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Zitiervorschlag

Gewinner des Kita-Preises 2020. Im Interview mit der PINGUIN Kindertagesstätte Aurich e.V.

 

Auch „Das Kita-Handbuch“ möchte Ihnen an dieser Stelle herzlichst zum Kita-Preis 2020 gratulieren! Als inspirierendes Beispiel für partizipative Pädagogik möchten wir in diesem Interview mehr über Sie und Ihre Einrichtung erfahren.

Die Jury des deutschen Kita-Preises hat unter anderem hervorgehoben, dass in Ihrer Einrichtung „ein partizipatives Miteinander in herausragender Weise gelebt“ wird. Können Sie uns an einem Beispiel erklären, wie Sie Partizipation erfolgreich im Kita-Alltag umsetzen?

Ein Beispiel für gelebte Partizipation in unserer Einrichtung ist unser „Kinderparlament“. Dabei erfahren die Kinder ganz praktisch die Wirkungs- und Funktionsweise demokratischer Prozesse. Pro Kindergartengruppe werden 2 „Abgeordnete“ in einem demokratischen Verfahren gewählt. Diese beiden Kinder vertreten die Gruppe und ihre Interessen dann im wöchentlich stattfindenden Kinderparlament. Die Sitzungen finden in unserem Mitarbeiterraum statt, der ansonsten für die Kinder tabu ist. Dadurch erhält diese Zusammenkunft eine Wertigkeit, die für die kleinen Parlamentarier etwas Besonderes ist.

Die Sitzungen unseres Kinderparlamentes machen ihrem Namen alle Ehre. Es wird diskutiert und erzählt, abgewogen und zum Schluss entschieden. Geleitet wird die Sitzung immer von der gleichen Mitarbeiterin, die den Kindern grundlegende Prozesse erklärt und sie mit auf den Weg der demokratischen Abstimmung nimmt. Ein Beispiel: Kurz vor der Corona-Pandemie stand das Thema „Spielzeugtag“ auf der Agenda. Sollte es einen Tag in der Woche geben, an dem die Kinder Spielzeug von Zuhause mitbringen dürfen oder nicht? Im Vorfeld der Sitzung war die Stimmungslage in den Gruppen durch die Abgeordneten abgefragt worden.

Das Votum fiel eindeutig zugunsten eines solchen Tages aus. Aber die Kinder diskutierten auch über die Rahmenbedingungen und legten sie im Anschluss klar fest. Was passiert, wenn ein Spielzeug kaputt oder verloren geht? Wie viel Spielsachen dürfen mit in die Kita gebracht werden? (Ein Podcast über die Sitzung des Kinderparlamentes gibt es hier: www.pinguin.tv/kitahandbuch)

Nach der Abstimmung informierten die Abgeordneten ihre einzelnen Gruppen über die Entscheidung. Durch die aktive Teilnahme am Kinderparlament erleben die Kinder ihre Wirksamkeit und ihren Einfluss. Sie erfahren in ersten Schritten, wie demokratische Prozesse ablaufen und welchen Sinn sie machen. Darüber hinaus „wachsen“ sie in den Diskussionen über sich hinaus, lernen ihre Meinung zu vertreten und sich anderen verständlich zu machen.

Auch die Entscheidung, was unsere Einrichtung mit dem Preisgeld des Kita-Preises macht, liegt in der Hand der Kinder. In einer ersten Sitzung (coronabedingt allerdings getrennt nach Gruppen) haben wir die Wünsche der Kinder erfahren. Diese wurden nun an Hersteller von Spielgeräten weitergegeben, die wiederum Angebote erstellen – im Idealfall in Form von Modellen und technischen Bauzeichnungen. Diese werden im weiteren Prozess dann den Kindern präsentiert und müssen sich einer Abstimmung stellen.

Auch Partizipation mit Eltern wird bei Ihnen großgeschrieben. Was ist anders, wenn eine Kita von einem Elternverein getragen wird?

Die Organisationsform des Elternvereins hat sich in unserer Kita in den fast 50 Jahren ihres Bestehens bewährt. Im Jahr 1971 gegründet von engagierten Eltern, die eine andere Form der Pädagogik für ihre Kinder anstrebten, hat sich die Einrichtung zwar immer weiter bewegt und verändert, sich vergrößert und auch räumlich andere Dimensionen eingenommen, aber die Trägerschaft als Elternverein ist geblieben.

Durch diese Organisationsform ergibt sich ein besonders enges Verhältnis zwischen den Familien und der Einrichtung, denn die Eltern sind Teil der Kita – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie gehören alle zur großen „PINGUIN“-Familie und fühlen sich in der Regel auch so. Es besteht ein Zusammenhörigkeitsgefühl.

Unser Vorstand, der neben der Leitung die Geschicke der Einrichtung lenkt, besteht aus Eltern – oftmals sowohl aus Eltern, die aktuell ein oder mehr Kinder in der Kita haben als auch aus ehemaligen PINGUIN-Eltern. Dieser ist quasi der Arbeitgeber der Mitarbeiter und hat großen Einfluss auf Personalentscheidungen sowie auf die Konzeption der Kita. Damit haben die Familien einen direkten Einfluss auf unsere Arbeit, sie sind näher dran – quasi mittendrin. Die Umsetzung von Wünschen, Anregungen und Anliegen gelingt oftmals unproblematischer und schneller, weil der Vorstand in die Kitaarbeit involviert ist.

Diese Verbundenheit ist im Alltag aber auch zu besonderen Anlässen, wie etwa dem Kita-Preis, deutlich spürbar. Ein Großteil unserer Familien hat sich bewusst für die Einrichtung entschieden, ist stolz darauf, ein PINGUIN zu sein. Dieses Engagement zeigt sich auch in der guten Besetzung unseres Elternbeirates und des Festausschusses – viele Mütter und Väter sind in diesen Gremien aktiv und tragen so zum Austausch und letzten Endes auch zur Weiterentwicklung unserer Einrichtung bei. Das ist auch und vor allem in den Experteninterviews deutlich geworden, die im Zusammenhang mit der Bewerbung für den Deutschen Kita-Preis geführt wurden.

Des Weiteren schreiben Sie auf Ihrer Website, dass die Konzeption Ihrer Einrichtung kein „abgeschlossenes Werk“ darstellt, sondern offen bleibt „für neue Ideen und Impulse“. Wie würden Sie Ihre Vision oder das Leitbild Ihrer Einrichtung beschreiben?

Lassen Sie es mich an einem Beispiel festmachen: Als wir im Herbst 2019 unter die 25 Nominierten für den Deutschen Kita-Preis gekommen sind, war es für die weiteren Bewerbungsunterlagen für uns wichtig in die Reflexion zu gehen. Wir haben uns im Team Zeit genommen, zu überlegen, wo wir derzeit stehen, was wir machen und was uns wichtig ist. Am Ende hatten wir ein Manuskript in den Händen, das uns zeigte: Das sind wir jetzt im Augenblick. Jeder konnte es sich noch einmal durchlesen und überlegen, ob alle Punkte, die ihm selbst wichtig sind, auch wirklich verankert sind. Das war ein wichtiger Prozess, den wir gemeinsam durchgegangen sind und der das Team gestärkt hat. Der Prozess hat uns aber auch noch mal dahingehend gestärkt zu überlegen, ob wir die Bedürfnisse der Kinder wirklich im Blick haben. Wir haben dann mit den Kindern überlegt, was ist gut und richtig und was müssen wir gegebenenfalls verändern.

Als wir dann kurz vor Weihnachten unter die letzten zehn Finalisten des Wettbewerbs gekommen sind, wurde gleich auf der ersten Dienstbesprechung im neuen Jahr gesagt: „Wir hatten doch im November ein paar Punkte, die wir noch einmal mit den Kindern überdenken wollten. Wollen wir das Risiko eingehen und kurz vor dem anstehenden Expertinnenbesuch Veränderungen vornehmen?“ Allen war dann schnell klar, dass es nicht darum geht, wie der Besuch der Expertinnen ablaufen wird. Es geht darum, wo wir mit den Kindern stehen und was im Augenblick wichtig in der Arbeit mit den Kindern ist. Wir haben dann unseren gesamten Tagesablauf gemeinsam mit den Kindern überdacht: „Was braucht ihr? Was wollt ihr und was wollt ihr nicht?“

Mit den Ergebnissen der Umfrage haben wir dann innerhalb von zwei Wochen unsere Tagesstruktur total umgekrempelt. Zwar gab es auch Bedenken, dass unsere abgeschickte Bewerbung nun ja einen anderen Inhalt hatte, als den, den die Expertinnen nun vor Ort erleben würden. Im ersten Gespräch mit den Expertinnen vom Kita-Preis erklärten wir unsere Umstrukturierungen und baten sie um ein Feedback der Prozesse. Der Blick von außen würde uns sicher helfen zu sehen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. In den Gesprächen während des Expertinnenbesuchs haben die Kinder widergespiegelt, wie sie diese Neuerungen erarbeitet und auch als passend empfunden haben.

Auch die Mitarbeitenden haben in der Reflexionsrunde mitgeteilt, wie wichtig diese Änderung für das Wohlbefinden von Kindern und Erwachsenen war. Diesen Mut zur Veränderung zu haben, das ist unter anderem ein Aspekt, den wir verstärkt aus dieser Phase mitgenommen haben: Mut zu haben auf sein Gefühl zu hören und auf das, was die Kinder uns sagen, um dann daraus Konsequenzen zu ziehen. Im Nachhinein war es genau das Richtige zum genau richtigen Zeitpunkt.

Und genau auf diese Art und Weise sehen wir auch die Kita der Zukunft: flexibel und kreativ, mutig und kommunikativ, offen für Neues und das Bewährte bewahrend.

Auf Ihrer Website lässt sich unter dem Punkt „Konzeption“ ein starker Reggio Bezug wiederfinden. Was ist für Sie das Besondere an der Reggio-Pädagogik?

In unserer Einrichtung arbeiten wir mit „halboffenen“ Gruppen im Rahmen des situationsorientierten Ansatzes mit Elementen aus der Waldorf- und der Reggio-Pädagogik. Beim situationsorientierten Ansatz werden aktuelle Anlässe, Themen und Befindlichkeiten der Kinder aufgegriffen. Diese finden sich in verschiedenen Angeboten wieder, die die Kinder aktiv mitgestalten und die zeitlich flexibel sind. Packt uns ein Projekt so richtig, dann kann es auch schon mal den gesamten Vormittag oder gar eine ganze Woche in Anspruch nehmen.

Dabei entwickeln die Erzieher/Innen gemeinsam mit den Kindern Bildungsanlässe. Sie vertrauen auf die kindlichen Kompetenzen und ermutigen die Kinder zu eigenen Lernprozessen. Sie vermitteln kein Wissen, sondern schaffen Räume und Gelegenheiten, die Bildungsprozesse, neugieriges, forschendes Lernen und Experimente zulassen. Dabei werden Kinder und Erzieher/Innen gemeinsam zu Forschern – entdecken Zusammenhänge, entwickeln Projekte. Auch für die Erwachsenen bietet diese Form der Arbeit immer wieder Überraschungen und einen Wissenszuwachs.

Den Kindern stehen in unserer Kita hierzu Ateliers und Lernwerkstätten zur Verfügung, ebenso wie Begegnungsstätten. Dabei gilt der „Raum als 1. Erzieher“. So finden die Kinder in der „Forscherlernwerkstatt“ zum Beispiel Gläser, Glasschüsseln, Pipetten, Lebensmittel, Backpulver und Essig, Mikroskope und Lupen, um alltägliche naturwissenschaftliche Experimente durchzuführen. Naturphänomene spielen sich überall ab und faszinieren schon Kinder. Die Wissbegier und der Forscherdrang der Kinder werden in der Lernwerkstatt durch angeleitetes Experimentieren befriedigt. Scheinbar unerklärliche Fragen werden auf leicht verständliche und überraschende Art und Weise gemeinsam erfahrbar gemacht.

Auch in der Kreativwerkstatt, der Wortwerkstatt, der Holzwerkstatt, dem Licht- und Schattenraum, dem Rollenspielraum oder bei den Sachenmachern, die alte Elektrogeräte auseinanderbauen und mit den Einzelteilen kleine Kunstwerke erschaffen, können die Kinder sich kreativ ausleben – je nach eigener Interessenlage.

Wie in der Reggio-Pädagogik üblich finden die Kinder in den einzelnen Räumen ein umfangreiches Angebot an Material. Hierbei achten wir darauf, die verschiedenen Materialien mit einem auffordernden Charakter anzubieten, damit das Interesse der Kinder geweckt wird und ein eigenständiges, selbstbestimmtes Arbeiten möglich ist. So sind die Stifte, Naturmaterialien und Papiere im Atelier sortiert und übersichtlich präsentiert, damit diese Lust auf ein kreatives Arbeiten machen.

Zusammenfassend kann man sagen, das Besondere am Reggio-Ansatz ist für uns, dass jeder in der Einrichtung – Kind oder Erwachsener – seine Stärken und Interessen durch die Räumlichkeiten und deren Ausstattung finden und erleben kann, ohne dass es gewertet oder bewertet wird. Kreativität, Spontanität und den Wunsch den Dingen auf den Grund zu gehen ist dabei die größte Motivation.

Für die Qualität pädagogischer Arbeit ist auch die Zusammenarbeit im Team wichtig. Wie reflektieren Sie im Team über die pädagogische Arbeit?

Vertrauen, Transparenz und Kommunikation gehören zu den Säulen unserer Teamarbeit. Denn nur wenn jedes Teammitglied seine eigene Stärke entfalten kann, wird es wertvolle pädagogische Arbeit im Sinne unseres Leitbildes leisten können. Und so ist eines deutlich: Die Qualität einer Einrichtung wie unsere steht und fällt mit dem Team. Nur wenn die Mitarbeitenden an einem Strang ziehen, sich austauschen und sich auch mal aneinander reiben, kann gute Arbeit geleistet werden, die letzten Endes auch die Kinder und Familien spüren. Denn gerade Kita-Arbeit ist Teamarbeit.

Aus diesem Grunde findet ein reger Austausch auf unterschiedlichen Ebenen statt. Einmal pro Woche treffen sich die Teams aus den einzelnen Bereichen der Kita: Krippe, Kindergarten und Hort. Dort werden Themen besprochen, die speziell den eigenen Bereich angehen. Organisatorische Fragen, wie die Planung der Waldwoche oder der Weihnachtszeit stehen dort ebenso auf dem Programm, wie die persönliche Situation der einzelnen Kinder, Eltern und Teammitglieder.

In der monatlichen Dienstbesprechung für alle Mitarbeiter werden übergeordnete Themen diskutiert sowie konzeptionell gearbeitet. Regelmäßige Supervisionen in Kleingruppen oder dem gesamten Team, je nach Bedarf mit einem externen Coach ergänzen die Reflexionsarbeit. Zudem steht die Tür der Kitaleitung stets offen, ob für ein kurzes Tür- und-Angel-Gespräch oder ein 4-Augen-Gespräch. Einmal jährlich fahren wir als Gesamtteam für zwei Tage in eine „nette“ Umgebung, um uns intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, das uns bewegt. Unser letztes Teamthema lautete: „Erzieher – Beruf oder Berufung?“

Abschließend möchten wir Sie noch fragen, welche Anforderungen die Kita der Zukunft erfüllen sollte!

Wie schnell sich Anforderungen (die man vorher vielleicht im Kopf hatte) verändern können, haben wir gerade in den letzten Monaten während der Corona-Pandemie erlebt. Die Wissenschaft sagt uns heute, dass solche Situationen in den kommenden Jahren immer wiederkehren werden. Wir haben jetzt erlebt wie wichtig die Unterstützung und Begleitung von Kindern und Eltern in Ausnahmesituationen ist. Kindergärten und Schulen müssen sich auf den Weg machen, digitale Medien mit in ihr pädagogisches Konzept aufzunehmen. Kinder sollten schon im Kindergarten verstehen lernen, wie diese Medien sinnvoll zu nutzen sind.

Auf der anderen Seite halte ich es für wichtig, Kindern in Kitas aufzuzeigen, wie und was mit und in unserer Umwelt passiert. Nachhaltigkeit und Achtsamkeit gegenüber den Ressourcen können und sollten Kinder schon in der Kita erfahren – nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit Kreativität, Phantasie und der Ideenwelt und Vorstellungskraft der Kinder. Die Kitas sollten dazu Eltern, Großeltern, Netzwerkpartner, Firmen und Institutionen ins Boot holen, denn durch diese Öffnung der Einrichtung erschließen sich viele neue und vielleicht auch gemeinsame Projekte.

Die Grundlagen für Verständnis und das Entwickeln von Problemlösungen werden bereits im Kitaalltag gelegt und verinnerlicht, wenn wir den Kindern den Freiraum und die Möglichkeit geben diese erfahrbar zu machen. Wir Mitarbeiter in den Kindertagesstätten haben die Möglichkeit flexibel auf Situationen zu reagieren. Nutzen wir die Chance, die uns geboten wird.

Mein Appell an die Mitarbeiter der Kitas: Bleiben Sie mutig; hören Sie auf das, was die Kinder bewegt; nutzen Sie Ihre eigene Kreativität und die der Kinder; machen Sie sich gemeinsam auf den Weg Antworten auf Ihre Fragen und die der Kinder zu finden; stellen Sie viele Antwortthesen auf und prüfen Sie, was für Sie die richtige Antwort sein könnte – viele Wege führen zum Ziel!