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Zitiervorschlag

Aus: KiTa aktuell BY 2014, 26 (11); S. 246-248. Mit freundlicher Genehmigung der Wolters Kluwer Deutschland GmbH

Kita-Leitung: vom traditionellen Modell hin zur Ko-Konstruktion

Martin R. Textor

 

„Leitung“ bzw. „Führung“ wird traditionell anhand einer Hierarchie definiert: In der mittelalterlichen Gesellschaft gab es den König, darunter den Adel und die hohe Geistlichkeit, darunter die Bürger, Priester, Mönche und Bauern, darunter die Leibeigenen. In der Wirtschaft gibt es den Eigentümer eines Unternehmens, den Vorstand oder die Geschäftsführung, darunter das Management, darunter die (einfachen) Angestellten und Arbeiter. In der Verwaltung wird zwischen dem höheren, dem gehobenen, dem mittleren und dem einfachen Dienst unterschieden. Auch im Bildungswesen finden wir verschiedene Hierarchieebenen – beispielsweise im Kita-Bereich Träger, Kita-Leitung, Gruppenleiter/innen, Zweitkräfte und Raumpfleger/innen. Nach dem traditionellen Modell bestimmt die Leitungsebene, die mittleren Ebenen arbeiten die Vorgaben weiter aus, und die unteren Ebenen führen diese aus. Rückkoppelungssysteme wie mündliche und schriftliche Berichte, Evaluationen und Qualitätsmessverfahren stellen sicher, dass die jeweiligen Ziele erfüllt werden.

In der Wirtschaft können wir beobachten, dass die Vorgaben von immer weiter „oben“ kommen: Je größer die Unternehmen werden und in je mehr Ländern sie vertreten sind, umso mehr Hierarchieebenen gibt es in der Regel. Ähnliches gilt für das Bildungswesen: Vor allem seit der ersten PISA-Studie werden immer mehr und immer detaillierte Vorgaben seitens der zuständigen Ministerien und der ihnen nachgeordneten Behörden gemacht. Denken wir nur einmal an die Bildungspläne der Bundesländer – das Extrem dürften der „Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung“ mit insgesamt 476 Druckseiten und die ergänzende Handreichung „Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren“ mit 157 Seiten sein (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik 2010, 2012). Außerdem werden immer mehr (Sprach-) Tests und (Förder-) Programme angeordnet, bei denen die von den Kitas zu leistenden Tätigkeiten genau vorgegeben sind. Zunehmend wird auch der „Output“ von Kitas kontrolliert (z.B. gemessen an der Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund, die bei der Einschulung die deutsche Sprache nur unzureichend beherrschen), wird immer wieder die Frage nach einer externen Qualitätsfeststellung mit Vergabe eines Gütesiegels durch Fachagenturen diskutiert (z.B. in Nordrhein-Westfalen teilweise umgesetzt: mehr als 2.000 Familienzentren – ein gutes Fünftel aller Kitas – haben das Gütesiegel „Familienzentrum NRW“ erhalten).

Hierarchische Systeme werden jedoch in der Wirtschaft zunehmend hinterfragt, da sie vor allem in den modernen, zukunftsträchtigen Branchen an ihre Grenzen stoßen: Dort, wo es um schnelle Innovationen geht, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, können Vorstände und Spitzenmanager schon seit langem nicht mehr bestimmen, in welche Richtung „der Zug laufen“ soll. Hier, wo Produkte und Dienstleistungen auf dem aktuellen Fachwissen, der kontinuierlichen Weiterentwicklung technologischer Verfahren und den Forschungsergebnissen von Ingenieuren und Wissenschaftlern beruhen, müssen sich Manager zunehmend auf ganz grobe Vorgaben und organisatorische Aufgaben beschränken – sie verstehen viel zu wenig von dem, was ihre „Untergebenen“ machen. Und je schneller sich die Wissensgesellschaft ausdifferenziert, umso weniger werden Vorgesetzte die immer stärker spezialisierten Fachleute „führen“ können, umso mehr werden sie zu Mitgliedern von Projektgruppen werden, in die auch sie sich einordnen müssen.

Von der Leitung zur Ko-Konstruktion

Während wir im Kita-Bereich voraussichtlich auch in den kommenden Jahren immer mehr Vorgaben seitens ihm übergeordneter Hierarchieebenen erleben werden, hat in modernen Wirtschaftsbereichen also schon längst ein Umdenken begonnen: „Führung“ wird zu einem kollaborativen Unterfangen mit den „Geführten“.

Wenn man unter „Leitung“ einen Sammelbegriff für bestimmte Verhaltensweisen versteht, die notwendig sind, um gewisse Ziele zu erreichen, dann kann Leitung sowohl von einer einzelnen Person (klassisches Konzept) als auch von einem Kollektiv (modernes Konzept) ausgeübt werden. Im letztgenannten Fall wechselt die Leitung fortwährend: Der Spezialist, dessen Fachkenntnisse bzw. besonderen Kompetenzen gerade gefragt sind, leitet kurzzeitig das Teams bzw. die (Arbeits-, Projekt-) Gruppe. Es gibt also keine Hierarchie mehr, sondern die jeweiligen Arbeitsaufträge werden als eine gemeinsame Aufgabe verstanden, die im Gespräch miteinander und durch aufeinander abgestimmte Handlungen erfüllt wird.

Übertragen auf den Kita-Bereich bedeutet dies, dass die Spezialisierung der Teammitglieder vorangetrieben werden müsste: Jede Fachkraft sollte sich stärker als bisher auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. Eine solche Entwicklung können wir schon in vielen Kitas mit offenen Gruppen beobachten, in denen immer dieselbe Fachkraft für einen Funktionsraum zuständig ist. Beispielsweise spezialisiert sich die eine Erzieherin auf das Atelier und die andere auf den Turnraum, und dann ist es selbstverständlich, dass Erstere bei einer Teamsitzung die Führung übernimmt, bei der es um eine (Verkaufs-) Ausstellung von Kinderbildern geht, und Letztere die Diskussion leitet, wenn ein neues Klettergerüst für das Außengelände angeschafft werden soll. Genauso wie auf einzelne Bildungsbereiche könnten sich Fachkräfte auf andere Aufgaben spezialisieren, also beispielsweise auf das regelmäßige Aktualisieren der Homepage, den Kontakt zu (idealerweise persönlich bekannten) Journalisten, die Planung eines jährlich wiederkehrenden Festes, die Vorbereitung eines besonderen Projekts, den monatlichen Kochtag mit Eltern, die regelmäßige Vorleseaktion mit fremdsprachigen Bilderbüchern, die abwechslungsreiche Gestaltung des Eingangsbereichs, die Kontaktpflege mit dem Jugendamt, die Umsetzung von Sicherheitsbestimmungen usw.

Kollaborative Leitung bedeutet also nicht, dass die/der Kita-Leiter/in bestimmte (Führungs-) Aufgaben delegiert, sondern dass die Leitung ein gemeinsames Unterfangen aller Beschäftigten ist. So sind Entscheidungen eine Ko-Konstruktion: Sie werden von den Teammitgliedern in einem längeren Prozess „konstruiert“, in dem sie miteinander nach relevanten Informationen (Wissen) suchen, Beobachtungen und Annahmen austauschen, Probleme analysieren sowie Meinungen und Einstellungen diskutieren. Die Entscheidungen sind somit Ergebnisse des gemeinsamen Reflektierens und Interagierens.

Natürlich kann die Kita-Leitung nicht ersetzt werden – irgendjemand muss die Gesamtverantwortung tragen, koordinierende Funktionen übernehmen und die Kita gegenüber Träger und Behörden vertreten. Sie wird bei einer ko-konstruktiven Leitung aber nicht nur von vielen Aufgaben entlastet, sondern diese werden auch besser ausgeführt, weil sich Kolleg/innen darauf spezialisiert haben. Dies wird aber nur dann der Fall sein, wenn die Kita-Leitung immer wieder die Teammitglieder einlädt, gemeinsam die Kita zu leiten und die Verantwortung mit ihr zu teilen – und diese den Eindruck haben, dass sie dies wirklich will...

Voraussetzungen für eine ko-konstruktive Leitung

Eine kooperative Leitung ist nur möglich, wenn alle Teammitglieder gleichwertig und gleichberechtigt sind, sich akzeptiert und respektiert fühlen. Auch sollten sie Wertschätzung für die Individualität und Einzigartigkeit der anderen, ihre Gedanken und Gefühle, ihre Stärken und Leistungen zeigen. Die Beziehungsebene muss also stimmen – was nur der Fall ist, wenn Beziehungen gewürdigt und bewusst gepflegt werden. So muss im Kita-Alltag Zeit für persönliche Gespräche vorhanden sein, sollte das Personal auch miteinander feiern und Spaß haben können.

Eine weitere wichtige Voraussetzung ist eine qualitativ gute Kommunikation: Alle Teammitglieder sollten fähig sein, offen und ehrlich ihre Meinung zu sagen, Emotionen angemessen auszudrücken, den anderen genau zuzuhören, empathisch zu reagieren sowie Probleme und Konflikte friedfertig und lösungsorientiert zu diskutieren. Kollaborative Leitung realisiert sich im Gespräch – es muss also auch genügend Zeit für (Team-) Besprechungen vorgesehen sein.

Ferner ist das Wir-Gefühl von Bedeutung: Das Team muss sich als eine Einheit erleben, die für die Kita, für die Kinder, die Eltern und das Personal verantwortlich ist. Dann werden sich die Teammitglieder – einzeln oder als Gruppe – die Zeit nehmen, um über die Kita nachzudenken: über die Bildungs- und Erziehungsziele, die pädagogische Praxis (Methoden, Bildungsangebote, Spielsituationen, Projekte, Förderprogramme etc.), die Beziehung zu den Kindern, die Organisation und Zeitplanung, die täglichen Routinen, die Raumgestaltung, das Teamgeschehen, das Verhältnis zu den Eltern, die Zusammenarbeit mit dem Träger usw. Sie werden mit sich selbst und mit den anderen kritisch sein, daraus die Motivation für experimentelle Veränderungen ziehen, diese auswerten und dann auf Dauer übernehmen oder verwerfen. So werden sie Fortschritte erleben, daraus neue Motivation ziehen und ihr Handeln als sinnhaft erfahren.

Damit wurde bereits eine weitere Voraussetzung angedeutet: Die Teammitglieder müssen bereit sein, an sich selbst zu arbeiten, also in die eigene – professionelle und persönliche! – Weiterentwicklung zu investieren. Das kann jeder für sich tun (z.B. durch das Lesen von Fachliteratur oder den Besuch von Fortbildungen) – oder das Team als Ganzes (z.B. durch Teamfortbildung, -beratung oder -supervision). Ferner können Lerngruppen gebildet werden, in denen sich zwei oder mehrere Kolleg/innen mit einem sie interessierenden Thema befassen. Und genauso, wie bei der kollaborativen Leitung die Kita von den Stärken jedes Teammitglieds profitiert, kann auch der Einzelne die professionelle Rückmeldung der Kolleg/innen für die eigene Weiterentwicklung nutzen – indem er sie zur Hospitation mit anschließendem Feedback in die eigene Gruppe einlädt, mit ihnen über einzelne Kinder bzw. deren Familien spricht oder sich von ihnen bei bestimmten Problemen coachen lässt.

Fazit

Kita-Leitung kann nicht nur hierarchisch verstanden werden, sondern auch als eine Ko-Konstruktion, zu der jede Fachkraft entsprechend ihrer individuellen Kompetenzen und ihres speziellen Wissens beiträgt. Sie übernimmt damit einen Teil der Verantwortung, was ihre Identifikation mit der Kita verstärkt. Zudem erfährt sie Anerkennung für ihre besonderen Leistungen, was sie motivieren dürfte, sich noch intensiver mit ihren Spezialgebieten zu befassen, also weitere Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Davon profitieren nicht nur die anderen Teammitglieder, sondern auch die betreuten Kinder und deren Eltern!

Literatur

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik: Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Handreichung zum Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Weimar, Berlin: verlag das netz 2010

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik: Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Berlin: Cornelsen, 5. Aufl. 2012

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de