Zitiervorschlag

Haben oder Sein. Vor 45 Jahren erschien das wegweisende Buch von Erich Fromm

Martin R. Textor

 

Im Jahr 1976 wurde die erste Auflage des Buches „To Have or to Be?“ des radikal-humanistischen Psychoanalytikers Erich Fromm (1900-1980) in den USA veröffentlicht. Im gleichen Jahr erschien bereits die deutsche Ausgabe mit dem Titel „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“. Das Buch wurde weltweit zu einem Bestseller und ist auch 45 Jahre nach Erscheinen lesenswert.

Diesem Artikel liegt die 45. Auflage der dtv-Taschenbuchausgabe von 2018 zugrunde. Da bis zum Abschnitt „Kommentar“ keine weitere Literatur verwendet wurde, stammen bis dahin alle Zitate aus dem Buch „Haben oder Sein“. Deshalb werden immer nur die jeweiligen Seiten angegeben.

Erich Fromm beginnt seine Ausführungen mit den Worten: „Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluß, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt“ (S. 13). Die Menschen erwarteten, „auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden“ (S. 13). Sie fühlten sich als Herren ihres eigenen Lebens und rechneten damit, dass bald alle Menschen absolut glücklich sein werden.

In den 1970er Jahren stellten aber immer mehr Menschen fest, dass sich die „große Verheißung“ als reine Illusion entpuppte, und wurden sich „folgender Tatsachen bewußt:

Dass sich die „große Verheißung“ nicht erfüllt hat, liegt laut Erich Fromm u.a. daran, dass die beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Industriezeitalters nicht stimmen würden, „nämlich 1. daß das Ziel des Lebens Glück, das heißt ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. daß Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muß, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen“ (S. 15). Zum einen lässt sich feststellen, dass die Menschen sich heute keinesfalls wohler als frühere Generationen fühlen, obwohl die meisten inzwischen ihre Wünsche befriedigen können, sondern unglücklich, „einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig“ und notorisch unglücklich sind (S. 18). Zum anderen zeigt sich, dass Egoismus und Besitzstreben zwischenmenschliche Beziehungen vergiften, „daß ich immer habgieriger werden muß, denn wenn Haben mein Ziel ist, bin ich um so mehr, je mehr ich habe; daß ich allen anderen gegenüber feindselig bin – meinen Kunden gegenüber, die ich betrügen, meinen Konkurrenten, die ich ruinieren, meinen Arbeitern, die ich ausbeuten möchte. Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wünsche sind endlos. Ich muß jene beneiden, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürchten, die weniger haben. Aber alle diese Gefühle muß ich verdrängen, um (vor anderen und vor mir selbst) der lächelnde, vernünftige, ehrliche, freundliche Mensch zu sein, als der sich jedermann ausgibt“ (S. 19).

Zugleich haben die beiden Prämissen laut Erich Fromm dazu geführt, dass wirtschaftliches Handeln von ethischen Werten und Normen weitgehend „befreit“ wurde, dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier als angeboren gelten, dass Gesellschaften, in denen diese menschlichen Qualitäten verpönt sind, als „primitiv“ abqualifiziert wurden und dass die Natur nicht als etwas Erhaltenswertes betrachtet, sondern für die Ausbeutung und damit für ihre Zerstörung freigegeben wurde. Erst als in den 1970er Jahren die Grenzen des Wachstums (Begrenztheit der Naturschätze) und das Ausmaß der Umweltverschmutzung deutlich wurden, erst als Ängste vor einer ökonomischen und einer ökologischen Katastrophe virulent wurden, begann ein Umdenken: Es wurden eine neue Ethik sowie eine schützende und bewahrende Haltung gegenüber der Natur gefordert. Erich Fromm nimmt diese Forderungen auf und schreibt: „Die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung ist ... auch eine Voraussetzung für das nackte Überleben der Menschheit. Richtig leben heißt nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot erfüllen. Zum erstenmal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab“ (S. 23).

Jedoch reagieren Politik und Gesellschaft kaum auf die Bedrohung der menschlichen Existenz. Erich Fromm nennt hierfür drei Gründe: (1) „Eine der naheliegendsten Erklärungen ist, daß die Politiker mit vielem, was sie tun, vorgeben, wirksame Maßnahmen zur Abwendung der Katastrophe zu ergreifen. Endlose Konferenzen, Resolutionen und Abrüstungsverhandlungen erwecken den Eindruck, als habe man die Probleme erkannt und unternehme etwas zu ihrer Lösung“ (S. 24). De facto passiere aber nichts. (2) Die Selbstsucht der Politiker bzw. der meisten Menschen führe dazu, dass die eigenen Interessen und der persönliche Vorteil bei weitem mehr Berücksichtigung finden als ihre Verantwortung für „das große Ganze“. (3) Die weitaus meisten Menschen sind nicht bereit, jetzt größere Opfer zu erbringen, um Katastrophen abzuwenden, die lange nach ihrem Tod eintreten werden.

Der Unterschied zwischen Haben und Sein

In der heutigen Gesellschaft streben die weitaus meisten Menschen nach Besitz und wollen immer mehr haben. Durch Konsum möchten sie sich etwas im realen oder symbolischen Sinne „einverleiben“. Dies ist auch durch Identifikation und Imitation möglich. Hingegen lehren Religionsstifter wie Jesus und Buddha sowie Philosophen wie Meister Eckhart und Karl Marx eine grundlegend andere Existenzweise, Lebensorientierung und Charakterstruktur – die des Seins. Hier unterscheidet Erich Fromm zwei Formen: „Die eine ist das Gegenteil von Haben; ... Sie bedeutet Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt. Die andere Form des Seins ist das Gegenteil von Schein und meint die wahre Natur, die wahre Wirklichkeit einen Person“ (S. 40).

Die Unterschiede zwischen den Existenzweisen des Habens und Seins verdeutlicht Erich Fromm an mehreren Beispielen:

Laut Erich Fromm bildet eine Gesellschaft, „die auf den drei Säulen Privateigentum, Profit und Macht ruht“ (S. 89), die Basis für die Existenzweise des Habens. Selbst arme Menschen verteidigen eine solche Gesellschaft, denn auch sie können Besitz haben – und sei es auch nur an Menschen: In patriarchalischen Gesellschaften war der Mann der Eigentümer seiner Frau und seiner Kinder, und je mehr Kinder er hatte, umso größer war seine Macht. Während sich Frauen und Kinder in den reicheren Ländern inzwischen emanzipiert haben, gibt es in ärmeren Ländern immer noch patriarchalische Strukturen. Das Streben nach immer mehr Besitz bleibt aber, und der Individualismus mit dem Fokus auf dem eigenen, persönlichen Erfolg trägt dazu bei. Ja, auch das eigene Ich wird als Eigentum betrachtet; es umfasst den Körper, das persönliche Wissen und Können, den eigenen Besitz und sozialen Status.

Während früher Besitztümer auf Dauer erworben und gepflegt wurden, werden sie in der heutigen Wegwerfgesellschaft nur für eine mehr oder weniger lange Zeit erworben. Erich Fromm macht dies am Beispiel des Autos deutlich: Es ist ein Symbol des eigenen Status geworden – und ein neues Auto erhöht denselben. Zudem kann man beim Tausch einen Profit machen, bietet das neue Auto neue Reize, „vervielfacht sich der mit dem Erwerb verbundene Lustgewinn, wenn ich nicht alle sechs, sondern alle zwei Jahre den Wagen wechsle; der Akt des Besitzergreifens ist eine Art Defloration, eine Steigerung des Gefühls, über etwas die Herrschaft zu haben, und je öfter ich das erlebe, desto größer ist mein Triumpfgefühl“ (S. 93). In letzter Konsequenz wird das eigene Ich durch den eigenen Besitz definiert, der damit aber auch das Ich besitzt, da dessen Identität und psychische Gesundheit von ihm abhängen. Das Subjekt wird wie das Objekt zu einem „Ding“.

Zum Privatbesitz rechnen Menschen auch die eigene Gesundheit, Krankheiten, Ideen, Überzeugungen, Gewohnheiten u.v.a.m. – die Existenzweise des Habens ist laut Fromm in der Gesellschaft allgegenwärtig. Nur in der jungen Generation gäbe es Menschen, die nicht nach Besitz und Konsum streben, sondern auf der Suche nach sich selbst sind: „Meiner persönlichen Einschätzung nach handelt es sich bei den jungen (und zum Teil auch älteren) Leuten, die ernsthaft bemüht sind, vom Haben zum Sein überzugehen, nicht bloß um einige versprengte Individuen. Ich glaube, daß sich eine ziemlich große Zahl von Gruppen und einzelnen in diese Richtung bewegt und daß ihnen historische Bedeutung zukommt. Sie repräsentieren einen neuen Trend, der die Habenorientierung der Mehrheit transzendiert“ (S. 97). Allerdings stellt Erich Fromm auch fest, dass es in den 1960er Jahren mehr solcher Menschen gab als in den 1970er Jahren (als er sein Buch schrieb) und dass viele von ihnen falschen Heilslehren folgten und damit die Suche nach einer neuen Lebensorientierung in Enttäuschung, Unzufriedenheit und Apathie mündete.

Die vielen Einschränkungen der Tendenz, der eigenen Natur gemäß zu wachsen, führen auch zu Widerstand, der sich in ganz unterschiedlichen Formen zeigen kann. Deshalb wird laut Erich Fromm z.B. in Familien von Anfang an versucht, echte Wünsche und spontane Willensäußerungen von Säuglingen, Kleinkindern und älteren Kindern – und vor allem deren Sexualität – mit Hilfe von Indoktrination, Belohnungen und Strafen einzuschränken. Diese rebellieren, indem sie z.B. in die Hose machen, zu viel oder zu wenig essen, aggressiv oder selbstzerstörerisch sind. Das ständige Eingreifen in die Wachstumsprozesse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist laut Erich Fromm sogar die größte Ursache seelischer Störungen. Der Widerstand von Kindern und anderen Menschen kann auch mit Gewalt gebrochen werden. Die eigene Macht zeigt sich darin, inwieweit man andere Personen beherrschen und ausbeuten kann.

Eine Form des Habens ist aber existenziell und unverzichtbar: Das „funktionale Haben“ sichert das Überleben des Menschen. Es umfasst Nahrung, Kleidung, Wohnung und andere Dinge, die der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse dienen. Die andere Form des Habens, die zuvor diskutiert wurde, bezeichnet Erich Fromm als „charakterbedingt“. In überkompensierter Form tritt sie auch bei Asketen, die sich fortwährend mit dem Verzicht auf Besitz und Konsum beschäftigen, und bei Marxisten auf, die aus Neid eine absolut gleiche Verteilung aller Güter verlangen: Keiner dürfe mehr als der andere haben.

Das Sein, das sich auf Erlebnisse bezieht, ist im Vergleich zum Haben, das konkrete Dinge meint, viel schlechter zu beschreiben. Es geht hier um etwas Lebendiges, etwas Einmaliges, etwas Individuelles, etwas Emotionales, das niemand vollständig in Worte einfangen kann. Erich Fromm schreibt: „Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, des produktiven Gebrauchs der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder – wenn auch in verschiedenem Maß – ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben“ (S. 110). Sein als lebendige Erfahrung ist nur durch gemeinsames Erleben erfassbar.

Sein impliziert die Fähigkeit zu nicht entfremdeter Aktivität, die Manifestation der eigenen Kräfte und Fähigkeiten, das Sich-Erleben als handelndes Subjekt, das produktive Tätigsein. Letzteres meint einen Zustand innerer Aktivität, ist also losgelöst von einem eventuellen Produkt. So ist z.B. ein Künstler produktiv tätig, wenn er einen Baum wirklich erkennt (und nicht einfach abmalt), oder ein Leser, wenn er die in einem Gedicht geschilderten Gefühle nachempfindet. Nicht entfremdete Aktivität meint z.B. Kontemplation in Sinne Aristoteles (die Suche nach Wahrheit), die „vita contemplativa“ in Sinne Thomas von Aquin (Leben der inneren Stille und geistigen Erkenntnis), ein vernunftbestimmtes Handeln im Einklang mit der menschlichen Natur im Sinne von Baruch de Spinoza bzw. die freie, bewusste Selbsttätigkeit im Sinne von Karl Marx.

Zumeist entspricht das Verhalten nicht der inneren Realität, bleibt das Sein hinter einer Maske verborgen. Laut Erich Fromm ist es die bedeutendste Leistung der Freudschen Psychoanalyse, die gewöhnlich nicht bewusste psychische Wirklichkeit mit Hilfe von Methoden wie freie Assoziation, Traumdeutung, Übertragung und Widerstand zu enthüllen. Dabei wird deutlich, dass was rational und realistisch erscheint, nicht wahr ist: „Unsere bewußten Motivationen, Ideen und Überzeugungen sind eine Mischung aus falschen Informationen, Vorurteilen, irrationalen Leidenschaften, Rationalisierungen und Voreingenommenheit, ... Unser Denkprozeß ist bestrebt, diesen ganzen Pfuhl voller Illusionen nach den Gesetzen der Logik und Plausibilität zu organisieren. ... Was verdrängt wird, ist das Wissen von der Wirklichkeit, das Wissen von dem, was wahr ist“ (S. 122).

Das bedeutet natürlich auch: Wenn man durch die Oberfläche dringt und die Wahrheit erkennt, gelangt man zum Sein. Dann wird deutlich, dass im Menschen auch die Existenzweise des Seins angelegt ist: „Wir Menschen haben ein angeborenes, tief verwurzeltes Verlangen zu sein: unseren Fähigkeiten Ausdruck zu geben, tätig zu sein, auf andere bezogen zu sein, dem Kerker der Selbstsucht zu entfliehen“ (S. 125). Menschen können an einer Aktivität innerlich beteiligt sein, solidarisch, selbstlos und opferbereit handeln, liebesfähig und eins mit einer anderen Person oder mehreren Menschen sein. So ist den weitaus meisten Menschen nicht nur die Existenzweise des Habens möglich, sondern auch die des Seins – Erstere wird aber in der Industriegesellschaft durch ihren Fokus auf Eigentum, Profit und Lohn gefördert und Letztere verdrängt.

Hinzu kommt, dass sich Menschen an die Existenzweise des Habens gewöhnt haben. Jeder Schritt in die andere Richtung geht in das Ungewisse, ins Unsichere, und ist damit angsterregend. Und wer einen ganz anderen Weg einschlägt – seien es Abraham, Moses, Jesus, Buddha oder Odysseus – wird als Held verklärt. Aber nur wenige Menschen können Helden sein, und so verbleiben die anderen in den gewohnten Bahnen. Und je mehr sie besitzen (auch im Sinne von Status, Freunden, Gesundheit usw.), umso mehr Angst haben sie davor, etwas zu verlieren. Sie leben in ständiger Sorge, werden egozentrisch, misstrauisch und einsam.

Diese Angst gibt es bei der Existenzweise des Seins nicht: „Wenn ich bin, der ich bin und nicht, was ich habe, kann mich niemand berauben oder meine Sicherheit und mein Identitätsgefühl bedrohen. Mein Zentrum ist in mir selbst...“ (S. 136). Zudem nimmt das Sein durch die Praxis zu: „Die Kräfte der Vernunft, der Liebe, des künstlerischen und intellektuellen Schaffens – alle wesenseigenen Kräfte wachsen, indem man sie ausübt“ (S. 137). Man kann sich an etwas erfreuen oder jemanden lieben, ohne es bzw. ihn besitzen zu wollen. Somit gibt es weder Neid noch Eifersucht, weder Habgier noch Konkurrenz, weder Klassenkampf noch Krieg. Die Menschen erfreuen sich an den gleichen Dingen, ohne sie besitzen zu wollen, teilen somit ihre Freude mit anderen. Das gilt z.B. auch für die Sexualität: „Sexuelle Freude fühlt man nur, wenn physische Intimität gleichzeitig die Intimität des Liebens ist“ (S. 145) – es also nicht nur um das Vergnügen (um lieblosen Sex) geht. Judentum, Christentum, Buddhismus und viele Philosophien versprechen Freude, wenn man glaubt, entsagt, liebt, nach Selbstverwirklichung strebt.

Um ihre eigene Macht und Hierarchie zu schützen, haben die christlichen Kirchen aber aus der „Frohen Botschaft“ ein System von Gesetzen gemacht (ähnlich im Judentum). Verstößt man gegen sie, begeht man eine Sünde und hat dann Angst vor Strafe bzw. entwickelt Schuldgefühle. Dabei arbeiten die Kirchen mit dem Staat zusammen, der zudem Gesetzesverstöße direkt ahnden kann: „Der Staat brauchte die Religion, um eine Ideologie zu haben, die Ungehorsam zur Sünde erklärte, – die Kirche brauchte Gläubige, die der Staat in der Tugend des Gehorsams geschult hatte. Beide bedienten sich der Institution der Familie, die die Funktion hatte, das Kind ... zum Gehorsam zu erziehen“ (S. 149). Die „Frohe Botschaft“ meint aber Nächstenliebe, Gleichheit, Harmonie und Einigkeit. Für sie ist Sünde Entfremdung vom Mitmenschen, die es durch Vernunft und Liebe zu überwinden gilt. Die erste Position entspricht der Existenzweise des Habens, die zweite der des Seins.

Für denjenigen, der nach Besitz strebt, ist auch das Leben Teil seines Eigentums. Somit hat er Angst vor dem Tode, weil er dieses dann verliert. Bei der Existenzweise des Seins ist das anders: „Je mehr man sich des Verlangens nach Besitz in allen seinen Formen und besonders seiner Ichgebundenheit entledigt, um so geringer ist die Angst vor dem Sterben, da man nichts zu verlieren hat“ (S. 157).

Zum Schluss dieses Buchteils macht Erich Fromm noch folgende Unterscheidung: „Die Existenzweise des Seins gibt es nur im hic et nunc, dem ‚Hier und Jetzt‘, die Existenzweise des Habens gibt es hingegen nur innerhalb der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft“ (S. 157). Hier geht es darum, was man früher an Besitz angehäuft hat, über was man derzeit verfügt und was man in Zukunft haben möchte. Zugleich ist das Leben dem Diktat der Zeit unterworfen, insbesondere am Arbeitsplatz (z.B. am Fließband). Zeit ist Geld. Die Existenzweise des Seins ist hingegen zeitlos: Im Hier und Jetzt werden Liebe, Freude, ein schöpferischer Akt, eine neuer Gedanke, ein früheres Erlebnis, ein künftiger Zustand erlebt.

Der neue Mensch und die neue Gesellschaft

Erich Fromm ist der Meinung, „daß die Charakterstruktur des durchschnittlichen Individuums und die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft, der dieses angehört, miteinander in Wechselbeziehung stehen. Das Ergebnis der Interaktion ... bezeichne ich als Gesellschafts-Charakter. Die sozio-ökonomische Struktur einer Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, daß sie tun wollen, was sie tun sollen. Gleichzeitig beeinflußt der Gesellschafts-Charakter die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft. In der Regel wirkt er als Zement, der der Gesellschaftsordnung zusätzliche Stabilität verleiht; ...“ (S. 163 f.). Jedoch verändern sich beide Elemente fortwährend – und jede Veränderung des einen Elements führt auch zu einer Veränderung des anderen. Allerdings gilt dies nicht für tiefgreifende, radikale Wandlungsprozesse. So brachten z.B. weder die Französische noch die Russische Revolution „einen neuen Menschen“ hervor – genauso wenig, wie aktuelle Bewegungen, die den Charakter, das Bewusstsein und die Werte der Menschen verändern wollen, dies nur innerhalb kleinen Gemeinschaften erreichen, nicht aber die Gesellschaft verändern.

Dann erörtert Erich Fromm, wie der Gesellschafts-Charakter auch die religiösen Bedürfnisse der Menschen erfüllt. Dabei versteht er „Religion“ in einem erweiterten Sinne als ein „System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet“ (S. 165). Sie ersetzt die beim Menschen fehlenden Instinkte und ist sowohl in der Charakterstruktur des Individuums als auch im Gesellschafts-Charakter verwurzelt. Kein Mensch kommt ohne eine Weltanschauung und einen Lebenssinn aus.

Im Verlauf der Zeit werden aber viele Religionen pervertiert, was Erich Fromm am Beispiel des Christentums aufzeigt. So plädierten wohl Jesus und die ersten Christen als auch spätere Reformbewegungen (die dann oft als „ketzerisch“ verteufelt wurden) für die Existenzweise des Seins und verurteilten das (zu große) Privateigentum, ja opferten sogar ihr Leben als Märtyrer für Gott oder die Mitmenschen, jedoch blieb der mehr oder minder große Teil der Gesellschaft heidnisch: Die Menschen streb(t)en weiterhin nach Besitz, Macht, Ruhm und Herrschaft über andere. Dementsprechend ist die Geschichte „christlicher“ Länder „eine Geschichte der Eroberung, Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung“ (S. 174), der Kriege und sogar des Völkermords.

Die Reformation bereitete dann den Weg für die „Religion des Industriezeitalters“, als Martin Luther das mütterliche Element aus der Kirche entfernte (die bedingungslose Liebe, repräsentiert durch die Jungfrau Maria und die Katholische Kirche „als alles liebende Mutter“). Es blieb das väterliche Element, also „die Unterwerfung unter die patriarchalische Autorität, wobei Arbeit der einzige Weg ist, um Liebe und Anerkennung zu erlangen“ (S. 179). So entstand der „Marketing-Charakter“: In der Industriegesellschaft preist sich nun der einzelne Mensch als „Ware“ an und erwartet als Gegenleistung einen „Tauschwert“. „Der Erfolg hängt weitgehend davon ab, wie gut sich ein Mensch auf dem Markt verkauft, ob er ‚gewinnt‘ (im Wettbewerb ...), wie anziehend seine ‚Verpackung‘ ist, ob er ‚heiter‘, ‚solide‘, ‚aggressiv‘, ‚zuverlässig‘ und ‚ehrgeizig‘ ist, aus welchem Milieu er stammt, welchem Klub er angehört und ob er die ‚richtigen‘ Leute kennt“ (S. 180). Eignung und Fähigkeit reichen nicht aus, sondern die Menschen müssen in einer ständigen Konkurrenzsituation ihre Persönlichkeit zum eigenen Vorteil ausspielen – sich selbst verkaufen. Sie haben kein Ich, kein Selbst und keine Identität mehr, denn sie versuchen immer, so zu sein, wie andere sie haben möchten.

Der Marketing-Charakter verdrängt Gefühle und handelt zumeist auf einer rein verstandesmäßigen Ebene. Er will möglichst gut innerhalb der jeweiligen Hierarchie funktionieren, damit er in ihr aufsteigen kann. Ihm geht nichts wirklich nahe, da er kaum emotionale Bindungen hat. So ist ihm alles gleichgültig – auch ob sein Handeln zu eventuellen nuklearen bzw. ökologischen Katastrophen beiträgt oder wie es einmal seinen Kindern und Enkeln ergehen wird. Aufgrund seiner Bindungsunfähigkeit sind für ihn auch Besitztümer, Freunde und Partner austauschbar. So ist heute bei vielen Menschen „die Trennung des Verstandes vom Herzen“ fast vollständig, sind sie „ihrer Arbeit, sich selbst, ihren Mitmenschen und der Natur entfremdet“ (S. 184).

Der Marketing-Charakter befolgt eine zutiefst heidnische, „kybernetische Religion“: „Am auffallendsten ist auf den ersten Blick, daß sich der Mensch selbst zum Gott gemacht hat, da er inzwischen die technischen Fähigkeiten zu einer ‚zweiten Erschaffung‘ der Welt besitzt, die an die Stelle der ersten Schöpfung des Gottes der traditionellen Religion getreten ist. Man kann es auch so formulieren: Wir haben die Maschine zur Gottheit erhoben und werden selbst Gott gleich, indem wir sie bedienen. ... Je mehr wir in unserer Isolierung gefangen sind, je unfähiger wir werden, emotional auf die Welt zu reagieren, und je unvermeidlicher uns gleichzeitig ein katastrophales Ende erscheint, desto bösartiger wird die neue Religion. Wir sind nicht länger Herren der Technik, sondern werden zu ihren Sklaven – und die Technik, einst ein wichtiges schöpferisches Element, zeigt uns ihr anderes Gesicht als Göttin der Zerstörung (wie die indische Göttin Kali), der Männer und Frauen sich selbst und ihre Kinder zu opfern bereit sind“ (S. 186 f.).

Dann befasst sich Erich Fromm mit dem „humanistischen Protest“ gegen den Gesellschafts-Charakter und die kybernetische Religion. Unter diesem Begriff fasst er höchst unterschiedliche Bewegungen zusammen: katholische Denker wie Franz von Baader, konservative Politiker wie Benjamin Disraeli, Kommunisten wie Karl Marx und radikale Humanisten wie Albert Schweitzer, Ernst Friedrich Schumacher sowie Paul und Anne Ehrlich. Dementsprechend waren auch die Gegenmodelle zum industriellen Zeitalter unterschiedlich: Sie reichten von der Rückkehr zu früheren Formen der gesellschaftlichen Ordnung bis hin zu einer radikalen Umgestaltung derselben, verbunden mit einer Befreiung des Menschen von Entfremdung, Besitzstreben und Neid. So wollte z.B. Karl Marx die Menschen laut Fromm letztendlich zur Existenzweise des Seins führen, zur Freisetzung ihres inneren Reichtums. Jedoch wurde seine Lehre bald von den westlichen Sozialdemokraten und den Kommunisten innerhalb und außerhalb der Sowjetunion „pervertiert“ und zu einem rein ökonomischen Konzept umgeformt, „dessen Ziel der maximale Konsum und der maximale Einsatz von Maschinen war“ (S. 193).

Anschließend geht Erich Fromm der Frage nach, ob und wie der menschliche Charakter so geändert werden kann, dass er offen für die Existenzweise des Seins ist. So müssen die Menschen zunächst Folgendes erkennen:

Diese vier Voraussetzungen entsprechen nicht nur den „Vier Edlen Weisheiten“ Buddhas, sondern sind auch bei Karl Marx und Sigmund Freud zu finden.

Laut Erich Fromm bedarf es aber einer „neuen Gesellschaft“, um den „neuen Menschen“ hervorzubringen. Über zwei Seiten hinweg werden dann Charakterzüge desselben aufgelistet. So ist er beispielsweise in der Lage,

Da nur wenige Menschen Vollkommenheit erreichen können, soll der Mensch nicht den Ehrgeiz haben, dieses Ziel zu erreichen, sondern glücklich sein „in diesem Prozeß stetig wachsender Lebendigkeit, denn so bewußt und intensiv zu leben, wie man kann, ist so befriedigend, daß die Sorge darüber, was man erreichen oder nicht erreichen könnte, gar nicht erst aufkommt“ (S. 209).

Anschließend setzt sich Erich Fromm mit der Frage auseinander, wie die „neue Gesellschaft“ mit Hilfe einer „neuen Sozialwissenschaft“ aufgebaut werden könnte. Er fordert z.B. ein solidarisches Zusammenleben der Menschheit ohne Klassenkampf und Krieg, die atomare Abrüstung, eine gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung mit einem hohen Maß an Dezentralisierung, ein selektives wirtschaftliches Wachstum ohne das Risiko von Katastrophen, einen wissenschaftlichen Fortschritt ohne Gefahr für die Menschheit, die Sicherung der Existenzgrundlage des Einzelnen und eine neue Einstellung zur Arbeit mit psychischen Befriedigungen als Motivation.

Ferner müsste die Produktion auf einen „gesunden und vernünftigen Konsum“ hin umorientiert werden: Zunächst sollte ein „humanistisches Expertengremium“ positive menschliche Bedürfnisse und lebensfördernde Waren und Dienstleistungen ermitteln. Durch Aufklärung, Einsicht und Erziehung würden dann die Menschen ihr Konsumverhalten ändern. Gleichzeitig sollte „das Recht der Aktionäre und Konzernleitungen, über ihre Produktion ausschließlich vom Standpunkt des Profits und Wachstums zu entscheiden, drastisch“ eingeschränkt werden (S. 218, ohne Hervorhebungen). Das könnte durch Gesetze geschehen, aber auch durch Verbraucherstreiks.

Vor allem wäre aber eine „industrielle und politische Mitbestimmungsdemokratie“ aufzubauen: Jeder Arbeiter und jeder Angestellte soll an Entscheidungsprozessen in Unternehmen und Organisationen aktiv beteiligt werden (also nicht vertretungshalber durch Gewerkschaften) – und jeder Bürger an den Angelegenheiten der Gemeinschaft (indem z.B. Nachbarschaftsgruppen mit rund 500 Mitgliedern als „permanente Beratungs- und Entscheidungsgremien“ gegründet werden, die in ihrer Gesamtheit als „Unterhaus“ einen entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben). Voraussetzungen hierfür wären eine „maximale Dezentralisierung von Wirtschaft und Politik“, die Bereitstellung adäquater Informationen für Beschäftigte und Bürger/innen sowie die Erfahrung, dass deren Entscheidungen „wirkmächtig“ sind. Zudem müsse in Behörden das bürokratische durch ein „humanistisches Management“ ersetzt werden, bei dem Menschen nicht mehr „wie Dinge“ anhand starrer Vorschriften verwaltet werden, sondern spontan auf sie eingegangen wird.

Weiterhin fordert Erich Fromm, dass „alle Methoden der Gehirnwäsche“ (z.B. hypnoseähnliche Formen oder Massensuggestion) in der kommerziellen und politischen Werbung verboten werden sollen, dass die Frauen von der „patriarchalischen Herrschaft“ zu befreien sind und dass die Kluft zwischen armen und reichen Nationen zu schließen ist. Zum letztgenannten Punkt schreibt er: „Was wird geschehen, wenn wir nichts unternehmen, um die Kluft zu beseitigen? Entweder werden Epidemien auf die Festung der Weißen übergreifen, oder die armen Nationen werden durch Hungersnöte zu solcher Verzweiflung getrieben, daß sie, vielleicht unterstützt von Sympathisanten in den Industriestaaten, Terrorakte verüben werden, möglicherweise unter Verwendung nuklearer oder biologischer Waffen, die in der weißen Festung Chaos auslösen werden“ (S. 230). Aus einem Gefühl der Solidarität und Verantwortung heraus sollten deshalb die Industrienationen Hunger und Krankheit in den armen Ländern unter Kontrolle bringen.

Jedem Menschen solle laut Erich Fromm ein jährliches Mindesteinkommen garantiert werden – entsprechend der „sehr alten Norm“, „daß der Mensch das uneingeschränkte Recht zu leben hat, ob er seine ‚Pflicht gegenüber der Gesellschaft‘ erfüllt oder nicht“ (S. 232). Erst dann wäre er wirklich frei und unabhängig. Erich Fromm geht hier wohl nur von kleinen Geldbeträgen aus, die leicht durch die Auflösung der kostenträchtigen Sozialhilfebürokratie aufgebracht werden könnten, denn er schreibt: „Begabte Menschen, die sich auf einen neuen Lebensstil vorbereiten wollen, hätten dazu Gelegenheit, wenn sie bereit sind, eine Zeitlang ein Leben in Armut auf sich zu nehmen“ (S. 232, Hervorhebung durch M.T.).

Ferner fordert Erich Fromm, dass ein „Oberster Kulturrat“ aus Vertreter/innen der geistigen und künstlerischen Elite „die Regierung, die Politiker und die Bürger in allen Angelegenheiten, die Wissen und Kenntnis erfordern“, beraten solle (S. 236, ohne Hervorhebungen). Da die meisten Informationen manipuliert, falsch und unwahr seien, wäre eine der wichtigsten Aufgaben des Kulturrats, „Informationen zu sammeln und zu verbreiten, die den Bedürfnissen der ganzen Bevölkerung dienen und eine geeignete Diskussionsgrundlage für die erwähnten Nachbarschaftsgruppen in einer Mitbestimmungsdemokratie abgeben. Diese Informationen müßten sowohl die wichtigsten Fakten als auch die wichtigsten Alternativen auf allen Gebieten umfassen, wo es politische Entscheidungen zu treffen gilt“ (S. 238). Ferner soll der Oberste Kulturrat eine Kommission einsetzen, die die Ergebnisse der wissenschaftlichen Grundlagenforschung prüft und ihre praktische Anwendung genehmigt bzw. versagt. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass sie von der Industrie oder vom Militär zum Schaden der Menschheit missbraucht werden.

Zum Schluss stellt Erich Fromm folgende Frage: „Hält man sich die Macht der Konzerne vor Augen, die Apathie und Ohnmacht des größten Teiles der Bevölkerung, die Unzulänglichkeit der führenden Politiker fast aller Länder, die Gefahr eines Atomkrieges, die ökologischen Belastungen, ganz zu schweigen von Phänomenen wie klimatischen Veränderungen, die allein schon ausreichen würden, in großen Teilen der Welt Hungersnöte hervorzurufen – haben wir dann überhaupt eine berechtigte Chance der Rettung?“ (S. 240). Fromm bejaht diese Frage, denn es würden immer mehr Menschen die Notwendigkeit einer neuen Ethik, einer anderen Einstellung zur Natur und von mehr Solidarität einsehen. Ferner wachse die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, der eigenen Ohnmacht und der Sinnlosigkeit des Lebens, würden immer mehr entfremdete Mittelschichtsangehörige feststellen, dass (mehr) Konsum nicht glücklich mache. Einige Menschen lebten bereits die Existenzweise des Seins, und jedem Schritt in diese Richtung könnten weitere folgen, insbesondere wenn es gleichzeitig zu den vorgenannten gesellschaftlichen Veränderungen käme. Das aber setze voraus, dass die Vision von einem „neuen Menschen“ und einer „neuen Gesellschaft“, also die „humanistische Religiosität“, immer mehr Anhänger findet...

Kommentar

Das Buch „Haben oder Sein“ wurde schon kurz nach seinem Erscheinen zu einem Bestseller. Im Nachgang zur Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, zu den Protesten gegen den Vietnamkrieg, zur Studentenrevolte und zu der Veröffentlichung des Buches „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (Meadows et al. 1972) wurden die Kapitalismuskritik Erich Fromms und seine Forderungen nach atomarer Abrüstung, Umweltschutz und Beendigung einer nicht nachhaltigen Ausbeutung natürlicher Ressourcen begierig aufgegriffen. Zudem eröffnete das Buch mit der „Existenzweise des Seins“ den Weg in eine menschenwürdige Zukunft.

Wie schon im ersten Absatz dieses Artikels erwähnt, ist das Buch von Erich Fromm auch heute von großer Bedeutung. So gibt es immer noch viele Menschen, die an die „große Verheißung unbegrenzten Fortschritts“ glauben – an eine Welt, in der z.B. selbst fahrende bzw. fliegende Autos Personen direkt zu ihrem Ziel befördern, Weltraumreisen möglich sind, Roboter, Androiden und „denkende“ Computer („Singularitäten“) den Menschen dienen, die Erwerbstätigkeit auf wenige Stunden pro Tag begrenzt ist, es viele neue Wege zur Freizeitgestaltung gibt, die meisten Krankheiten besiegt sind und Menschen in Entwicklungsländern ausreichend mit Lebensmitteln versorgt werden. Sie folgen weiterhin der „kybernetischen Religion“, nach der der Mensch immer mächtiger und gottähnlicher wird: So könnten in absehbarer Zeit „perfekte“ Babys dank Gentechnik und künstlicher Uteri geschaffen werden, Gehirne technologisch aufgewertet werden (z.B. durch Bio-Chips oder durch Schnittstellen, über die sie mit Computern bzw. dem Internet verbunden werden können und über die dann ein „Download“ von Informationen möglich wäre), Menschen sich zu „Cyborgs“ weiterentwickeln und eventuell sogar die Unsterblichkeit erlangen (vgl. Textor 2021).

Andere Menschen sehen hingegen viele Risiken in den neuen technischen, demographischen und ökologischen Entwicklungen. Wohl dürfte die Gefahr eines Atomkriegs geringer sein als zu Zeiten Erich Fromms, aber die machtpolitische Konkurrenz zwischen den USA und China (bzw. Russland) könnte durchaus zu (Stellvertreter-) Kriegen führen – und im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und Südasien gibt es weitere Konfliktherde. Die Bevölkerung in Entwicklungs- und den meisten Schwellenländern wächst weiterhin nahezu ungebremst, und schon jetzt kann mit den Ressourcen der Erde nicht mehr der Bedarf nachhaltig abdeckt werden. Zu der von Erich Fromm angesprochenen Umweltverschmutzung und -zerstörung ist der Klimawandel hinzugekommen, der bis zum Ende dieses Jahrhunderts große Flächen der Erde unbewohnbar bzw. von der Landwirtschaft nicht mehr nutzbar machen könnte. Selbst in Demokratien werden Freiheit, Wettbewerb, Kreativität und Selbstentfaltung immer stärker durch Gesetze und bürokratische Vorgaben eingeschränkt, können sogar Grundrechte ohne nennenswerten Widerstand der Parlamente und der Bevölkerung aufgehoben werden, wie die derzeitige Corona-Krise zeigt. Und mit den sozialen Medien sind neue Wege entstanden, Menschen zu manipulieren (z.B. durch auf das Individuum zugeschnittene Werbung oder durch „Fake News“).

Während zu Fromms Zeiten Maschinen die Industriegesellschaft prägten, sind es heute Computer, und bald wird es die Künstliche Intelligenz sein. Zugleich ist neben das Eigentum an Produktionsmitteln der Besitz an Daten getreten („Big Data“), der den rasanten Aufstieg von Unternehmen wie z.B. Alphabet, Apple oder Amazon ermöglichte. Je besser Bewegungsprofile durch genaue Lokalisierung des Smartphones der jeweiligen Person erstellt werden können und je häufiger die Aufnahmen von Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware ausgewertet werden, umso besser können Menschen überwacht und manipuliert werden. Dank Internet können Menschen ihren Management-Charakter nun auch in ihrer Freizeit ausleben, indem sie sich in den sozialen Medien (bei Facebook, YouTube, Instagram, Xing usw.) so positiv wie möglich darstellen und versuchen, möglichst viele Likes, Kommentare, Verlinkungen usw. zu erreichen. Immer mehr Menschen preisen ihre Fotos, Erlebnisse, Meinungen und „Wahrheiten“ wie Besitztümer an.

Es ist offensichtlich, dass die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen heute genauso wenig wie vor 45 Jahren zu mehr Zufriedenheit, Glück, Harmonie und Frieden führen. Die „Existenzweise des Habens“ herrscht weiterhin vor: Die meisten Menschen sind konsumfixiert, narzisstisch, egoistisch, lustbetont, selbstsüchtig und neidisch. Und wie zu Fromms Zeiten sind sie nicht bereit, größere Opfer zu erbringen, um z.B. ihren „ökologischen Fußabdruck“ (Mathis Wackernagel/ William Rees) zu reduzieren oder den Reichtum der „Ersten Welt“ mit der „Dritten Welt“ zu teilen. Wie damals versagt auch heute die Politik, wenn es z.B. um das Aufhalten des Klimawandels, die Bekämpfung von Hunger, Armut und Krankheit in Entwicklungsländern sowie um ein friedliches Zusammenleben von Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes bzw. um eine friedliche Koexistenz von Staaten geht.

Schulen und Universitäten sind wie zu Zeiten Erich Fromms in erster Linie „Paukanstalten“; die Bereitschaft, seine eigene Meinung zu ändern – und gewaltfrei zu kommunizieren –, nimmt eher weiter ab (siehe z.B. die Querdenkerbewegung, QAnon oder die Trumpisten); Autorität beruht immer noch auf der Position innerhalb einer Hierarchie; eine Karriere wird auch heute durch die Ausbildung des „Marketing-Charakters“ befördert; und Liebe ist in einer Welt der Dating-Apps, pornographischer Websites und wechselnder Sexualpartner weiterhin eher selten zu finden.

Es gab in den letzten 45 Jahren aber auch positive Veränderungen: Zumindest in einigen Ländern wurden patriarchalische Strukturen weiter abgebaut, gibt es mehr Gleichberechtigung. Auch ist ein autoritärer Erziehungsstil nur noch in wenigen Familien anzutreffen, wird die Sexualität bei Kindern und Jugendlichen weniger eingeschränkt als früher, ist familiäre Gewalt nun strafbar. Ferner hat zumindest in Westeuropa der Einfluss der Kirchen so stark abgenommen, dass für die meisten Personen Begriffe wie „Sünde“ oder „Gehorsam“ gegenüber Geboten bedeutungslos geworden sind. Den meisten Menschen ist bewusst, dass die christliche Religion pervertiert wurde und viele Untaten in ihrem Namen ausgeübt wurden; so bietet sie nur noch wenigen Christen einen Lebenssinn und Orientierungsrahmen.

Wie zu Zeiten Erich Fromms gibt es auch heute Menschen, die nach einer „Existenzweise des Seins“ trachten. Sie sind beispielsweise bereit, sich ressourcenschonend zu ernähren (z.B. vegetarisch oder vegan), Kleidungsstücke aufzutragen (bevor neue gekauft werden), auf Besitztümer zu verzichten (z.B. Car-Sharing statt Autokauf) und weitestgehend recycelbare Waren zu kaufen. Wie damals sind es eher junge Menschen, die sich in Bewegungen wie „Fridays for Future“, in Umweltschutzverbänden und karitativen Organisationen engagieren oder die nach dem Schulabschluss ein Jahr lang kostenlos in einem Entwicklungshilfeprojekt arbeiten. Viele junge Menschen wollen einen sinnvollen und nützlichen Beruf ausüben (z.B. im Sozialbereich, im Klimaschutz oder in der „Sharing Economy“). Und sie wollen nicht mehr mit allen Mitteln Karriere machen, also einen „Marketing-Charakter“ ausbilden – die Freizeit bzw. die Zeit mit anderen ist ihnen genauso wichtig oder sogar noch wichtiger.

Aber die meisten Menschen hängen weiterhin der „Existenzweise des Habens“ an. Noch scheinen sie zu wenig zu leiden, um offen für das Sein zu werden – zumal es heute auch mehr Möglichkeiten als vor 45 Jahren gibt, das Leiden zu verdrängen (z.B. mit Suchtmitteln und Medikamenten, durch die Beschäftigung mit Videospielen und sozialen Medien, dank der Ablenkung durch spannende Filme von Streaming-Diensten und Mediatheken). Die Vorschläge, die Erich Fromm machte, wie die „neue Gesellschaft“ und der „neue Mensch“ hervorgebracht werden könnten, sind teilweise noch aktuell (z.B. „jährliches Mindesteinkommen“ = bedingungsloses Grundeinkommen), wirken aber zumeist realitätsfern und nicht umsetzbar (z.B. die Form der Gründung und die Macht des „humanistischen Expertengremiums“ und des „Obersten Kulturrats“, die totale Umgestaltung der Wirtschaft, die „Mitbestimmungsdemokratie“ ausgehend von kleinen Nachbarschaftsgruppen, die „humanistisch“ und spontan reagierende Bürokratie sowie die umfassende Kontrolle von Informationen und den Ergebnissen der wissenschaftlichen Grundlagenforschung).

Die von Erich Fromm am Ende seines Buches ausgedrückte Hoffnung, dass immer mehr Menschen die Notwendigkeit radikaler Veränderungen in Richtung der „Existenzweise des Seins“, einer neuen Gesellschaftsordnung und einer anderen Einstellung zur Natur erkennen würden, hat sich in den seither vergangenen Jahren nicht bewahrheitet. Es handelt sich weiterhin um eine kleine Minderheit – und nur wenige von ihnen sind wirklich „neue Menschen“.

Implikationen für die Pädagogik

Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass in den kommenden Jahren die „neue Gesellschaft“ im Sinne Erich Fromms geschaffen wird, muss sich jeder Erwachsene, der die „Existenzweise des Seins“ verwirklichen möchte, selbst auf den Weg machen. Mit etwas Glück findet er Mitmenschen, die schon etwas weiter in dieser Entwicklung sind und die ihn anleiten und unterstützen.

Kinder können jedoch in Familie, Kindertageseinrichtung und Schule am Sein orientiert erzogen und gebildet werden. Wohl macht Erich Fromm hierzu kaum Aussagen, aber die Psychoanalytische Pädagogik hat sich schon früh dieser Thematik gewidmet: Zunächst lässt sich eine „Pädagogik des Habens“, die auf Instruktion, Lernen und Abfragen des Gelernten hin ausgerichtet ist und eine Entfremdung des Kindes von sich selbst und seinen Mitmenschen bewirkt, von einer „Pädagogik des Seins“ unterscheiden, bei dem das Herausentwickeln der Eigenkräfte des Kindes im Vordergrund steht und die zu innerem Wachstum, einer authentischen Persönlichkeit und einer ausgeprägten Beziehungsfähigkeit führt. Das Erziehungsziel ist hier der „neue Mensch“, der sich nicht manipulieren und einschüchtern lässt, durch Introspektion zur Selbsterkenntnis gelangt, kritisch denken kann, liebesfähig und solidarisch ist, Freude am Geben und Teilen hat sowie Liebe zur Natur empfindet.

Wie die „Pädagogik des Seins“ Lesen, Lernen, Kontemplation, Wissen und Erinnern versteht, lässt sich aus den entsprechenden Aussagen Erichs Fromm schließen, die vor allem am Anfang dieses Artikels zusammengefasst wurden. Ferner kann man aus seinen Texten folgern, dass auch der Erhalt der psychischen Gesundheit des Kindes zu den Erziehungsaufgaben gehört: So soll Verdrängung, Entfremdung, Egoismus, Selbstsucht, Habgier, Neid und Konkurrenzdenken entgegengewirkt werden. Zudem dürfen die Erziehenden den Gehorsam des Kindes nicht erzwingen und seine Sexualität nicht unterdrücken.

Rainer Funk, der viele Jahre als Assistent von Erich Fromm wirkte und seinen Nachlass verwaltet, schrieb: „Erziehung zur Orientierung am Sein heißt immer ... Anleitung, Einübung und Praxis der körperlichen, psychischen und geistigen Eigenkräfte des Menschen“ (2002, S. 11). So müssen zunächst diese Begabungen und Eigenschaften entdeckt und dann zum Wachsen gebracht werden, indem das Kind sie übt und praktiziert. Rainer Funk unterscheidet sieben Wirkungen einer am Sein orientierten Erziehung und Bildung:

  1. aktivierende Wirkung: Das Kind ist interessiert, aufmerksam, engagiert und von innen heraus aktiv. Die (Lern-) Zeit vergeht wie im Fluge.
  2. energetisierende Wirkung: Das Kind ist voller Energie und Kraft, „die zu einem Erleben der Fülle des Lebens führt, die einen ‚überfließen‘ lässt und das Bedürfnis erzeugt zu geben, zu teilen und sich mitzuteilen“ (a.a.O., S. 4).
  3. sozialisierende Wirkung: Das Kind kann sich emotional binden, zeigt eine hohe soziale Kompetenz, ist empathisch und mitfühlend.
  4. individualisierende Wirkung: Das Kind fühlt sich von den Erziehenden geachtet und respektiert. Es erfährt sich als autonom, selbständig und unabhängig.
  5. integrierende Wirkung: Das Kind „erlebt sich ‚stimmiger‘, harmonischer, ausgeglichener, ‚identischer‘, gefestigter, ganzheitlicher. Die integrierende Wirkung zeigt sich geistig in der Befähigung zu einem sinnerfüllten Leben, psychisch in der Befähigung zu einem gefühlshaften Leben und körperlich in einem bewegungsaktiven und zugleich entspannten Leben sowie in einer stärkeren Integration dieser drei Dimensionen des Menschsein“ (a.a.O., S. 5).
  6. schöpferische Wirkung: Das Kind ist einfallsreich, spontan, intuitiv und kreativ.
  7. Ich-stärkende Wirkung: Das Kind ist realistisch, besitzt Frustrationstoleranz, erträgt Ambivalenz, kann „emotional auf die Wirklichkeit in sich und um sich herum bezogen sein“ (a.a.O., S. 5).

Nur von ihren Wirkungen her lässt sich laut Rainer Funk beurteilen, ob das konkrete pädagogische Tun wirklich am Sein orientiert war bzw. ist. Sie seien zugleich „Leitwerte psychisch gelingenden Lebens und Zusammenlebens“ (a.a.O., S. 5).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die „Erziehung zur Orientierung am Sein“ eine Art „Wachstumspädagogik“ ist, die die im Kind angelegten Fähigkeiten und Begabungen erfasst, es bei der Herausbildung dieser Anlagen unterstützt und negative Einflüsse abwehrt, die aus der in unserer Gesellschaft vorherrschenden „Existenzweise des Habens“ resultieren. Im Vergleich mit der materialen steht die formale Bildung im Vordergrund – also nicht der Wissenserwerb, sondern die Entwicklung kritischer Vernunft bzw. das weitgehend selbsttätige Herausbilden der körperlichen, psychischen und geistigen Eigenkräfte seitens des Kindes. Ferner spielen soziale Kompetenzen und ein positives Zusammenleben mit anderen Kindern und Erwachsenen eine große Rolle.

Literatur

Fromm, E.: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv, 45. Aufl. 2018

Funk, R.: Erziehung zwischen Haben und Sein. Nachhaltige Erkenntnisse Erich Fromms (2002). https://www.fromm-gesellschaft.eu/images/pdf-Dateien/Funk_R_2002.pdf (abgerufen am 16.02.2021)

Meadows, D.L./ Meadows, D.H./ Zahn, E./ Milling, P.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1972

Textor, M.R.: Technik. http://www.zukunftsentwicklungen.de/technik.html (abgerufen am 15.02.2021)

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogik/haben-oder-sein/