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Zitiervorschlag

Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder – Teil 2: Auswirkungen der Quarantänemaßnahmen auf Kinder und die Kindheit

Renate Sabine Kränzl-Nagl und Martina Beham-Rabanser

 

Der Begriff der Kindheit bezieht sich auf eine bedeutungsvolle Entwicklungsspanne, die durch viele Veränderungen geprägt ist – während der Corona-Krise gilt dies noch mehr als sonst. Durch die Schließung von Krippen, Kindergärten und Schulen hat sich das Leben von Kindern und Jugendlichen massiv verändert und das innerhalb kürzester Zeit.

Im zweiten Teil dieses Interviews, das am 31. August 2020 geführt wurde, bitten wir Univ.-Ass. Mag. Dr. Martina Beham-Rabanser gemeinsam mit FH-Prof. Mag. Dr. Renate Kränzl-Nagl um ihre Einschätzung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Kinder und die Kindheit.

Wie wirken sich die Quarantänemaßnahmen auf Kinder und Kindheit aus?

Die weitreichenden Maßnahmen zur Reduktion der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie beschneiden zentrale Bedürfnisse von Kindern, wie ihr Bedürfnis nach Bewegung, nach Spiel und sozialen Kontakten mit Gleichaltrigen. Verbote bzw. ein stark eingeschränkter Zugang zu zentralen Freizeitorten für Bewegung wie öffentlichen Parkanlagen, Spielplätzen, Sportvereinen treffen Kinder überdurchschnittlich hart; dies auch deshalb, weil Kinder jene Bevölkerungsgruppe sind, die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger in beengten Wohnverhältnissen lebt. Ganz besonders schränken pandemiebedingte Restriktionen Kinder in prekären Lebenssituationen ein, die keine Freiflächen wie einen Balkon oder Garten zum Spielen haben. Dies trifft, wie Ergebnisse der DJI-Studie Kindsein in Zeiten von Corona zeigen, in Deutschland auf 12 Prozent der Familien zu. Ein ähnliches Ausmaß zeigen die Analysen von Bacher (2020) für Österreich: trotz einer insgesamt vergleichsweise relativ guten Grünraumversorgung hat die Schließung der Spiel- und Sportplätze dazu geführt hat, dass in Österreich jedes zehnte Kind keine Grünflächen in der Wohnumgebung zur Verfügung hat.

Je mehr Kinder zum Schutz der Gesundheit aller auf das enge häusliche Umfeld verwiesen sind, umso mehr sind ihre (Freizeit-)Möglichkeiten davon abhängig, welche Bedingungen sie in der Wohnung und im Wohnumfeld vorfinden und umso größer besteht für einzelne Gruppen von Kindern die Gefahr, dass Entwicklungsdefizite entstehen oder bestehende sich verstärken können.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Belastungen für Kinder in der Corona-Krise?

Kinder sind anpassungsfähig und kommen mit neuen Situationen grundsätzlich vielfach gut zurecht, vor allem dann, wenn die Personen, die ihnen wichtig sind, einen Weg finden, die Herausforderungen zu meistern. Aus der Resilienzforschung wissen wir: Kinder können mit den Herausforderungen wachsen.

Zugleich lassen tägliche Berichterstattungen in den Medien über Corona-Fallzahlen, Clusterbildungen, Abstandregeln auch Kinder nicht unberührt; bei nicht wenigen lösen sie Unsicherheit, Sorgen und Ängste aus. Ängste, dass die Großeltern an Covid-19 erkranken und sterben könnten, dass sie sich selbst mit der Krankheit anstecken könnten, oder dass sie wegen Corona ihre Freund*innen verlieren könnten, wenn sie diese länger nicht sehen dürfen. Eltern geben in Onlinebefragungen an: Zu den Dingen, die Kinder in der Corona-Krise am meisten vermissen, gehört, dass sie Freund*innen nicht persönlich treffen dürfen und Freizeitmöglichkeiten, bei denen sie mit anderen zusammen sind, wegfallen. In der „KiCo–Studie“ (S. 12f.), einer Forschungsverbundstudie der Universität Hildesheim, Frankfurt und Bielefeld, beschreibt eine alleinerziehende Mutter die Erfahrungen ihrer Kinder mit den Worten: „Kindern geht es auch nicht gut, so isoliert zu sein, Freunde nicht treffen zu dürfen, kein Schwimmen, kein Sport, kein Kino, keine Oma.

Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen sind für Kinder wichtige Treffpunkte. Es sind jene Orte, wo Freundschaften entstehen und soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen gelebt werden. Durch die Covid-19-Pandemie änderte sich dies: Kinder verbrachten nun die meiste Zeit in den Familien, also mit Eltern bzw. Geschwistern. Zugleich haben sich mit der Schließung von Schulen und Kitas die Kontakte zu Gleichaltrigen nochmals mehr in die sozialen Medien verlagert. WhatsApp, Skype, Facebook u.v.m. – all diese Dienste wurden von Kindern und vor allem Jugendlichen auch in der Zeit vor Corona genutzt; allerdings zusätzlich zu physischen Treffen und vielfach, um physische Kontakte zu organisieren. In der Zeit der strikten gesellschaftlichen Quarantäne waren Kinder ebenso wie Erwachsene nun gefordert, Beziehungen und Freundschaften primär über soziale Medien aufrechtzuhalten und dies war auch für sie eine neue Herausforderung.

Die meisten Haushalte verfügen zwar über ein breites Medienrepertoire und die Multifunktionalität und Portabilität heutiger Geräte, wie etwa von Smartphones, ermöglichen den Zugang zu Internet, unabhängig von Ort und Zeit. In der Zeit der pandemiebedingten Einschränkungen sind es aber nicht nur Kinder und Jugendliche, die mit ihren Freund*innen chatten, Lernvideos schauen, digitalen Live-Unterricht haben, sondern auch Eltern und Geschwister sind zum Teil über viele Stunden online, was Datenleitungen in Privathaushalten zum Teil überlastet und WLAN-Verbindungen überfordert. Beklagt wird in Interviews von Jugendlichen, dass dann, wenn alle Familienmitglieder zu Hause sind, das WLAN überlastet sei und sie keine gute Internetverbindung hätten, weshalb es beim Skypen oder Videochatten immer wieder zu Problemen komme.

Aber nicht nur um Kontakte aufrecht zu erhalten und sozial nicht zu vereinsamen, nutzten Kinder und Jugendliche während der gesellschaftlicher Quarantäne intensiv diverse Medien, sondern auch weil es ihnen in dieser Zeit an anderen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung mangelte. Soziale Unterschiede im Mediennutzungsverhalten verstärkten sich dabei: Kinder in deprivierten Lebenslagen surften besonders lange im Internet bzw. verbrachten viel Zeit mit PC- oder Videogames.

Wie kommen Kinder mit der Corona-Pandemie insgesamt zurecht?

In einer anderen Studie mit dem Titel Kindsein in Zeiten von Corona des Deutschen Jugendinstituts wurden Eltern in der Zeit der Schulschließungen explizit danach gefragt, ob sich ihr Kind wegen der Kontaktbeschränkungen infolge von Covid-19 einsam fühlt: Mehr als ein Viertel der befragten Eltern stimmt dem zu. Wenig überraschend trifft dies auf Einzelkinder häufiger zu als auf Kinder mit Geschwistern. Geschwister können sichtlich bei Quarantänemaßnahmen das Bedürfnis nach physischen Kontakten mit Gleichaltrigen zumindest zum Teil kompensieren.

Wie wichtig soziale Kontakte mit Gleichaltrigen für das Wohlbefinden von Kindern sind, unterstreichen u.a. auch die Ergebnisse einer Schüler*innenbefragung der Universität Wien, in der Schüler*innen sowohl zu Beginn des Home-Learning als auch nach der Wiedereröffnung der Schulen nach ihrem Wohlbefinden gefragt wurden. Nach der Öffnung der Schulen, die in Österreich vor den Sommerferien im Schichtbetrieb erfolgte, schätzten Kinder und Jugendliche vor allem, dass sie wieder direkte Kontakt zu Mitschüler*innen haben und rund 55 Prozent der befragten Schüler*innen fühlen sich nach der Wiederöffnung der Schulen wohler im Vergleich zur ausschließlichen Home-Learning-Zeit.

Insgesamt scheinen trotz vielfältiger Entbehrungen viele Kinder, soweit wir dies aus heutiger Sicht beurteilen können, die Herausforderungen der Corona-Krise vergleichsweise gut zu bewältigen. Es zeigt sich aber – quer über viele Studien – auch, dass Kinder aus Familien, die mit ihrem Haushaltseinkommen kaum zurechtkommen und die in engen Wohn- und prekären Lebenssituationen leben, deutlich schlechter damit zu Rande kommen. Die Corona-Krise verstärkt somit soziale Ungleichheiten und ist wie ein Brennglas: Soziale Ungleichheiten und Probleme von Kindern, die es bisher schon nicht leicht hatten, werden in der Krise offensichtlicher.

Wenn wir über die Auswirkungen der Krise auf Kinder und Jugendlichen reden, dürfen wir zudem nicht vergessen: die Covid-19-Pandemie hat nicht nur gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche Folgen. Die öffentlichen Diskussionen kreisen um Reproduktionszahlen, Ampelsysteme und damit verbundene Schutzbestimmungen. Die weitreichenden Konsequenzen der Corona-Wirtschaftskrise auf junge Menschen bleiben im Vergleich dazu oft unterbelichtet. Die durch die Pandemie entstandenen Staatsschulden müssen vor allem von den Jungen zurückbezahlt werden. Auch wissen wir aus früheren Wirtschaftsrezessionen: junge Menschen sind als erstes und besonders stark von Wirtschaftskrisen betroffen. Betriebe stellen in der Krise weniger neue Arbeitskräfte ein und junge Menschen sind häufiger von Kündigungen betroffen. Prognosen zur Arbeitsmarktlage für Jugendliche in der EU-27 weisen darauf hin, dass sich die Situation dramatisch zuspitzen könnte – die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen könnte innerhalb von einem Jahr von 2,8 Mio. auf 4,8 Mio. ansteigen und die Jugendarbeitslosenquote sich auf über 25 Prozent erhöhen, wenn keine entsprechenden Maßnahmen gesetzt werden. Länger andauernde Arbeitslosigkeit im Jugendalter verursacht aber nicht nur individuelles Leid, sondern auch hohe volkswirtschaftliche Kosten. Initiativen für mehr Lehrstellen und Ausbildungsangebote, eine Reaktivierung der EU-Jugendgarantie, die gewährleisten könnte, dass junge Menschen nicht zu den Verlierern der Corona-Krise werden, sind in dem Zusammenhang essentiell.

Vielfach hört man von einer Zunahme der Gewaltbereitschaft gegenüber Kindern in Zeiten von Covid-19. Wie sehen Sie das?

Finanzielle Sorgen, Zukunftsängste, der Verlust von Alltagsstrukturen und Routinen, Einschränkung von sozialen Kontakten, Angewiesensein auf die eigenen vier Wände – die Corona-Pandemie geht, wie gesagt, mit vielen Risikofaktoren einher. Diese können Überforderung und Aggressionen verstärken und machen auch Gewalt gegen Kinder wahrscheinlicher. Bei Opferschutzeinrichtungen wuchs daher von Anfang an, seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus die Sorge, dass durch die soziale Abschottung Fälle von Missbrauch und Gewalt während des Shutdowns nicht ausreichend bzw. spät erkannt werden.

Dass diese Befürchtungen nicht unberechtigt sind, darauf verweisen die Erfahrungen von Opferschutzeinrichtungen, die zum Teil von deutlich mehr Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt im ersten Halbjahr dieses Jahres berichten. Bereits im März 2020, kurz nach dem Lockdown, meldeten manche Frauenhäuser, sie stünden am Limit ihrer Kapazitäten. Angestiegen sind während der Corona-Pandemie aber auch die Anrufe bei Kinder- und Jugendanwaltschaften und bei kostenlosen und anonymen Kindertelefonhotlines.

Expert*innen von World Vision International gehen davon aus, dass weltweit durch die Covid-19-Pandemie die Gewalt gegen Kinder bis zum Jahresende um 20 bis 32 Prozent steigen könnte und bis zu 85 Millionen mehr Kinder unter emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt als Folge der Quarantänemaßnahmen durch Covid-19 leiden könnten.

Scheinbar im Widerspruch dazu haben mit Beginn der Mitte März 2020 verhängten Covid-19-Einschränkungen die Gefährdungsmeldungen bei Jugendämtern stagniert und zum Teil sogar abgenommen, wie etwa eine bundesweite Onlinebefragung bei deutschen Jugendämtern zeigt. Der Widerspruch trügt. Jugendämter nennen vielmehr als Grund für diesen Rückgang, dass Bildungs- und Betreuungseinrichtungen als Seismograf für Kindeswohlgefährdungen weggefallen sind. Kinder hatten in der pandemiebedingten Zeit des Shutdowns keine Bezugspersonen außerhalb der Familie, denen gegenüber sie sich öffnen konnten und die Schritte der Unterstützung einleiteten.

Aussagen über das tatsächliche Ausmaß häuslicher Gewalt gegen Kinder sind schwierig – die Dunkelziffer ist hoch. Befragungen bringen nur einen Teil der häuslichen Gewalt zutage. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie der TU München und des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, die u.a. hinsichtlich Alter, Einkommen und Wohnort repräsentativ für Deutschland ist – allerdings nicht den Anspruch erhebt, ein vollständiges Bild häuslicher Gewalt zu bieten – zeigt: Rund 3 Prozent der Frauen in Deutschland wurden nach diesen Ergebnissen in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer körperlicher Gewalt, knapp 4 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. In rund 7 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft. War die Familie in Quarantäne oder hatten die Familien akute finanzielle Sorgen, lagen die Zahlen deutlich höher; ebenso kam es demnach in Familien mit jüngeren Kindern unter 10 Jahren häufiger zu Gewalt gegen Frauen und Kinder.

Sie haben eine Reihe von Befunden aus verschiedenen Studien vorgestellt. Was wäre Ihr abschließendes Fazit?

Die Covid-19-Pandemie betrifft alle, aber nicht mit gleicher Intensität. Die Covid-19-Krise rückt Ungleichheiten in den Fokus. Die bislang vorliegenden Befunde deuten auf eine massive Verstärkung sozialer Ungleichheiten hin, die Kinder als besonders vulnerable Gruppe der Gesellschaft auch in besonderer Weise trifft. Hier gilt es, wachsam zu bleiben und alles daran zu setzen, dass sich bestehende Ungerechtigkeiten etwa im Bildungssystem infolge der Corona-Krise nicht weiter verschärfen. Alltag leben in Familie, Doing Family, erfordert in Zeiten von Corona zugleich von allen Familien hohe Anpassungsfähigkeit, erzeugt Stress und braucht zum Teil auch Mut, Neues auszuprobieren. Die Corona-Krise birgt da und dort aber auch neue Chancen für die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Generationen.

Autorinnen

FH-Prof. Mag. Dr. Renate Sabine Kränzl-Nagl, Research & Development, FH OÖ Forschungs und Entwicklungs GmbH

Renate Sabine Kränzl Nagel Foto

 

Univ.Ass. Mag. Dr. Martina Beham-Rabanser, Johannes Kepler Universität, Institut für Soziologie

Martina Beham Rabanser