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Zitiervorschlag

Ursachen und Folgen häuslicher Gewalt gegen Kinder. Im Interview mit Anne Kersten

Anne Kersten

 

Einleitung

In den letzten Monaten kam es zu erheblichen Veränderungen des beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Lebens. Viele Eltern standen vor der Herausforderung, die Doppelbelastung aus Homeoffice und Homeschooling zu bewältigen. Für Kinder kam es zum Verlust der Alltagsstrukturen in Krippe, Kindergarten oder Schule und zu Kontaktbeschränkungen zu Freunden. Das Familienleben fand für viele in konzentrierter und zum Teil beengender Form Zuhause statt.

Im Zuge dieser Einschränkungen des alltäglichen Lebens äußerten einige ExpertInnen die Befürchtung, dass es zu einer Zunahme häuslicher Gewalt kommen könnte. Aufgrund der Aktualität dieses Themas befragen wir Frau Dr. phil. Anne Kersten, die als Lektorin und Senior Forscherin am Departement für Sozialarbeit, Sozialpolitik und globale Entwicklung, Universität Fribourg und Dozentin im Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule arbeitet, zum Thema „Ursachen und Folgen häusliche Gewalt gegen Kinder“.

Was sind die häufigsten Ursachen von häuslicher Gewalt gegen Kinder?

Häusliche Gewalt gegen Kinder umfasst verschiedene Gewaltformen und -kontexte, deren Unterscheidung für eine differenzierte Auseinandersetzung und eine Unterstützung der betroffenen Kinder und Familien wichtig ist.

Zum einen gibt es Gewaltformen im familialen Kontext, die sich direkt gegen Kinder richten. Zu nennen sind hier Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Der Begriff Kindesmisshandlung umfasst körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlungen von Kindern. Auch Gewalt gegen Kinder, welche mit der Begründung der Erziehung ausgeübt wird, gehört hierzu. Die Misshandlungen können von verschiedenen Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Stief-/Pflegeeltern, sonstige Verwandte) verübt werden und finden häufig wiederholt und über einen längeren Zeitraum statt. Der Begriff Vernachlässigung meint „die andauernde oder wiederholte Unterlassung oder Verweigerung der notwendigen Fürsorge durch sorgeverantwortliche Personen“ (EBG 2020a, S 4). Hierbei wird grundsätzlich zwischen körperlicher und psychischer Vernachlässigung unterschieden. Versorgungsleistungen, Aufsichtspflichten, Anregungen und Fördermaßnahmen für Kinder werden von deren erwachsenen Bezugspersonen mangelhaft ausgeführt oder fehlen vollständig, entweder aktiv wissentlich oder eher passiv unwissentlich.

Zum anderen können Kinder mitbetroffen sein von häuslicher Gewalt in ihren Familien. Sie erleben dann meist über einen längeren Zeitraum hinweg Gewalt zwischen ihren familialen Bezugspersonen, zu denen sie in der Regel eine nahe emotionale Bindung und Abhängigkeit haben. Die meist wiederholt miterlebte Gewalt kann unterschiedliche Dynamiken, Schweregrade und Folgen haben und sich über die Zeit verändern. Kinder können dabei im selben Raum oder einem Nachbarraum anwesend und gezwungen sein, Drohungen, Beschimpfungen, Tätlichkeiten bis hin zu schwerer körperlicher und sexueller Gewalt mitanzusehen und/oder anzuhören. Ebenso können sie zwischen die Fronten der gewaltinvolvierten nahestehenden Personen geraten oder von einer der Personen aktiv hineingezogen werden. Oder sie versuchen – vor allem wenn sie schon etwas älter sind – selbst einzugreifen, die Angegriffenen zu schützen und/oder die Angreifenden zu stoppen. Neben der enormen psychischen Belastung, existentiellen Angst und Unsicherheit können sie dabei auch selbst körperlich verletzt werden.

Sowohl für Formen der direkten familialen Gewalt gegen Kinder als auch dem Miterleben häuslicher Gewalt können keine einzelnen, isolierten Faktoren als Ursachen genannt werden. Kinder und Erwachsene sind als Individuen mit ihren spezifischen Lebensgeschichten und Bedürfnissen eingebettet in bestimmte häusliche Beziehungen, welche wiederum in einem größeren gemeinschaftlichen Geflecht verortet und von einem besonderen gesellschaftlichen Kontext umgeben sind. Zur Erklärung häuslicher Gewalt wird deswegen mittlerweile das sogenannte „ökosystemische Modell“ (EBG 2020b, S. 3) herangezogen. In diesem nachfolgend abgebildeten Modell werden die Ebene des Individuums, der häuslichen Beziehungen, der umgebenden Gemeinschaft und der rahmenden Gesellschaft gleichermaßen einbezogen.

Abbildung 1: Ökosystemisches Modell zur Erklärung von häuslicher Gewalt

Abbildung 1 Ökosystemisches Modell zur Erklärung von häuslicher Gewalt

EBG, 2020b, S. 3

Mit dem ökosystemischen Modell wird deutlich, dass häusliche Gewalt nicht durch einzelne Faktoren, sondern durch das je spezifische Zusammenwirken mehrerer Faktoren und Ebenen bedingt ist. Obiges Modell bezieht sich in erster Linie auf Beziehungsgewalt unter Erwachsenen, ist aber auch für die Thematik der häuslichen Gewalt gegen Kinder hilfreich.

Auf der Ebene des Individuums geht es um persönliche und demographische Merkmale der einzelnen Familienmitglieder und deren Lebenserfahrungen, welche ihr Verhalten gegenüber den anderen Familienmitgliedern beeinflussen. So kann das Entstehen häusliche Gewalt begünstigt werden, wenn erwachsene familiale Bezugspersonen in ihrer Kindheit selbst Misshandlungen erfahren oder häusliche Gewalt miterlebt haben. Ebenso begünstigend können sich Arbeitslosigkeit und Armut der erwachsenen Bezugspersonen auswirken, Drogen- und Alkoholkonsum, psychische Erkrankungen sowie Stress und Überlastung von Familienmitgliedern.

Auf der Beziehungsebene wiederum ist von Interesse, wie die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern ablaufen, wie beispielsweise mit Konflikten umgegangen wird, wie die Machtverteilung zwischen den Familienmitgliedern aussieht oder auch der Erziehungsstil der Eltern. So können häufige Konflikte und Streitereien in den Familien das Risiko für häusliche Gewalt erhöhen. Ebenso von Belang ist die Machtverteilung zwischen den Eltern. Ist die elterliche Beziehung von einem Machtgefälle, Eifersucht, Kontrolle und Besitzansprüchen geprägt und/oder üben die Eltern einen autoritären Erziehungsstil aus, dann steigt das Risiko für häusliche Gewalt ebenfalls. 

Auf der Ebene der Gemeinschaft steht das Beziehungsgefüge im Mittelpunkt, in welches die Familie und ihre Mitglieder eingebettet sind, wie die Schule, Nachbarschaft, Freundeskreis, Arbeitsplatz. Sind Familien in diesem gemeinschaftlichen Umfeld eher wenig eingebettet und sozial isoliert, dann kann dadurch das Risiko häuslicher Gewalt steigen. Mit einer sozialen Isolation geht oft auch eine geringe soziale Unterstützung durch Nachbarschaft, Freund*innen, Arbeitskolleg*innen etc. einher, was sich ebenfalls begünstigend auf das Entstehen häuslicher Gewalt auswirken kann.

Auf der Ebene der Gesellschaft schließlich geht es um gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen, Werte und Normen, welche ein eher gewaltförderndes oder gewaltverhinderndes Klima schaffen. So kann das Entstehen häuslicher Gewalt durch das Fehlen von rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gleichstellung der Geschlechter, für die Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt sowie für eine gewaltfreie Erziehung häusliche Gewalt begünstigen. Ebenfalls begünstigend können sich starre Rollenbilder und Vorstellungen darüber, wie Mann und Frau zu sein haben und wie sich Eltern und Kinder zu verhalten haben, auswirken. Auch eine gesellschaftliche Toleranz gegenüber Gewaltanwendung allgemein kann das Risiko häuslicher Gewalt erhöhen.

Welche Auslöser und Risikofaktoren für Übergriffe können neben diesen Ursachen genannt werden?

Das oben abgebildete ökosystemische Modell zeigt die Komplexität der Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von häuslicher Gewalt auf. In diesem Zusammenhang kann nur nochmals betont werden, dass es keine einzelnen ursächlichen Faktoren gibt, auf welche häusliche Gewalt zurückgeführt werden kann. Es gibt verschiedene Faktoren (siehe Abbildung 1), welche – vor allem in ihrem Zusammenspiel – die Entstehung häuslicher Gewalt begünstigen oder erschweren können. Häusliche Gewalt ist ein soziales Geschehen, welches sich meist nicht auf ein einmaliges Gewaltereignis beschränkt. Häusliche Gewalt hat also nicht nur einen Anfang, sondern sie hat einen zeitlichen Verlauf, entwickelt bestimmte Dynamiken und es kann allenfalls auch zu Eskalationen kommen. In diesem Zusammenhang ist es sehr schwierig, Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren voneinander zu trennen. In der Forschung wird deswegen eher von Faktoren gesprochen, welche die Entstehung und Entwicklung von häuslicher Gewalt bedingen/begünstigen oder erschweren (siehe Abbildung 1).

Wann ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass die Doppelbelastung aus Homeoffice und Homeschooling zu häuslicher Gewalt gegen Kinder führt?

Die Wahrscheinlichkeit, dass es unter der Doppelbelastung von Homeoffice und Homeschooling zu häuslicher Gewalt gegen Kinder kommt, kann sich meiner Meinung nach dann erhöhen, wenn innerhalb von Familien schon vor der neu auftretenden Doppelbelastung mehrere der in Abbildung 1 genannten gewaltbegünstigenden Faktoren vorhanden sind. Das kann dazu führen, dass die innerfamiliären Ressourcen, mit den neuen Corona-bedingten Herausforderungen auf konstruktive, gewaltfreie Art umzugehen, nicht in ausreichendem Masse vorhanden sind.

Auch bei Überlegungen zu dieser Frage muss berücksichtigt werden, dass es sich bei häuslicher Gewalt um ein vielschichtiges Geschehen handelt, welches in ein familiales Beziehungsgefüge mit diversen emotionalen Bindungen und Abhängigkeiten eingebettet ist und sich über die Zeit entfaltet, verändert und spezifische Dynamiken und Muster entwickelt (Kersten 2020). In diesem Zusammenhang werden in der Forschung zu häuslicher Gewalt verschiedene idealtypische Gewaltmuster unterschieden. So kann es sein, dass das familiale Beziehungsgefüge durchdrungen ist von einem systematischen Kontroll- und Gewaltverhalten (meist des männlichen erwachsenen Partners gegenüber seiner Partnerin und allenfalls den Kindern). Hierbei ist ein Großteil des familialen Alltags geprägt von Dominanz- und Kontrollansprüchen des einen über die anderen und in möglichst vielen Lebensbereichen. Körperliche Gewalt ist hierbei Bestandteil eines Systems verschiedenartiger kontrollierender und gewaltförmiger Verhaltensweisen, denen sich die Familienmitglieder unterwerfen müssen/sollen. Davon abzugrenzen ist häusliche Gewalt, welche sich als situatives Konfliktverhalten manifestiert. Hierbei fehlt ein andauerndes Herrschafts- und Dominanzgefüge in der Familie. Die Familienmitglieder nehmen sich grundsätzlich als gleichwertig wahr und sehen die anderen nicht als ihren Besitz an. Zur Gewaltanwendung kommt es in klar abgrenzbaren Konfliktsituationen, die eskalieren und in denen dann ein Familienmitglied Gewalt anwendet, um den Konflikt zu lösen/beenden. Es erscheint naheliegend, dass sich der Umgang mit Homeschooling und Homeoffice je nachdem, welches Gewalt-/Konfliktbewältigungsmuster in den Familien schon vorher vorhanden war, unterscheiden kann. Gerade auch im Hinblick darauf, wie Familien in der Bewältigung der Herausforderungen geholfen werden kann, sollten die Erkenntnisse zu den verschiedenartigen Gewaltmustern berücksichtigt werden.

Welche psychischen Folgen kann häusliche Gewalt bei Kindern auslösen?

Müssen Kinder häusliche Gewalt zwischen ihren elterlichen Bezugspersonen miterleben, kann sie das in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtigen und ihr Vertrauen existentiell erschüttern. Außerdem geht mit dem Miterleben häuslicher Gewalt ein deutlich höheres Risiko einher, dass die Kinder auch selbst Misshandlungen und Vernachlässigung erleben. Die negativen Auswirkungen für die Kinder steigen mit der Intensität und Dauer der Gewalt sowie der Kombination verschiedenartiger Gewaltformen.

Die Kindheit ist von verschiedenen Entwicklungsphasen geprägt. Häusliche Gewalt kann sich je nach Alter und Entwicklungsphase des Kindes unterschiedlich auswirken. Säuglinge und Kinder bis zum Vorschulalter können auf Gewalterfahrungen unter anderem mit Bindungsstörungen sowie Verzögerungen und Beeinträchtigungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung reagieren, ihr Verhalten kann zudem von übermäßiger Wut, Aggression und Ängsten geprägt sein. Bei Kindern im Schulalter können sich unter anderem Schlafstörungen, Lernfähigkeitsbeeinträchtigungen und Aufmerksamkeitsdefizite herausbilden und die Weiterentwicklung ihres Selbstkonzepts und ihrer Sozialkompetenz kann gestört sein. Auch ausgeprägte Niedergeschlagenheit und Depressionen, Essstörungen, chronische Kopf- und Bauchschmerzen sowie posttraumatische Belastungsstörungen gehören zu den möglichen Folgen, mit welchen Kinder, die häusliche Gewalt erleben, zu kämpfen haben (EBG 2020a).

Kinder haben aber auch die Fähigkeiten, derartige erschütternde Erfahrungen, wie häusliche Gewalt, zu bewältigen und keine länger anhaltenden Folgen davonzutragen. So zeigt der bisherige Forschungsstand, dass die Mehrheit, der von häuslicher Gewalt betroffenen Kinder keine anhaltenden negativen Störungen entwickelt und im späteren Leben auch nicht selbst gewalttätig wird. In diesem Zusammenhang gibt es einige Schutzfaktoren, welche die Fähigkeiten von Kindern unterstützen, die negativen und herausfordernden Erlebnisse häuslicher Gewalt zu bewältigen. Zu nennen sind hier beispielsweise Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und positiver Selbstwahrnehmung, welche Kinder in und außerhalb der Familie machen und auch unterstützende, vertrauensvolle Beziehungen in und außerhalb der Familie.

Wie lässt psychische Gewalt an Kindern feststellen?

Psychische Gewalt gegen Kinder als eine Form häuslicher Gewalt umfasst ein sehr breites Spektrum an Handlungen und situativen Kontexten. Sie kann Teil von Misshandlungen und Vernachlässigungen sein, denen Kinder direkt ausgesetzt sind und sie kann durch Kinder miterlebt werden, wenn häusliche Gewalt zwischen anderen Familienmitgliedern stattfindet. Psychische Gewalt in diesen Kontexten umfasst zum einen alle Handlungen, mit denen Kinder durch andere Familienmitglieder geistig/seelisch eingeschüchtert, verängstigt, gedemütigt, geschädigt, abgewertet werden. Zum anderen bezieht sie sich ebenso auf Handlungen, mit denen die elterlichen Bezugspersonen ihre Erziehungsverantwortung nicht wahrnehmen und wodurch den Kindern Orientierung, wohlwollende Grenzen und Schutz verloren gehen.

Die kurzen Ausführungen dazu, was psychische Gewalt gegen Kinder als Form häuslicher Gewalt beinhaltet, zeigen, dass nicht einfach und eindeutig bestimmbar ist, wo psychische Gewalt anfängt und welche Handlungen genau dazu gehören. Es gibt beträchtliche Grauzonen. Und auch hier erscheint es wiederum wichtig, nicht so sehr isolierte Handlungen anzuschauen, als vielmehr die familialen Beziehungsgefüge und -muster, innerhalb derer die Handlungen über die Zeit stattfinden und sich allenfalls wiederholen und verstärken. Grundsätzlich sollte das Vorliegen häuslicher Gewalt in Betracht gezogen werden, wenn Kinder über längere Zeit eine oder mehrere der unter Frage 4 skizzierten Folgen häuslicher Gewalt aufzeigen. Je nach Alter des Kindes sollte dann in erster Linie mit ihm das Gespräch gesucht und nicht über seinen Kopf hinweg gehandelt werden.

Sollen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ErzieherInnen zunächst den Kontakt zu den Eltern suchen oder (z.B. wegen Vertuschungsgefahr) gleich das in dem jeweiligen Bundesland vorgeschriebene Verfahren einleiten?

Auf diese Frage gibt es keine allgemeine Antwort. Häusliche Gewalt ist ein sehr komplexes vielschichtiges Geschehen. Um die Betroffenen zu unterstützen ist es hierbei wichtig, den je spezifischen Einzelfall im Blick zu haben. Zudem ist es wichtig, sich bewusst zu sein und zu bleiben, dass häusliche Gewalt in den wenigsten Fällen ein sofortiges Eingreifen ohne Aufschub notwendig macht. Denn dieses birgt die Gefahr, dass über den Kopf der betroffenen Kinder hinweg und ohne deren Einbezug gehandelt wird. Das kann bei den betroffenen Kindern den Verlust des Vertrauens zu außerfamiliären Bezugspersonen zur Folge haben sowie zusätzliche Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins auslösen. Es geht nicht darum, dass gar nicht gehandelt wird, sondern dass das Handeln sorgsam und unter Einbezug der betroffenen Kinder durchdacht und überlegt wird. Das heißt nicht, dass die betroffenen Kinder mit allem einverstanden sein müssen, was die Erwachsenen außerfamiliären Bezugspersonen dann entscheiden. Aber sie müssen es verstehen können und sie müssen wissen, was auf sie zukommt und wie sie dabei von wem begleitet werden und an wen sie sich wenden können.

Wenn Erzieher*innen den Verdacht auf Kindswohlgefährdung aufgrund häuslicher Gewalt haben, sollten sie Entscheidungen – egal in welche Richtung – nicht allein fällen und tragen. Wichtig ist, sich hierbei von Beratungsstellen mit spezifischem Expter*innenwissen zur Thematik beraten und unterstützen zu lassen (wie beispielsweise Opferhilfeberatungsstellen, Familienberatungsstellen, Beratungsstellen für Betroffene häuslicher Gewalt etc.). Derartige Beratungsstellen sind regional verankert und stehen in der Regel nicht nur direkt von Gewalt Betroffenen offen, sondern auch Menschen, in deren privatem oder beruflichem Umfeld andere Personen von Gewalt betroffen sind. Auch ein Austausch im Arbeitsteam ist wesentlich. Denn Teamkolleg*innen sind als unterstützende Personen sehr wichtig. Ebenso hilfreich kann sein, sich über das allgemeine Prozedere bei einer Gefährdungsmeldung zu informieren. Hierzu sollten ebenfalls die schon genannten Beratungsstellen Auskunft geben können. Denn nicht nur für die betroffenen Kinder und deren Familien, sondern auch für die involvierten Erzieher*innen ist es hilfreich zu wissen, wie das Prozedere bei einer Kindswohlgefährdung grundsätzlich abläuft (auch wenn es dabei von Fall zu Fall natürlich Unterschiede gibt).

Auf welche Hilfestellungen können ErzieherInnen bei dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zurückgreifen?

Wie schon bei Frage 6 geschrieben, gibt es regional verankerte Beratungsstellen (Opferberatungsstellen, Beratungsstellen für Betroffene häuslicher Gewalt etc), an welche sich nicht nur direkt von Gewalt betroffene Personen wenden können, sondern auch Menschen, in deren privatem oder beruflichem Umfeld andere Personen von häuslicher Gewalt betroffen sind. In derartigen Beratungsstellen existiert ein umfangreiches Expert*innenwissen, sowohl was die Begleitung und Betreuung der direkt von Gewalt Betroffenen angeht als auch was rechtliche Grundlagen und Prozedere, weitere hilfreiche Stellen und Personen sowie die nächsten möglichen oder vorgeschriebenen Schritte betrifft. Ich kenn das Hilfsangebot in Deutschland nicht im Detail, ich nehme aber an, dass es mit demjenigen bei uns in der Schweiz vergleichbar ist. Über eine Recherche im Internet sollten die Erzieher*innen passende Beratungsstellen in ihren jeweiligen Regionen ausfindig machen können. Gerade weil häusliche Gewalt ein so komplexes vielschichtiges Geschehen ist, ist es wichtig und keinerlei Zeichen von fehlender fachlicher Kompetenz, wenn Berufsgruppen, die nicht tagtäglich mit dieser Thematik zu tun haben, bei derartigen Beratungsstellen um Unterstützung anfragen und sich ebenso auch in ihren Arbeitsteams und mit ihren Vorgesetzen austauschen.

Literatur

EBG, Schweizerisches eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2020a). Häusliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Zugriff am 09.09.2020 auf https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/dokumentation/publikationen-allgemein/publikationen-gewalt.html

EBG, Schweizerisches eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2020b). Ursachen, Risiko- und Schutzfaktoren von Gewalt in Paarbeziehungen. Zugriff am 09.09.2020 auf https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/dokumentation/publikationen-allgemein/publikationen-gewalt.html

Kersten, Anne (2020). Häusliche Gewalt - Handlung und Struktur im familialen Beziehungsgefüge. sozialpolitik.ch, 1, Artikel 1.3. Zugriff am 13.07.2020 auf https://www.sozialpolitik.ch/fileadmin/user_upload/2020-1-3-Kersten.pdf

Autorin

Foto Frau Annegret Kersten

Frau Dr. phil. Anne Kersten ist tätig als Lektorin und Senior Forscherin am Departement für Sozialarbeit, Sozialpolitik und globale Entwicklung, an der Universität Fribourg und Dozentin im Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule.

Anne Kersten, Interiew vom 27.01.2021.