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Zitiervorschlag

Deutschsprachige Kinderliteratur und die frühe Förderung der Deutschkompetenzen der Kinder mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache in UngarnKinderliteratur

 

Monika Jäger-Manz

 

Einleitende Gedanken

Die Förderung der deutschen Sprache ist eine zentrale Bildungsaufgabe an den zweisprachigen Einrichtungen in Ungarn. Sie soll im Mittelpunkt des Tages­ab­­laufes und der erzieherischen Tätigkeiten stehen. Um dieses Ziel zu erreichen, be­nö­tigen die Einrichtungen ein gut überlegtes bilinguales Programm sowie För­de­rungs­­­­­strategien, auch damit koordinierte lang- und kurzfristige För­derungs­pläne.

In der sprachlichen Kommunikation funktionieren die Sprachmodelle, die PädagogInnen als po­si­tives Vorbild, sodass die Kinder am Modell nachahmend die deutsche Sprache imitativ erwerben können. Das bedeutet, dass außer spontaner Alltags­kom­­­­­mu­­­­nikation in deutscher Sprache die Vermittlung von Literatur als wichtigstes Mittel des Deutscherwerbs betrachtet wird:

  • Konzentriertes Zuhören von Kindern gilt als Grundvoraussetzung für die lite­ra­rische Erziehung und der Sprachförderung in der neuen Sprache.
  • Sprachförderung und andere Entwicklungsbereiche (wie z. B. Hören, Sin­nes­­­­wahrnehmung, Bewegungsförderung) bedingen sich gegenseitig. Denn Kinder erwerben eine Sprache nicht isoliert – sie erwerben nicht getrennt die Aussprache, die Grammatik und die Lexik einer Sprache. Die neue Sprache muss deshalb nicht „geübt” werden, weil der Sprach­erwerb in einer reichen Sprach­um­ge­bung ganz natürlich erfolgt.
  • Die Sprechfreude bringt die Kinder zum Sprechen und erst das Sprechen führt zum Spracherwerb. Sprachen enthalten u. a. lautnachahmende Wörter oder rhyth­­­mische Elemente, die die Sprachfreude bei Kindern steigern. Auch so wer­­den sie zu aktiven Mitwirkenden der Literatur.

Rhythmus, Betonung und Melodie sind Grund­ele­­­­mente literarischer Texte. Sie ge­ben oft wichtige Hinweise auf den Inhalt und bilden unter anderem auch die Grundlage für gram­­­ma­ti­sche Regeln (z. B. Pluralbildung oder Wortstellung im Satz, Adjek­tivdek­lination, wie zum Beispiel in E. Carles Brau­­ner Bär:

„Brauner Bär, wen siehst denn du? Ich seh‘ einen roten Vogel, der schaut mir zu. Roter Vogel, wen siehst denn du?...“) (Carle-Martin 2007, S. 6)

Kurt Egger stellt fest: „Kinder werden nicht allein zwei­spra­chig” (Egger 1985, S. 212) Eltern, die Fami­lie, Betreuungspersonen im Kindergarten und in der Schule sowie im Hort, also Kin­dergartenpädagogInnen und LehrerInnen können sehr viel dafür tun, dass Kin­der ne­ben ihrer Muttersprache bereits früh Kontakt zu einer weiteren Sprache haben und zwei-/ oder auch mehrsprachig aufwachsen. Un­be­wusst, natür­lich, kind­gemäß – so wie sie ihre Erstsprache, ihre Muttersprache erworben haben.

Die literarische Förderung des Kindes läuft also parallel zur Sprachförderung. Das Kennenlernen und die Wiederholung der Reime, Lieder, Märchen sowohl in der Mutter-, als auch in der Fremdspra­­che sowie das Betrachten und Erzählen von Bil­der­büchern sind den Bedürf­nis­sen der Kinder entsprechend zu allen Tageszeiten eine wich­­tige Aufgabe der PädagogInnen.

Die ausgewählten literarischen Werke sollen die Förderung der Muttersprache und der deutschen Sprache sowie die soziale und emotionale Entwicklung, also die ge­sam­­­­­­te Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit unterstützen. Sie helfen dem Kind beim Ab­­­bau von Ängs­ten, beim Verstehen der Verhältnisse von Ursache und Wir­kung so­wie bei der Verarbeitung von Erleb­nissen usw.

Die literarischen Werke sind wichtige Mittel des Deutscherwerbs, aber sie dür­fen auf keinen Fall als Ziel der Förderung betrachtet werden. Wann, wo, von wem sollten Kinder die deutschsprachige Literatur und dadurch die deutsche Sprache hören und erwerben?

Wann und wo? – je früher, desto besser, also auch im Kindergarten schon mit drei Jahren. Von wem? – möglichst vom ganzen PädagogInnenteam.

Didaktisch-methodische Überlegungen, Anregungen    

Kinderliteratur ist ein beliebtes Mittel zur Sprachförderung im Kindergarten, sie ist mit ihren Elementen wie Rhythmik, Reim, Bewegung ein sehr effektives Medium zur För­derung des Deutschen im frühen Kindesalter.

1   Literarische Texte sollen zum festen Bestandteil des Lebens der Kinder gehören

Wie kann im Kindergarten Lust auf deutschsprachige Literatur gemacht werden? Indem wir,

  • für eine Kleingruppe einen ruhigen Platz, eine vom Spiel ungestörte Ecke zum Bilderbuchbetrachten, zum Reimen, zum einfachen Puppentheater mit Tisch- oder Drehbühne sichern;
  • ein Bücherregal mit Bilderbüchern, Sachbüchern in für Kinder erreich­barer Nä­he bereitstellen (ca. 12-15 Bücher, die dann thematisch immer wieder ge­wechselt wer­den);
  • das Erzählen, das Reimen als tägliches Ritual praktizieren;
  • eine Bücherkiste mit den von den Kindern mitgebrachten Lieblingsbüchern zur Ver­fügung stellen (Moti­va­tionsfaktor ist: „Mein Lieblingsbuch, das ich oft in die Hand nehme“, Aktivitäten, Rollen­spiele wie Bibliothek, Ausleihe von Bü­chern für ein paar Tage usw.);
  • oft einen Besuch in eine Bibliothek organisieren (Was, wo zu finden ist, wie kann ein Buch ausgeliehen werden? usw.);
  • einen Besuch in eine Buchhandlung planen und durchführen;
  • einen Besuch in einer Druckerei machen („Wie entsteht ein Buch?“);
  • einen Kinderautor einladen;
  • mit den Kindern gemeinsam ein Buch herstellen, malen, kleben und den Text schrei­ben;
  • Rollen­spiele oder Theaterstücke zu einer Geschichte entwickeln;
  • Reime, Zungenbrecher auf Diktafon sprechen und sich die Hörtexte in der Gruppe öfters anhören. (vgl. Jäger-Manz 2015 S. 8 ff.)

Empfehlenswert ist es, die Reime und Geschichten in regelmäßigen Zeitabschnitten zu wieder­holen, damit die Kinder selbstbewusst mitsprechen und Er­folgs­erlebnisse ent­wickeln können.

2   Empfehlungen zur deutschsprachigen literarischen Erziehung im Kindesalter

    Auswahlkriterien für die deutschsprachigen literarischen Werke

Das Thema, die Sprache sowie die kindgemäße Gestaltung sollen den Alters­beson­der­hei­ten entsprechen. Die folgenden Kriterien helfen dabei, deutschsprachige literarische Werke zur För­­­de­rung der Kinder auszuwählen:

Die Themen sollten die Kinder ansprechen, die Handlung sollte einfach und nach­voll­­­ziehbar sein. Die Gestaltung und die Form der Bild­­ge­sta­ltung (im Falle eines Bilder­buches oder der Anschauungsmittel) üben eine große Anziehungskraft auf Kin­der aus. Der Aufbau der Texte sollte dem Kindesalter entsprechend einfach und reihend sein. Die Texte und ihre Stilmittel unterstützen die Kinder in ihrer fremd­sprach­li­chen Ent­­­­wick­lung dann, wenn

  • sich der Wortschatz auf den Grundwortschatz des Deutschen be­schränkt;
  • die grammatikalischen Strukturen einfach sind: Präsens als Zeit­stufe, ein­facher Satzbau;
  • sie aus einfachen, kurzen Sätzen bestehen (vor allem aus Hauptsätzen – aus überschaubaren Nebensätzen mit den Kon­junktionen: und, aber…);
  • sie viele Frage- und Aufforderungssätze enthalten, die die Auf­merk­sam­keit der Kinder aufrechterhalten;
  • die Texte eine rhythmische, gereimte Sprache haben;
  • viele Wiederholungen, Kontraste, Steigerungen, Reihungen im Text vor­han­den sind;
  • sie eine nachvollziehbare, einfache Handlung haben;
  • sie sowohl bekannte als auch unbekannte Sprachstrukturen beinhalten;
  • sie viele Dialoge, wiederkehrende Sprüche (wie z. B.: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land”) beinhalten.

3   Hinweise zur erfolgreichen Sprachförderung durch Kinder­li­te­ratur in Deutsch

  • Sprechen und singen Sie viel mit den Kindern.
  • Beschreiben Sie, was Sie gerade tun.
  • Wählen Sie einfache und kurze Sätze.
  • Beachten Sie den Grundsatz: Sprache fördern statt fordern.
  • Bauen Sie auf den Grundwortschatz des Deutschen.
  • Unterbrechen Sie das Kind nicht durch Verbesserung des Gesagten – wieder­ho­len Sie den Satz korrekt.
  • Wenn ein Kind etwas sagt, greifen Sie das Wort auf, wiederholen Sie es gege­­benenfalls korrekt und stellen Sie es in einen entsprechenden Zusam­menhang, zum Beispiel: „Brot…“, - „Brot … möch­test du dein Brot? Hast du Hunger?“
  • Freuen Sie sich mit dem Kind, wenn die Verständigung funktioniert hat.
  • Bieten Sie den Kindern stufenweise neue Satzstrukturen an.
  • Seien Sie ein gutes Vorbild für die Kinder: Sprechen Sie ruhig und deut­lich, arti­­ku­liert, laut genug und im normalen Sprechtempo.
  • Ermutigen und loben Sie die Kinder, wenn sie einen deutschen Reim oder Satz sagen, wenn sie deutsch sprechen oder singen.

4   Achten auf die Trennung der Sprachen (der Muttersprache und der deutschen Sprache) – Einspra­chig­keit einhalten, deutsch sprechen.

Übersetzen wir keinen Reim, kein Gedicht, keine Bilderbuchgeschichte und keinen Märchentext in die Muttersprache der Kinder!

Empfohlen wird die bewusste Trennung der Sprachen, um erfolgreiche Förderung bei den Kindern erreichen zu kön­nen. Das bedeu­­­­­­tet, dass

  • das Sprachmodell die literarische Erziehung wegen Übersetzung, Erklärung usw. nicht unterbrechen soll, nicht in die andere Sprache wechseln soll. Über­­setzung und Erklärung können durch die sprachliche Vorentlastung des Tex­tes ver­mie­­den werden, denn die Kinder haben dann schon eine Ahnung (‚das kann das bedeuten‘) oder sogar konkrete Bedeutungs­vorstellungen. So er­üb­­rigt sich die Nachfrage seitens der Kinder;
  • die Kinder bestimmte Geschichten/Märchen nur in der einen Sprache hören und dann bearbeiten sollen. Die Bilderbuchtexte und Märchentexte sollen die Kin­­der im­­mer nur in derselben Sprache hören, denn das hilft den Kindern beim Ver­stehen des Textes, zum Beispiel

a) “Die drei Schmetterlinge ─ A három pillangó“ immer in der Muttersprache, auf Ungarisch

     (nicht abwechselnd ungarisch und deutsch);

b) „Die Bremer Stadtmusikanten“ immer auf Deutsch.

5   Die ganzheitliche Förderung der Kinder durch Literatur in den Mittelpunkt stellen

Die literarische Erziehung soll die Kinder ganzheitlich fördern und dadurch positive Rah­men­bedingungen für die Sprachentwicklung schaffen.

„Ganzheitliche Förderung bedeutet, dass beide Hemisphären gleichzeitig gefördert werden, da sie miteinander intensiv ‚kommunizieren‘ und das den Kindern einen leichteren Erwerb ermöglicht.“ (Jäger-Manz 2019, S. 139). Die Bearbeitung der deutschsprachigen literarischen Texte im frühen Deutscherwerb ermöglicht eine ganzheitliche Förderung der Kinder mit Einbeziehung der Bereiche wie Musik, Tanz, Körpersprache, die die Motivation und Verstehenskompetenzen der Kinder in Deutsch vielfältig unterstützen.

 

linke, sprachdominante Gehirnhälfte

rechte Gehirnhälfte

Sprache

Musikalität

logisches Denken

Emotionen

Planung

Rhythmus/Tanz

Gedächtnis für Wörter

Mathematik

verbale Kommunikation

Körpersprache

Analyse

Synthese

Das PädagogInnenteam soll

  • die Kinder in das literarische Erlebnis und in die Tätigkeiten einbeziehen;
  • die Kinder mit allen Sinnen fördern;
  • mit der Sprache spielerisch umgehen;
  • Rhythmus, Musik und Bewegung in die literarische Förderung einbe­ziehen.

Bei einem literarischen Erlebnis entdecken die Kinder den Einfluss der Literatur auf die eigene Persönlichkeit. Kinder imitieren Tiere, ahmen Bewegungen, mensch­­­liche Handlungen und Haltungen nach, sie bewegen sich, spielen und bas­teln, schnei­­den und malen. Sie erforschen und erleben Zusammenhänge zwi­schen Bild und Sprache, zwischen Sinn und Bedeutung.

6   Welche literarischen Texte können von Kindern wahrgenommen, verstanden und ver­ar­beitet werden?

  • Reime, Gedichte und alle Gattungen der Lyrik mit entsprechenden The­­­­men und sprachlichen Einheiten;
  • einfache Geschichten und Märchen, in denen die Handlung, die Zahl der Personen oder Tiere und der Handlungsrahmen überschaubar blei­­­ben.

Die klassischen Grimm-Märchen „Die Bremer Stadt­­­musikanten“, „Frau Holle“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ sind nur dann geeignete literarische Texte für Kinder mit anderer Muttersprache, wenn der gesamte Inhalt und die Sprache der Märchen an die kog­ni­tiven Eigenarten der Kin­der an­ge­passt werden. Um dieses Ziel erreichen zu können sollen PädagogInnen bewusst am Text arbeiten und den Text für die Kinder vorbereiten.

7   Arbeit am Text: den Text vereinfachen, dialogisieren und erlebbar machen

Beim Märchen- und Geschichtenerzählen in zweisprachigen Kindergruppen mit Deutsch sollte der ursprüngliche Text auf das Wesentliche und auf eine deutlich verein­fachte Sprache reduziert werden.

Die Sprache des Textes sollte vereinfacht werden, wir können:

a) den längeren Text kürzer fassen;

b) Präsens statt Präteritum oder Perfekt verwenden;

c) veraltete Formen (wie z. B. bei Grimm steht oft „ward” oder „Swinegel”) für gängige Wörter austauschen (ist, der Igel);

d) statt komplizierter Sätze immer einfache Satzstrukturen verwenden;

e) statt langen, statischen Beschreibungen dialogisierte Sprachstrukturen und For­­­men in den Text einbauen. (vgl. Jäger-Manz 2015, S. 13)

Literaturverzeichnis
Carle, E. - Martin, B.: Kleiner Bär, kleiner Bär, was siehst du da? Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2007

Egger, K.: Zweisprachige Familien in Südtirol: Sprachgebrauch und Sprach­er­ziehung. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Band 27. 1985 Innsbruck: AZB. S. 212

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Leipzig: Reclam Verlag 1976

Jäger-Manz, M.: Deutschförderung durch literarische Werke im Kindesalter. Baja: Bajapress 2015

Jäger-Manz, M.: Ich sag dir was. Baja: Bajapress 2019

Marquardt, M.: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Troisdorf: Bildungsverlag EINS GmbH. 2010