Bildung als Ziel der Kinder- und Jugendhilfe

Aus: Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (Bericht der Sachverständigenkommission). Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S. 159-160 

Sachverständigenkommission für den Elften Kinder- und Jugendbericht

§ 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) nennt "Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" als Ziel der Förderung junger Menschen durch die Kinder- und Jugendhilfe und als ihr Recht. Wenn Bildung nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, sondern auf der Grundlage der Persönlichkeitsbildung auch Kompetenzen zur Lebensbewältigung, und wenn Bildungsprozesse angesichts der Pluralität der Wertwelten und der Vielfalt des Kompetenzerwerbs nicht nur in der Schule stattfinden, sondern an unterschiedlichen Bildungsorten, dann lassen sich Entwicklung und Erziehung einerseits und Bildung andererseits nicht mehr grundsätzlich trennen, dann ist eine solchermaßen verstandene Bildung auch ein Ziel der Kinder- und Jugendhilfe. Das KJHG nennt deshalb an verschiedenen Stellen Bildung auch ausdrücklich als Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, z.B. als außerschulische Jugendbildung im § 11 Abs. 2 oder als Familienbildung im § 16 Abs. 2.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat dieses Ziel auch faktisch immer schon verfolgt. Sie greift nämlich nicht nur ein, wenn andere Institutionen versagen, z.B. wenn schulische Bildungswege misslingen, sondern vermittelt vielmehr selber Kompetenzen, insbesondere in der Kinderbetreuung, in der Jugendarbeit und in der Jugendsozialarbeit. Sie schafft durch die Hilfen zur Erziehung Voraussetzungen für gelingende Bildungsprozesse, und sie fördert die Erziehung in der Familie. Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe ist freilich jeweils durchaus etwas Unterschiedliches, je nachdem ob es z.B. um Bildung im Kindergarten, um Bildung in der Familie oder um die außerschulische Jugendarbeit geht. Angesichts der Aufgaben, die durch Bildung heute in der Gesellschaft zu erfüllen sind (...), und angesichts fortbestehender und neuer Formen sozialer Ungleichheit soll Kinder- und Jugendhilfe dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen den Herausforderungen einer lernenden Gesellschaft begegnen und ihr eigenes Leben in einer offenen Gesellschaft selber gestalten können.

Die Kinder- und Jugendhilfe greift mit dieser Zielsetzung nicht in das institutionalisierte Bildungswesen ein, dessen Aufgabe nach wie vor die Vermittlung von allgemeiner und beruflicher Bildung in öffentlicher Verantwortung ist. Bildung reicht jedoch weit über das Bildungswesen hinaus, weil sie die Entwicklung und Erziehung der jungen Menschen in allen Lebenslagen, insbesondere in der Familie und ihrem sozialen Umfeld, in den Lebenszusammenhängen der jungen Generation, in den Kommunikations- und Konsumbezügen, in Ausbildung und Arbeit meint. Dies gilt in erhöhtem Maße in einer durch die modernen Informationstechnologien grundlegend verwandelten Weltgesellschaft, in der die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erst finden müssen. Das KJHG versteht Entwicklung und Erziehung grundsätzlich und ganzheitlich und unterscheidet zunächst einmal nicht nach den Gesichtspunkten institutionalisierter Arbeitsteilung.

Trotz der weitreichenden Ziele des KJHG und trotz eines umfassenden Auftrages der Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf Entwicklung und Erziehung junger Menschen erweisen sich die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe aber auch als begrenzt. Sie soll Leistungen für junge Menschen und ihre Familien erbringen, indem sie Angebote insbesondere im Bereich der Jugendarbeit, der Förderung der familialen und institutionellen Kinderbetreuung und Kindererziehung macht und Hilfe zur Erziehung leistet; darüber hinaus dient sie dem Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefahren, und sie erfüllt ordnungspolitische Aufgaben. Schutz, Hilfe und Angebote sind wichtig und häufig die Voraussetzung dafür, Bildung überhaupt erst zu ermöglichen; die Kinder- und Jugendhilfe schafft also zunächst einmal Gelegenheitsstrukturen für Bildung, macht aber darüber hinaus durchaus auch selber Bildungsangebote.

Durch die bildungspolitische "Öffnung der Schule" gehen von den Schulen heute auch Angebote im kommunalen Raum aus. Die Arbeitsverwaltung verwirklicht ihre Ausbildungsmaßnahmen häufig im Rahmen lokaler Ausbildungsinitiativen und mit Unternehmen und Gewerkschaften. Die politische Bildung - denkt man nur an den Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit - findet Ansätze in den Schulen, den Betrieben, im Sport, in der Musikszene, bei der Polizei und den Parteien, bei den Verbänden, insbesondere den Jugendverbänden. Die religiöse Bildung, die an sich im Religionsunterricht an Schulen und in den Einrichtungen der Kirchen fest institutionalisiert ist, findet neue Ausdrucksformen, insbesondere auch aufgrund der Säkularisierung des öffentlichen Lebens und der Vielfalt und Durchmischung der Religionen und Konfessionen. In der Umweltbildung entwickelten sich vielfältige neue lokale Formen, z.B. in ökologischen Initiativen. Die Medienpädagogik wandert z.T. aus der Schule aus und findet z.B. in Jugendpressebüros und Internetcafés neue Räume. Die Koordination und Vernetzung dieser vielfältigen lokalen Bildungsmöglichkeiten ist eine lokale bildungspolitische Aufgabe, der im Bereich der Kommunalpolitik größere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Kinder- und Jugendhilfe könnte bei der Koordination und Vernetzung der lokalen Bildungsangebote wichtige Aufgaben übernehmen, weil sie für alle Kinder und Jugendlichen in allen ihren Lebensbezügen zuständig ist und vor Ort öffentliche und freie Träger vereint.

Bildung als Aufgabe der Kindertageseinrichtungen

Seit der Kindergarten vor mehr als 150 Jahren "erfunden" wurde, waren Betreuung und Pflege, Muße und Spiel, Erziehung und Bildung in den Kindertagesstätten untrennbar miteinander verbunden, wobei es im Laufe der Zeit durchaus zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen kam. So entstand in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts unter den bildungspolitischen Gesichtspunkten der Chancengleichheit das Programm der kompensatorischen Erziehung durch "frühes Lernen". Sprachförderung stand dabei zunächst im Vordergrund; ihr folgte das Curriculum Soziales Lernen (vgl. Colberg-Schrader/ Krug/ Pelzer 1996). Nach einem Paradigmenwechsel trat in den 80er und 90er Jahren unter den gesellschaftspolitischen Interessen an der Vereinbarkeit von Familie und Berufsarbeit, nicht zuletzt durch die Lösung des politischen Konfliktes um den Schwangerschaftsabbruch, das Recht auf einen Kindergartenplatz hinzu, was nun wiederum zu einer stärkeren Betonung der Kinderbetreuung führte. Obwohl nach der Geschichte der institutionellen Kinderbetreuung im vergangenen Jahrhundert mit ihren z.T. widersprüchlichen Zielsetzungen heute ein breiter Konsens darüber besteht, dass Kindertageseinrichtungen jedenfalls auch Orte der Bildung sind, die die Selbstbildung von Kindern fördern und die Chancenungleichheit auszugleichen versuchen, harrt dieser Konsens noch der vollständigen und folgerichtigen Umsetzung in Praxis und Ausbildung.

Die vorschulischen Institutionen müssen nämlich zunehmend Aufgaben erfüllen, deren Bewältigung nicht - oder nicht in dieser Intensität - zu ihrem traditionellen Repertoire gehört. Vorschulische Einrichtungen nicht primär als Spielraum, sondern auch als kognitiven Anregungsraum zu gestalten, als Raum für Denkübungen, Experimente, gezielt angeleitete Bildungserfahrungen, gehört nicht zu den deutschen Traditionen. Dies ist aber angesichts der Entwicklungsaufgaben, vor denen die heute Aufwachsenden stehen, und angesichts der Unterstützung, derer die Familien bei der Erziehung bedürfen, dringend erforderlich (vgl. Elschenbroich 2001).

Die neue Aufmerksamkeit für die Kindheitsentwicklung fordert auch in der Kinderbetreuung eine stärker geschlechtsspezifisch differenzierende Sichtweise. Die nötigen inhaltlichen und materiellen Voraussetzungen für die Einlösung dieser Ansprüche - nicht zuletzt im Hinblick auf die Qualifizierung des Personals - sind größtenteils erst noch zu schaffen.

Die Kindertageseinrichtungen können deshalb heute nicht mehr als ein "Freiraum" verstanden werden, der die Umwelt der Kinder außen vor lässt, sondern sie müssen sich dem Thema "Lernen und Leistung" und damit auch der Aufgabe des "Forderns und Förderns" stellen.

Die Zehnte Kinder- und Jugendberichtskommission hat zu Recht ein verändertes Selbstverständnis der Kindertageseinrichtungen angemahnt und den Beginn einer öffentlichen Diskussion über die Konsequenzen einer solchen Veränderung gefordert (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 1998, S. 189f.). Aus der Anerkennung von Bildung als Aufgabe der Kindertageseinrichtungen folgt jedoch nicht die Verlagerung der Zuständigkeit für die Kindertageseinrichtungen in die Bildungsverwaltung. Ganz im Gegenteil: Aus der Erkenntnis, dass die Kinder- und Jugendhilfe als solche auch Aufgaben der Bildung hat, folgt die Einheit der Kinder- und Jugendhilfe auch im Bereich Kinderbetreuung.

Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ; Hrsg.) (1998): Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. Bundestagsdrucksache 13/11368. Bonn

Colberg-Schrader, H./ Krug, M./ Pelzer, S. (1996): Soziales Lernen im Kindergarten. Ein Praxisbuch des DJI. München

Elschenbroich, D. (2001): Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München

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