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Zitiervorschlag

Aus: ZeT - Zeitschrift für Tagesmütter und -väter 2000, Heft 5, mit Genehmigung des Kallmeyer Verlages bei Friedrich Velber, Postfach 100134, 30917 Seelze

"Am Alltag für den Alltag lernen". Begleitende Qualifizierung in der Kindertagespflege

Karin Hahn

 

Was Tagespflegepersonen immer wieder fehlt, ist das Wissen um ihre Rechte (nach § 23 KJHG - Kinder- und Jugendhilferecht) sowie feldspezifisches pädagogisches und psychologisches Wissen. Es fehlt ihnen die Vorstellung und der Anspruch, über Beratung und Fortbildung für ihre Tätigkeit qualifizierte Fachkompetenzen erwerben zu können.

Wenn sich ihnen, wie hier in Maintal (seit 1991), diese Möglichkeiten erschließen, betonen Tagesmütter schon beim ersten Informations- und Beratungsgespräch ihren hohen Bedarf an Austausch von Fachinformationen und Fachwissen. Sie suchen Beratung in Alltagsfragen. Ihre Wünsche beziehen sich auf konkrete Praxissituationen.

Hierauf muss konsequenterweise eine praxis- und alltagsbezogene Beratung und Fortbildung die Antwort sein. Nur dann wird sie zum wichtigen Mittler bei Bearbeitung, Erweiterung, Vertiefung von Haltungs-, Wissens- und Handlungskompetenzen der Tagespflegepersonen.

In Maintal konzipierten wir daher ein Beratungs- und Fortbildungsangebot, das "am Alltag für den Alltag" Lernsituationen erschließt und begleitet. Durch kommunale Richtlinien verfügen wir über einen finanziellen und personellen Rahmen, der eine gute Anbahnung und Begleitung der Qualifizierung von Tagespflegepersonen in der nachfolgend beschriebenen Form ermöglicht. Wir verfügen nunmehr über fast zehnjährige Erfahrung mit einem alltagsbegleitenden Beratungs- und Fortbildungskonzept.

Beratung

Unser auf den Tagespflegealltag ausgerichtetes Beratungsangebot lässt sich wie folgt beschreiben:

  1. Die Beratung ist Teil eines integrativen familiären Prozesses. Sie nimmt Einfluss auf ihn und wirkt sich auf ihn aus.

    Es geht darum, Tagesmütter für die Unterschiedlichkeiten und Verschiedenartigkeiten der Entwicklung und der Verhaltensweisen aller Kinder (nicht nur der Tagespflegekinder) zu sensibilisieren. Das geschieht u.a. durch Praxisbesuche, die den Lebensraum, die aktuelle Lebenssituationen im Tagespflegefamilienalltag, ins Zentrum der Beratung rücken.

  2. Das Beratungsangebot ist grundsätzlich offen für alle Anfragen aus der Tagespflege. Entscheidend ist der genannte Beratungsbedarf.

    Zu Beginn eines Beratungsprozesses erfolgt grundsätzlich keine Festlegung auf eindeutige Problemstellungen. Zum Beispiel kann im Mittelpunkt eines Beratungsgespräches in der Tagespflegefamilie die Beobachtung und Erörterung einer Spielsituation der Kinder untereinander stehen. Ein anderes Mal kann die räumliche Ausgestaltung des Spielraums oder aber eine persönliche Konfliktlage der Tagesmutter Thema sein.

  3. Je nach Anfrage, Bedürfnis und Möglichkeiten kann die Beratung im Vorfeld der Tagespflegetätigkeit, in Anfangsphasen der Aufnahme eines Tagespflegekindes, kurz oder längerfristig alltagsbegleitend in der Familie oder am Ort der Beratungsstelle erfolgen.

    Ausgangspunkt ist die jeweilige Situation der Tagesmutter. Es wird gemeinsam vereinbart, in welchem Zeitrahmen und an welchem Ort das Beratungsgespräch zu führen ist. Das schließt zum Beispiel auch den Ortswechsel ein: von einer Praxishospitation in der "Familie" hin zum "familienfreien" (auch störungsfreien) Beratungsgespräch im Büro der Beraterin.

  4. Mit der Beratung wird die fachliche Begleitung und Qualifizierung der Tagesmütter am Ort der Familie angestrebt.

    Es geht darum, das Zusammenwirken der Vielzahl offensichtlicher, bewusster und unbewusster Faktoren im alltäglichen Zusammenleben in den Blick zu nehmen. Durch direkte Rückmeldung auf wahrgenommene Situationen sollen Tagesmütter bei der Klärung ihrer persönlichen Haltungen und Einstellungen Unterstützung erfahren. Das heißt für die Beraterin, aufmerksam die Erfahrungskompetenzen der Tagesmütter zu erkennen und zu benennen. Nach Möglichkeit sollte sie Tagesmütter in ihrem Tun bestätigen oder anregen, über Handlungsweisen neu nachzudenken, Verhaltensweisen zu verändern, situations- und kindgerechter zu gestalten. Im Beratungsprozess kann so ihre Handlungskompetenz stabilisiert und erweitert werden. Oft sind es Unsicherheiten oder Unkenntnis der Tagesmütter, wie sie ihre Verhaltensbeobachtungen einzuordnen haben. Durch den Beratungsimpuls von außen kann zum Beispiel der Anstoß zu einem Elterngespräch erfolgen oder eine Veränderung im familiären Beziehungssystem vorgenommen werden.

  5. Die durch teilnehmende Beobachtung initiierten Beratungsprozesse zwischen Beraterin und Tagesmutter ermöglichen letzterer, vor Ort ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen für die einzelnen Kinder, die Familie, die Eltern usw. und für sich selber zu überprüfen.

Im Beratungsprozess wird in der Regel den Wechselwirkungen gefolgt, was unterstützend oder behindernd z.B. für das einzelne Kind, die Geschwistergruppe, die Tagesmutter wirkt. Es geht immer um das Zusammenführen von subjektiven und objektiven Wahrnehmungen, wobei unter anderem den Fragen gefolgt wird: "Wie habe ich Sie als Tagesmutter handeln gesehen, erlebt mit dem Kind, den Kindern? ... welche Haltungen stehen für mich/ für Sie dahinter? ... was können Sie gut? ... was fehlt Ihnen? ... was brauchen Sie an Fachwissen, Informationen oder sonstiger Unterstützung?"

Fortbildung

Wovon wir ausgehen: "Sie sind nicht allein mit Ihren Anliegen und Fragen der Tagespflegetätigkeit!" vermitteln wir Tagespflegepersonen bei Aufnahme ins Maintaler Tagespflegeprojekt. Erfahren können dies Tagesmütter dann am besten in einer Gruppe. Die Selbstgewissheit, dass ihr Lebensalltag bisweilen schwierig aber nicht unnormal ist, stellt sich zudem nachhaltiger in und durch die Gruppe ein. Dazu ist es unumgänglich, sich die Lebensrealitäten der einzelnen Tagesmütter genauer anzuhören und anzusehen (Hausbesuche, Hospitationen, Alltagsschilderung).

Unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Tagesmüttern zeigt, dass diese wenig gelernt oder auch verlernt haben, eigene Wünsche und Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen. Zudem haben viele wenig Zutrauen in ihre Wissens- und Erfahrungskompetenzen. Ihre bisherigen Lernerfahrungen waren häufig wenig ermutigend, traditionell verschult und fremdbestimmt. Insofern ist es auch wenig sinnvoll, in der Fortbildung mit fertigen Programmen zu kommen. Damit würden wir uns als Vermittlerinnen nur in die Reihe derjenigen einreihen, die ohnehin besser als die Tagesmütter wissen, was für sie gut ist.

Unser Fortbildungskonzept basiert darauf, mit den Frauen ihr individuelles und kollektives Lernprogramm zu entwickeln.

Unsere Überzeugungen sind:

  • Tagesmütter sind die Expertinnen in ihrer Tagespflegearbeit. Sie verfügen über eine vielfältige Feld- und Erfahrungskompetenz.
  • Fortbildnerinnen sind die Expertinnen in der prozessualen Begleitung der Tagesmüttergruppe. Sie sollten über ein fundiertes pädagogisches Fachwissen und angemessene Erwachsenenbildungskompetenz verfügen.
  • Sich und seine Gefühle bewusst wahrnehmen ist wichtig. Im Vertrauen in die eigenen Gefühle kann sich Klarheit im pädagogischen Handeln herausbilden.
  • Eigene Bedürfnisse sind mindestens so wichtig wie die der anderen. Sie sollten erkannt und im Dialog mit der Gruppe im Einverständnis geregelt werden.
  • Die Kenntnis über gesellschaftliche und persönliche Bedingungsfaktoren sowie ein fundiertes pädagogischen Fachwissen führt zu geklärten persönlichen Haltungen und Einstellungen und sichert fachliches Handeln in der Tagespflegefamilie.

Der Fortbildungsrahmen

In Maintal umfasst die Begleitqualifizierung inzwischen drei Gruppenlernphasen (Grund-, Aufbau-, Fortgeschrittenengruppe).

Entsprechend der städtischen Richtlinien basiert die Grundqualifizierung auf einer verbindlichen, kontinuierlichen Teilnahme über drei Jahre. Die Tagesmütter sind verpflichtet, mit Aufnahme in das städtische Tagespflegeprojekt monatlich an einem Fortbildungsabend (jährlich 9-10 Abende) sowie an einem Fortbildungswochenende teilzunehmen. Zusätzlich haben sie interne Angebote zur freiwilligen Teilnahme wie das jährliche Familienfortbildungswochenende, themenspezifische Veranstaltungen (auch gemeinsam mit Eltern oder Erzieher/innen) und Fachtage.

Das jährliche Stundenkontingent liegt bei ca. 60 Unterrichtseinheiten. Bei Interesse an externen Fortbildungen übernimmt die Stadt die Kosten. An durchschnittlich fünf bis sechs Terminen jährlich kann eine Tagesmutter an Supervisionsgruppen- oder -einzelsitzungen teilnehmen; entscheidend ist hier das jährliche Finanzbudget.

Tagespflegepersonen, die länger als drei Jahre ihre Kinderbetreuungsleistung der Kommune zur Verfügung stellen, wechseln (mit Zertifikat) in die Aufbauqualifizierung. Jetzt nehmen sie nur noch an zwei Austauschtreffen (mit der Grundqualifizierungsgruppe) und zwei Fortbildungswochenenden verbindlich teil. Diese Fachmütter sind verpflichtet, im Rahmen eines vorgegebenen Zeitbudgets von 32 Unterrichtseinheiten selbstverantwortlich und selbstorganisiert ihre fachliche Weiterqualifizierung nachzuweisen. An fünf Austauschtreffen können sie in ihrer Aufbaugruppe vor Ort teilnehmen; auch können sie die zusätzlichen Angeboten mit freiwilliger Teilnahme wie Supervision, Familienwochenende und sonstige örtliche Fachveranstaltungen nutzen.

In der Fortgeschrittenengruppe befinden sich die langjährigen Tagesmütter mit ausgeprägt professionellem Profil. Ihre Begleitangebote durch die städtische Fachberaterin umfassen zwei jährliche Hausbesuche, Teilnahme an den zwei Austauschtreffen (der gesamten Maintaler Projektfrauen), sowie zweimal jährlich kollegiale Vernetzungstreffen. Supervisions- und sonstige Veranstaltungsteilnahmen sind freiwillig.

Diese verbindlichen aufeinander aufbauenden Gruppenfortbildungen sind nur möglich, weil unsere städtischen Richtlinien ein Förderkontingent von 27 Frauen vorsehen, die einen monatlichen Altersvorsorgezuschuss (bis zu DM 250,-), einen Haftpflichtversicherungsanteil (bis zu DM 75,-) und Aufwandsentschädigung finanziert bekommen. Im Gegenzug verpflichten sich die Frauen, das städtische Betreuungskontingent der Kinder von 0-6 Jahren zu sichern und sich dafür regelmäßig zu qualifizieren. Frauen, die sich der Begleitqualifizierung längerfristig entziehen, werden - natürlich nach einem Klärungsprozess - aus dem Projekt wieder ausgeschlossen.

Die Festanstellung einer pädagogischen Fachkraft (30 Wochenstunden) sowie einer Verwaltungsfachangestellten (12,5 Wochenstunden) sichern den organisatorischen, finanziellen und inhaltlichen Rahmen. Die Beratung und Fortbildung wird von der pädagogischen Fachkraft verantwortet. Nach Bedarf werden Referent/innen dazugeholt.

Dieser Rahmen, langjährige Projekterfahrung und persönliche fachliche Überzeugungen bilden die Basis der nachfolgenden, verallgemeinerten Thesen.

Was begünstigt die Qualifizierung durch Fortbildung?

  1. Die Vernetzung von Beratung und Fortbildung ist unabdingbar, wenn Qualifizierungsprozesse nicht in unterschiedliche Richtungen laufen und desintegrierende Wirkung erhalten sollen.

    Sicherlich ist selten, dass Qualifizierungsfäden von Fachberatung und Fortbildung mit der gleichen Leitungsperson verbunden sind (wie hier in Maintal). Wenn beide Fachspezifika in einer Hand liegen, hat es neben dem Vorteil der umfassenden internen und externen Prozessbegleitung bisweilen den Nachteil, dass Tagesmütter konflikthafte Auseinandersetzungen weniger wagen. Es kann in der Gruppe zu individuellen oder kollektiven thematischen Vermeidungen kommen (oder auch die Gruppe verlassen werden). Ebenso können dann individuelle Beratungen vermieden werden. Unsere Erfahrungen nach fast zehn Jahren belegen aber, dass, wenn Fachberatung und Fortbildung in Personalunion erfolgt, dies für die alltagsbegleitende, wachstumsfördernde Qualifizierung von Tagespflegepersonen von hohem Wert ist. Natürlich braucht es hier die erfahrene, reflektierte und fachlich versierte Erwachsenenbildnerin, die begleitend für sich kollegiale Beratung und Supervision in Anspruch nimmt. Erfolgen die Qualifizierungsangebote hingegen durch verschiedene Fachkolleginnen, müssen ausreichend Rückkopplungs-, Kooperations- und Austauschprozesse auf der Fachebene stattfinden.

  2. Fortbildung muss sich an der konkret vorfindbaren Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Tagespflegefamilie orientieren und von daher ihr spezifisches Profil finden.

    Sie sollte eng an den Tagespflegealltag gebunden sein, was Inhalt und Methode betrifft und zugleich auch immer wieder an diesem Alltag gemessen werden. Fortbildungsgegenstand ist nicht irgendein nützliches pädagogisches Thema, das Tagesmütter immer gebrauchen könnten, sondern es geht darum, im Fortbildungsprozess genau an dem Thema, der Situation zu sein, in der sich die Tagesmutter befindet, was für sie aktuell wichtig ist, was ihr zu schaffen macht. Nur wenn ein Großteil der Mütter thematisch gleiche oder ähnliche Interessen benennt, kann es zu einer lebendigen Lernerfahrung für alle kommen. Herkömmliche, vom Alltag entkoppelte Fortbildung, kann zur irreführenden Inselerfahrung werden, deren Alltagsübertragung dann fehlt.

  3. Um praktisch umsetzbare Einsichten für pädagogisches Handeln zu gewinnen, muss das Fortbildungsangebot Tagesmüttern unterschiedliche Erfahrungsräume bieten, in denen jede Person ihre ganz persönliche Antwort findet und gleichzeitig in der Gruppe zu gemeinsamen Erkenntnissen gelangen kann.

    Wünschenswert ist es, wenn Themenein- und -hinführungen auch nonverbale, meditative, kreative, körperbezogene Elemente beinhalten. Wenn beispielsweise Tagesmütter über Geschwister und geschwisterähnliche Situationen sprechen, kann das Malen und Vorstellen der eigenen Geschwisterreihe, das Sprechen über die eigene Situation, einen thematischen Zugang erleichtern. Über eigene Erfahrungen kann es zu ersten theoretischen Erkenntnissen kommen.

  4. Mit den Qualifizierungsangeboten werden Tagesmütter begegnungsfähiger in der Tagespflegetätigkeit: gegenüber sich selbst, den Kindern, den abgebenden Eltern. Im gleichen Maße bedarf es der Vermittlung von theoretischem Wissen und von methodischem Handwerkszeug.

    Der Einstieg in die fundierte Wissensvermittlung bildet immer die persönliche Erfahrung. Die Auseinandersetzung und Aneignung von Theorie geschieht zum Beispiel durch Impulsreferate, das Lesen von Texten, das Betrachten von Filmmaterial - jede Tagesmutter muss ihren individuellen Zugang zum Lernstoff finden. Ist sie persönlich und kollektiv sensibilisiert, erschließt sich theoretisches Wissen lebendig, nachvollziehbar, nachhaltig. Dann setzt sie sich gerne mit sich, den Erfahrungen und Wissen anderer Tagesmütter, der Praxis und der Theorie auseinander.

  5. Die Qualifizierung von Tagesmüttern wird begünstig und entwickelt hohe Qualität, wenn der Anbahnungs- und Reflexionsprozess einen kontinuierlichen und ruhigen Langzeitrhythmus hat.

    Tagesmütter, die sich regelmäßig in der gleichen Fortbildungsgruppe treffen, können nach dem Kennlernprozess in einen offenen und anregenden Fachaustausch treten. Sie verfügen dabei über "Zeitwohlstand", die Gewissheit, dass offene Fragen zu späteren Zeitpunkten durch Wiederholung, thematische Weiterarbeit und Vertiefung aufgegriffen und bearbeitet werden können.

  6. Lern- und Entwicklungsprozesse in der Fortbildungsgruppe haben positive Auswirkungen auf den pädagogischen Alltag in der Tagespflege, wenn Gruppenkonstanz und Verbindlichkeit die individuelle Lernmotivation unterstützt.

    Im Rahmen einer weitergehenden, konstanten, verbindlichen Gruppe entsteht eine vertrauensvolle Lernatmosphäre. Die Motivation der Tagesmütter ist hoch, wenn so der offene und kollegiale Austausch der Fachmütter untereinander möglich wird und sie diesen als persönlichen und fachlichen Gewinn in ihrer Arbeit erleben. Finden Tagesmütter darüber hinaus Unterstützung und Interesse im Familien- und Freundesverband, entwickeln sie zunehmend ein selbstbewusstes professionelles Profil.

  7. Tagesmütter brauchen einen Ort außerhalb ihrer Familienrealität, an dem sie ihre ganz persönlichen Fragen stellen können und beantwortet bekommen und nicht nur eine Einengung auf die Mutterrolle erfahren.

    Die Bewegung des Herausgehens aus der Familie schafft Distanz zur handelnden Alltagspraxis. Sich als Frau und Mutter auseinander zu setzen hilft, Abgrenzungen zu finden, und vermag eine erneute Annäherung an die Familie einzuleiten. Die Fortbildungsgruppe ermöglicht Tagesmüttern in den Treffen größere persönliche Offenheit und zugleich die Wahrung einer familiären Teilanonymität. Dies führt zu größeren Toleranzen gegenüber Unterschiedlichkeiten der Tagesmütter untereinander. Sie können in dem praxisgeschützten Raum Wunschbilder entwickeln und neue Verhaltensweisen erproben.

  8. Lehr- und Lernprozesse in der Fortbildungsgruppe bedürfen immer wieder der Verortung in die Praxis.

    Durch begleitende Arbeitsaufgaben können vorausgehende Praxiserfahrungen in den Fortbildungsprozess einmünden, in diesem modifiziert werden und theoretisch Ergänzung erfahren. So wird der Lerntransfer aus dem "Schonraum der Fortbildungsgruppe" in die Familienpraxis wahrscheinlich.

  9. Das gemeinsame Lernen im "außerordentlichen Alltag" der Fortbildungsgruppe wird unterstützt durch den Wechsel von Persönlichkeitsthemen, Lehr- und Lernthemen und praktischem Tun.

    Entzündet an der Tagespflegepraxis betreffen die Themen immer die ganze Person. Jede Tagesmutter kann thematisieren, was sie aus Tagespflege oder Kernfamilienalltag im Bezug zum Thema an Eindrücken oder auch Ballast mitbringt. Persönliches und fachliches Handeln stehen in enger Beziehung. Schwierigkeiten und Blockaden, die dem momentanen Lernen im Wege stehen, werden nicht ausgegrenzt. Es geht um ein bewusstes Verknüpfen von vielfältigen Erfahrungen. Der Themenbogen muss sich von "dort draußen" ins "hier und jetzt" bewegen und bildet sozusagen das Rohmaterial für erweiterte und vertiefende Themendiskussionen. Nur so wird es möglich, dass neue Handlungsperspektiven für "dort draußen" (in der Tagespflegefamilie) erworben werden.

  10. Tiefergehende persönliche Problematiken werden nur insofern bearbeitet, wie sie im Zusammenhang mit dem jeweiligen Thema stehen und Lernerfahrungen für alle Gruppenmitglieder ermöglichen.

    Nicht immer ist es möglich und sinnvoll, persönliche Fragen oder komplexe Krisensituationen einzelner Tagesmütter in der Fortbildungsgruppe zu behandeln. Hier kann das individuelle Beratungsgespräch die adäquate Antwort sein. Zeigen sich bei der Tagesmutter tieferliegende Probleme, muss die Antwort in der Weitervermittlung zu einer therapeutischen Beratungsstelle erfolgen.

  11. Die individuelle und kollektive fachliche Weiterentwicklung der Tagesmütter erfolgt in der Gruppe, durch die Gruppe und wirkt auf die Praxis zurück.

    Die Gruppe wird Entwicklungsraum für vielfältige inhaltliche und persönliche Auseinandersetzungsprozesse. Besonders in der Anfangsphase kommt der Heterogenität eine bedeutsame Rolle zu. Tagesmütter, die noch keine Tagespflegeerfahrung haben, fühlen sich beispielsweise durch erfahrene Tagesmütter ermutigt. Andere wiederum werden hellhörig, wenn neue Wege aufgezeigt werden oder der unverstellte Blick der Anfängerinnen sie zu veränderten Sehweisen bringt. Vorurteile, eingefahrene Muster und Verhaltensweisen werden thematisiert, indem Wert darauf gelegt wird, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen, ohne gleich zu bewerten. Die Erfahrung einer akzeptierten Sicherheit des "so sein Dürfens" in der Fortbildungsgruppe ermöglicht auch die Übertragung von vermehrt akzeptierendem Verhalten auf die abgebenden Eltern, die Tagespflegekinder oder auch die eigenen Familienmitglieder.

Auswirkung von Fortbildung und Beratung

Generell ist zu sagen, dass Ergebnisse einer fachlichen Qualifizierung nicht immer und sofort in der Praxis wahrnehmbar sind. Manche Erfahrungen in der Fort- und Weiterbildung stellen sich erst nach Jahren als bedeutsam heraus. Manches ist aber auch unmittelbar hör- und sichtbar, in dem konkreten Tagespflegefamilienalltag, im Umgang mit den Kindern. Die Eltern merken es vielleicht an den veränderten Vereinbarungen oder in den Gesprächen, sind mit der Betreuung ihres Kindes einverstanden, zufriedener. Wir Fachberaterinnen merken es vielleicht an öffentlichen Forderungen der Fachmütter gegenüber dem Trägerund der politischen Öffentlichkeit oder wir stellen zum Beispiel beim Hausbesuch eine veränderte Haushaltsführung, eine neue kindgerechtere Raum- und Spielbereichsgestaltung, einen gelasseneren Umgang mit den Kindern fest. Alles bleibt im Tagespflegebereich individuell bezogen, aber es sind Haltungen und Einstellungen einer verbesserten Fachpraxis wahrnehmbar! Bei den Tagespflegepersonen entstehen Identität und häufig direkte kollegiale Beratungs- und Unterstützungssysteme im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe. Sie entwickeln deutlich ihr Berufsprofil mit gemeinsamer öffentlicher Interessenvertretung.

Wenn nun auch konsequenterweise die Tagespflegetätigkeit als Arbeit anerkannt würde, die gewonnene Arbeitsqualität mit einer angemessenen Gratifikation einherginge, wäre der Anspruch einer gleichwertigen Kinderbetreuung (im Sinne des KJHG) einlösbar. Aber noch bleibt es im Tagespflegebereich weitgehend bei vereinzelten Trägerprojekten wie hier in Maintal.

Überblick: Tagespflegeprojekt Maintal

Kinderbetreuung in Tagespflege
  • 1-3 Kinder
  • von 0 bis Einschulungsalter
  • Betreuung in der Regel durch 1 Tagesmutter
  • Betreuung in der Wohnung der Tagespflegeeltern
  • Bezahlung privat durch die Eltern
  • Betrag frei vereinbart (empfohlen werden Pflegesätze der wirtschaftlichen Jugendhilfe beziehungsweise ortsüblicher "Marktpreis", z.Z. DM 6,-)

"Kinderbetreuungsservice Tagespflege"

  • von 0 bis Kindergartenalter
  • Elternbeitrag entspricht der Bezahlung eines ehemaligen städtischen Krippenplatzes
  • Zuschuss für Tagespflegeplatz variiert nach Höhe der Betreuungskosten bei max. DM 5,- pro Betreuungsstunde

Förderkontingent

  • Maximal 10 Tagespflegeplätze

Zielgruppe

  • Kinder alleinerziehender Eltern bzw. Eltern mit geringem Einkommen (zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe)

Förderkontingent

  • Durchschnittlich 27 Personen (3 Gruppen), (abhängig vom kommunalen Jahreshaushalt)

Fördervoraussetzungen

  • Betreuung von max. 3 familienfremden Kindern
  • Angemessene Wohnverhältnisse der Tagespflegeeltern
  • Persönliche Eignung der Tagespflegeperson
  • Tagespflegetätigkeit an mehr als einem Tag bzw. mehr als durchschnittlich 5 Stunden pro Tag
  • Anerkennung der Förderregeln und Bereitschaft zur Qualifizierung

Finanzieller Förderrahmen

  • Freiwilliger kommunaler Zuschuss zur eigenen Altersvorsorge - monatlich max. DM 250,-
  • Freiwilliger Zuschuss zur Haftpflichtversicherung - jährlich max. DM 75,-
  • Aufwandsentschädigung bei Teilnahme an Fortbildungsangeboten (Gruppenabende, Fortbildungswochenenden) - pro Veranstaltung DM 10,-
  • Bezuschussung externer Fortbildungsmaßnahmen

Personeller Rahmen

  • Pädagogische Fachkraft, wöchentlich 30 Stunden
  • Verwaltungsfachangestellte, wöchentlich 12,5 Stunden

Pädagogischer Förderrahmen

  • Beratung - Fortbildung (jährlich ca. 60 Unterrichtseinheiten) - Supervision - Austausch und Begegnung der Familien
  • Selbstorganisierte Gruppentreffen

Fortbildungscurriculum

  • Themenzentriertes, erfahrungsbezogenes, praxisbegleitendes Arbeitskonzept (mit Zertifikat)
  • Schwerpunkte in: Arbeit und Stellung der Tagesmutter, rechtlich/ organisatorische Grundlagen, Grundlagen der Entwicklungspsychologie, Aspekte der Pädagogik und Soziologie, Betreuungssystem Tagespflege-/ Ursprungsfamilie, Gesundheitsvorsorge und -sicherung des Kindes, Alltagsgestaltung/ Förderung des Kindes, Vernetzung/ Kontakte mit Sozialen Diensten, Öffentlichkeitsarbeit

Autorin

Karin Hahn ist Sozial- und Heilpädagogin, Leiterin des Fachbereichs Kinder, Familie und Jugend der Stadt Maintal sowie des Hessischen Tagespflegebüros (Projekt des Hessischen Sozialministeriums seit 1995).