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Zitiervorschlag

USA: Ausbildungsrichtlinien für Erzieher/innen

Martin R. Textor


Die National Association for the Education of Young Children, die größte Organisation von Fachkräften im vorschulischen Bereich, hat im Jahr 2001 die "NAEYC Standards for Early Childhood Professional Preparation: Baccalaureate or Initial Licensure Level" verabschiedet. In diesen Richtlinien wird festgelegt, was ein/e Professionelle/r am Ende seiner (Grund-) Ausbildung wissen und können soll. Die fünf Standards finden Sie im Internet unter http://www.naeyc.org/profdev. Eine Kurzfassung mit etwas abweichender Formulierung wurde 2002 im März-Heft von Young Children veröffentlicht. Es folgt eine Übersetzung der fünf Standards:

"1. Die kindliche Entwicklung und das Lernen fördern.

Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

  • verstehen, wie Kleinkinder sind;
  • verstehen, was deren Entwicklung beeinflusst; und
  • nutzen dieses Verständnis, um großartige Umwelten zu schaffen, in denen sich alle Kinder weiterentwickeln können.

2. Beziehungen zu Familien und Gemeinde aufbauen.

Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

  • verstehen und zeigen Wertschätzung für die Familien und Subkulturen der Kinder;
  • schaffen respektvolle wechselseitige Beziehungen; und
  • beteiligen alle Familien an der Entwicklung und dem Lernen ihrer Kinder.

3. Beobachten, dokumentieren und beurteilen.

Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

  • verstehen den Zweck von Beurteilungen;
  • setzen effektive Beurteilungsstrategien ein; und
  • benutzen Beurteilungen verantwortungsbewusst, um die Entwicklung und das Lernen der Kinder positiv zu beeinflussen.

4. Lehren und Lernen.

Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

  • bilden enge Beziehungen zu Kindern und Familien aus;
  • setzen entwicklungsgemäße Lehr- und Lernstrategien ein;
  • haben ein tief gehendes Wissen in den akademischen Fächern oder Inhaltsbereichen; und
  • verknüpfen all dies, um Kindern Erfahrungen zu vermitteln, die Entwicklung und Lernen fördern.

5. Ein/e Professionelle/r werden.

Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

  • identifizieren sich mit dem Beruf als vorschulische Fachkraft;
  • werden von ethischen und anderen professionellen Standards geleitet;
  • sind kontinuierlich, kooperativ Lernende;
  • denken gründlich und kritisch nach; und
  • setzen sich für Kinder, Familien und ihre Berufsgruppe ein" (Young Children, March 2002, S. 78).

Deutlich wird, dass in den USA die Schwerpunkte bei der Ausbildung von Fachkräften für den vorschulischen Bereich wohl etwas anders gesetzt werden als in der Bundesrepublik Deutschland. So wird in Standard 1 die Notwendigkeit umfassender entwicklungspsychologischer Kenntnisse betont - die die Fachkräfte vor Ort selbst praktisch umsetzen sollen, zum Wohl eines jeden Kindes. Nach dem Fokus auf dem einzelnen Kind und der Förderung seiner Entwicklung folgt in Standard 2 gleich der Fokus auf der Familie und kulturellen Zugehörigkeit des Kindes: Die Fachkraft soll nach Abschluss ihrer Ausbildung fähig sein, zu jeder Familie eine enge Beziehung auszubilden und sie in die Erziehung und Bildung ihres Kindes zu involvieren - Letzteres bedeutet nicht nur eine intensive Elternarbeit mit starken elternbildenden Komponenten, sondern auch die Einbindung der Eltern in das Lernen ihres Kindes in der Kindertageseinrichtung!

Insbesondere Standard 3 wirkt auf deutsche Fachleute ungewohnt: Nach Abschluss ihrer Ausbildung sollen Fachkräfte fähig ein, die Entwicklung von Kindern genau zu beobachten, anhand wissenschaftlich fundierter Kriterien zu beurteilen und zu dokumentieren. Nur auf dieser Grundlage können sie das individuelle Kind bestmöglich in seiner Entwicklung fördern. Letztlich geht es also um die Ausbildung diagnostischer Fähigkeiten und das Erlernen entsprechender Techniken (bis hin zum Einsatz von Tests) - schon während des Studiums!

Bei Standard 4 wird erneut die Bedeutung einer guten Beziehung zwischen der Fachkraft auf der einen und dem Kind und seiner Familie auf der anderen Seite betont. Da in den USA der entwicklungsgemäße pädagogische Ansatz vorherrscht (siehe meinen Beitrag in der Rubrik "Pädagogische Ansätze"), ist es nicht verwunderlich, dass Fachkräfte am Ende ihrer Ausbildung fähig sein sollten, ihm entsprechend zu lehren und entwicklungsgemäße Lernerfahrungen zu vermitteln. Dies kann aber nur sinnvoll anhand von Lerninhalten realisiert werden - Fachkräfte benötigen somit (unterrichtsfach-) spezifische, didaktische Kenntnisse. Ihre Ausbildung sollte also eher derjenigen von (deutschen) Grundschullehrer/innen entsprechen... Schließlich sollten sie lernen, in der Praxis die Elemente "pädagogischer Bezug zum einzelnen Kind", "enge Beziehung zu seiner Familie", "entwicklungsgemäßen Ansatz" und "akademisches Wissen" so miteinander zu kombinieren, dass jedes Kind beste Entwicklungsbedingungen vorfindet.

Auch Standard 5 wird in Deutschland kaum berücksichtigt. In den USA haben Verbände wie die NAEYC hingegen ethische und professionelle Standards entwickelt und dokumentiert. Sie fordern ihre Mitglieder auf, sich an diesen zu orientieren - und so ist es nicht überraschend, dass Fachkräfte sie schon während ihrer Ausbildung kennen lernen und internalisieren sollten. Ferner wird die Professionalisierung der Fachkräfte betont, die die Identifikation mit dem Beruf und eine ständige Lernbereitschaft (lebenslanges Lernen, Fort- und Weiterbildung) beinhaltet. Es wird eine kritische Grundhaltung gefordert, die auch zu einem (familien-, kommunal-, berufs-) politischen Engagement führen soll - analog zum Einmischungsauftrag, wie er in Deutschland für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert wurde, aber im Kinderbetreuungsbereich weitgehend unberücksichtigt bleibt.

Vielleicht lassen sich diese Standards der NAEYC auch in Deutschland bei der Ausbildung von Erzieherinnen an Fachschulen bzw. Fachakademien berücksichtigen...

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de