein bestimmtes Schema pressen, ihm seinen Entwicklungsweg vorgeben oder sein Verhalten manipulieren wollen. Sie sollten es als ein Handlungsobjekt mit eigenen Bedürfnissen, Bestrebungen, Interessen und Zielen sehen. Jedes Kind hat ein Recht auf Selbstverwirklichung.

Bindungsfördernde und -hemmende Faktoren

Die Entstehung von Bindungen in der Übergangssituation wird oft dadurch erschwert, dass Eltern Vorbehalte gegen die Fremdbetreuung ihres Kindes haben, es nicht loslassen können (z.B. bei Überbehütung oder symbiotischen Beziehungen) oder Angst haben, dass die Erzieherin eine zu große (sie verdrängende) Bedeutung in seinem Leben bekommen könnte, und deshalb mit ihr um die Liebe ihres Kindes konkurriert. Dann ist das Kind nicht frei, neue Beziehungen einzugehen, und gerät leicht in Loyalitätskonflikte. Aber auch wenn Kleinkinder nur unsichere oder ambivalente Bindungen an ihre Eltern ausbilden konnten, wenn sie von daheim überwiegend negative Zuwendung kennen oder wenn sie vernachlässigt, misshandelt bzw. sexuell missbraucht wurden, wird die Ausbildung von Bindungen erschwert: Diese Erfahrungen erschweren es Kindern, auf die Erzieher/innen zuzugehen und Vertrauen in sie zu entwickeln.

Aber auch viele Faktoren in Kindertageseinrichtungen können die Ausbildung von Bindungen bzw. bindungsähnlichen Beziehungen zwischen Erzieher/innen und Kindern erschweren, zum Beispiel:

  • die Auffassung, Kindergärten seien Dienstleistungsunternehmen, deren Mitarbeiter/innen bei der Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern "professionell" – emotional distanziert – vorzugehen hätten.
  • das Verständnis der eigenen Arbeit als "Job" - dann sind Fachkräfte nicht bestrebt, sich in Beziehungen zu Kindern gefühlsmäßig zu engagieren und Bindungen zuzulassen.
  • die Verschulung von Kindertageseinrichtungen, die dazu führt, dass schon Kleinkinder nur noch entsprechend ihrer Leistungen behandelt werden (dass Erzieher/innen also nur positiv auf sie reagieren, wenn die Kinder Dinge "richtig" oder "gut" gemacht haben).
  • die Bestrafung, Abwertung, Beschämung oder Demütigung von Kindern, wenn diese Erwartungen nicht erfüllen, etwas falsch machen oder Regeln nicht befolgen.
  • die die Selbstbestimmung von Kindern einschränkende und ihr Selbstbild beeinträchtigende Verhaltensweisen von Erzieher/innen, insbesondere wenn diese häufig auftreten: z.B. befehlen, kommandieren, drohen, verhören, beschuldigen, verurteilen, beschimpfen und lächerlich machen, aber auch Sarkasmus und Ironie.
  • das Ignorieren von Kindern: Amerikanische Untersuchungen ergaben, dass viele Kinder während einer Woche von den Fachkräften überhaupt nicht beachtet wurden und keinerlei Zuwendung erfuhren (siehe Textor 2007b).
  • zu große Gruppen bzw. ein zu hoher Erzieher-Kind-Schlüssel, was häufige Interaktionen mit einzelnen Kindern nahezu unmöglich macht.
  • zu viele Betreuungspersonen (z.B. bei offenen Gruppen, Schichtarbeit, vielen Teilzeitstellen, kurzzeitige Mitarbeit von Praktikant/innen), da dies insbesondere bei unterdreijährigen Kindern die Ausbildung von Bindungen erschwert.
  • ein häufiger Personalwechsel in der Gruppe bzw. Einrichtung, sodass Beziehungen der Kinder zu Fachkräften immer wieder abgebrochen werden.
  • ein aus rein organisatorischen Gründen erfolgter Gruppenwechsel, der einen plötzlichen Abbruch der Erzieherin-Kind-Beziehung bedingt.
  • negative Einstellungen gegenüber den Eltern des jeweiligen Kindes, die z.B. zu einer (unbewussten) Abwertung des Kindes und seiner Familiensituation führen – was oft vom jeweiligen Kind gespürt bzw. als Ablehnung der eigenen Person verstanden wird.
  • die Vorstellung, die Erzieherin sei eine bessere "Mutter" und könne eher die Bedürfnisse des Kindes befriedigen – was zur Konkurrenz mit der leiblichen Mutter und zu Loyalitätskonflikten beim Kind führt.
  • negative Vorbilder: Wenn es im Team chronische Konflikte gibt bzw. die Mitglieder distanziert, formal, respektlos oder feindselig miteinander umgehen, sind die Fachkräfte mit ihren Problemen beschäftigt und damit weniger offen für Bindungen. Zudem "vergiftet" diese Situation die Atmosphäre in den Gruppen.

Wenn aufgrund dieser Faktoren Kleinkinder zumeist unbefriedigende Beziehungserfahrungen machen und sich in der Gruppe eher unsicher fühlen, ist mit vielen Problemen zu rechnen: Beispielsweise suchen viele Kinder, die nicht sicher gebunden sind und sich wenig geliebt fühlen, ruhelos nach Zuwendung – egal ob positiver oder negativer Art (also auch durch Stören, Clownerie, häufiges Weinen, aggressives Verhalten usw.). Andere Kinder ziehen sich in sich zurück und kapseln sich ab. Um das Entstehen solcher Verhaltensauffälligkeiten zu verhindern, sollten Erzieher/innen versuchen, die im jeweiligen Fall wirkenden bindungshemmenden Faktoren ausfindig zu machen und abzubauen. Das bedingt oft eine Veränderung der eigenen Einstellungen und des eigenen Verhaltens.

Vor allem aber sollten in den Kindertageseinrichtungen bindungsfördernde Faktoren intensiviert werden. Sie umfassen beispielsweise:

  • die Einstellung, dass Bindungen bzw. bindungsähnliche Beziehungen zwischen Erzieher/innen und Kindern wichtig sind, den Bedürfnissen von Kleinkindern entsprechen und sich positiv auf deren Entwicklung auswirken.
  • eine herzliche Begrüßung bei Ankunft des Kindes in der Gruppe, wobei so oft wie möglich Interesse am Befinden des Kindes und seiner Eltern gezeigt wird, und eine nette Verabschiedung, bei der eventuell auch Informationen über neue (Lern-)Erfahrungen des Kindes an seine Eltern weitergegeben werden.
  • möglichst tägliche positive verbale und nonverbale Interaktionen mit jedem einzelnen Kind – und sei es auch nur ein liebevoller Blick, eine Geste oder ein freundliches Wort.
  • die Vermittlung des Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit durch viel Körperkontakt, Rituale und die Gestaltung einer positiven Gruppenatmosphäre.
  • die Akzeptanz des Wechsels von Kindern zwischen Nähe und Distanz (zwecks Ausbildung eines abgegrenzten Selbst, der Entwicklung von Selbständigkeit und Selbstvertrauen).
  • der Versuch, Kinder immer zu verstehen (auch wenn sie der [deutschen] Sprache noch kaum mächtig sind).
  • die Akzeptanz der Familiensituation und -kultur der Kinder (z.B. Scheidung, Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, Migrantenstatus, nicht-christliche Religion).
  • ein Verständnis für die Ablösungsschwierigkeiten, Behütungstendenzen usw. der Eltern bei der Transition ihres Kindes von der Familie in die Tageseinrichtung und Verständnis für ihre Gefühle.
  • Gespräche mit Eltern, bei denen diese z.B. erfahren, dass sie die wichtigsten Bindungspersonen für ihr Kind sind und bleiben werden, dass die Erzieherin keine Konkurrentin um die Liebe ihres Kindes – aber eine für das Kind bedeutsame Bezugsperson – ist und dass die Eltern deshalb ihrem Kind „erlauben“ sollten, eine enge Beziehung zu ihr einzugehen.
  • eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Erzieherin und Eltern (wechselseitiges Vertrauen, Offenheit, Kooperation usw.), wobei jede Seite die Beziehung der anderen zum jeweiligen Kind und dessen Beitrag zu dessen Entwicklung wertschätzt.

Hinzu kommen die bereits weiter oben genannten wünschenswerten Eigenschaften und Verhaltensweisen von Erzieher/innen (z.B. Feinfühligkeit, Verlässlichkeit, Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, Respekt vor seiner Person). Die Fachkräfte sollten sich bemühen, derartige bindungsfördernde Faktoren in ihrer Einrichtung bzw. Gruppe zu verstärken. Das gelingt oft nur im Team und manchmal nur mit Unterstützung von außen (Fortbildung, Beratung, Supervision usw.).

Schlusswort

Mit zunehmendem Alter schwindet die Bedeutung der Erzieherin-Kind-Beziehung, während die Beziehungen zu den anderen Kindern immer wichtiger werden. Dies erleichtert den Abschied am Ende der Kindergartenzeit. Dennoch sollte diese Übergangssituation mittelfristig von der Erzieherin durch Aktivitäten und Gespräche vorbereitet werden, sodass sich das Kind auf die Transition einstellen kann. Auch sollte sie Verständnis für Gefühle wie Schmerz, Kummer, Trauer oder Wut zeigen und dem Kind helfen, die anstehende Trennung zu verarbeiten.

Literatur

Baker, A.C. & Manfredi/Petitt, L.A.: Relationships, the heart of quality care. Creating community among adults in early care settings. Washington, D.C.: National Association for the Education of Young Children 2004

Becker-Stoll, F.: Eltern-Kind-Bindung und kindliche Entwicklung. In: Becker-Stoll, F. & Textor, M.R. (Hg.): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin, Düsseldorf, Mannheim: Cornelsen Verlag Scriptor 2007, S. 14-30

Becker-Stoll, F. & Textor, M.R. (Hg.): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin, Düsseldorf, Mannheim: Cornelsen Verlag Scriptor 2007

Bowlby, J.: Bindung und Verlust (Band 1-3). München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2006

Carlson, F.M.: Essential Touch. Meeting the Needs of Young Children. Washington, D.C.: National Association for the Education of Young Children 2006

Friedrich, H. : Beziehungen zu Kindern gestalten. Weinheim, Basel: Beltz, 3. Aufl. 2003

Henneberg, R., Klein, H., Klein, L. & Vogt, H.: Den Sinn kindlichen Handelns verstehen und respektieren. In: Henneberg, R., Klein, H., Klein, L. & Vogt, H. (Hg.): Mit Kindern leben, lernen, forschen und arbeiten. Kindzentrierung in der Praxis. Seelze-Velber: Kallmeyer 2004, S. 14-45

Textor, M.R.: Forschungsergebnisse zur Effektivität frühkindlicher Bildung: EPPE, REPEY und SPEEL (2007a). http://www.kindergartenpaedagogik.de/1615.html

Textor, M.R.: Die Erzieherin-Kind-Beziehung aus Sicht der Forschung (2007b). http://www.kindergartenpaedagogik.de/1596.html

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de

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