Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht
Einleitung: Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule
Deutschland hat mit Blick auf sein öffentliches Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot einen unübersehbaren Nachholbedarf. Zu lange und zu einseitig hat die ehemalige Bundesrepublik nahezu ausschließlich auf Familie und Schule als den fraglos gegebenen Stützpfeilern von Kindheit und Jugend gesetzt. Dabei war die Familie vor allem für die Betreuung und Erziehung der Kinder, die Schule für die Bildung verantwortlich. Gemeinsam bildeten sie das Koordinatensystem für das mehr oder minder reibungslose Aufwachsen von Kindern in einer sich rasch wandelnden Welt.
Dabei hat sich der Westen Deutschlands in seinem Denken und Handeln auf eine spezifische und lange Zeit auch wirksame Variante verlassen: auf das selbstverständliche Zusammenspiel einer geschlechtsspezifisch organisierten Familie einerseits und einer auf diesem Familienmodell aufruhenden Halbtagsschule andererseits. Vor allem durch die familieninterne Rollenaufteilung mit einem berufstätigen Vater als dem Alleinernährer und einer im Haushalt sorgenden Mutter, dem "männlichen Ernährermodell", ließ sich die Halbtagsschule als Regelschule einigermaßen problemlos realisieren. Nur so war die für die Kinder notwendige Verlässlichkeit gewährleistet, nur so konnte auch die frühkindliche Betreuung und Versorgung der Kinder in den eigenen vier Wänden ermöglicht werden.
Diese bundesrepublikanische Nachkriegskonstellation ist im Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden. Eine wachsende Zahl junger Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen, steigende Anteile erwerbstätiger Frauen und Mütter sowie zunehmende Scheidungszahlen haben nach und nach dazu beigetragen, dass das bundesdeutsche Familienmodell der "Hausfrauenehe" seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat und nicht mehr der entscheidende Maßstab für die Organisation des Aufwachsens von Kindern bleiben kann.
Ergebnis dieser veränderten Konstellation sind die in den letzten Jahren breit geführten öffentlichen Debatten um Betreuung und Bildung. Beide haben ihren Kern in den damit zusammenhängenden, unzureichend geklärten Fragen, wer in welcher Form und in welchem Umfang für die Bildung, Betreuung und Erziehung der nachwachsenden Generation zuständig ist. Auch wenn die Bildungs- und die Betreuungsfrage häufig getrennt diskutiert werden, haben sie dennoch in den genannten Unzulänglichkeiten ihren gemeinsamen Ursprung. Insoweit, dies ist leitend für diesen Bericht, sind sie Ausdruck eines gemeinsamen Problemzusammenhangs.
Die zu konstatierenden Veränderungen machen deutlich, dass sich die Lage der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien in zweifacher Hinsicht verändert hat: Auf der einen Seite droht die "Lebensform Familie" in einer alternden Gesellschaft erheblich an Bedeutung zu verlieren. Von der einstmaligen Gewissheit, dass sich junge Erwachsene in aller Regel nicht nur auf eine Partnerschaft einlassen, sondern auch eine Familie, einen eigenen Zwei-Generationen-Haushalt mit Kindern gründen, ist gegenwärtig nicht mehr allzu viel zu spüren. Dass "Familie" von jungen Menschen nicht mehr ohne weiteres als lebbar, nicht mehr als eine ebenso selbstverständliche wie attraktive Lebensform angesehen wird, weist in diese Richtung.
Auf der anderen Seite deuten diese Befunde an, dass das Zusammenspiel von Beruf und Familie, von individuell bevorzugten und gesellschaftlich möglichen Mustern der Lebensführung nicht für uneingeschränkt machbar gehalten wird, dass die Lebensentwürfe von Frauen und Männern und die Bedarfe bzw. Bedürfnisse von Kindern zumindest nicht bruchlos kompatibel sind. In diesem Sinne geht es um die Gelingensbedingungen realisierter Elternschaft, also um die Bedingungen der Lebensform Familie und dem Aufwachsen von Kindern. Neben dem demografischen Problem zurückgehender Geburtenzahlen finden sich Eltern mithin vielfach zwischen fehlenden Betreuungsmöglichkeiten und einer diffusen Verunsicherung in Erziehungsfragen wieder, mit denen sich vor allem junge Frauen häufig - nicht zuletzt in der eigenen Partnerschaft - allein gelassen fühlen.
Aber auch der zweite Ort des Aufwachsens, die Schule, findet sich im Lichte internationaler Leistungsvergleichsstudien in keinem ruhigen Fahrwasser. Alle Studien der letzten Jahre weisen darauf hin, dass neben den unbefriedigenden schulischen Leistungen vor allem die damit verbundene soziale Frage, d.h. die Überwindung der herkunftsabhängigen Unterschiede im deutschen Bildungssystem nicht wirklich gelöst wird. Dahinter deutet sich ein Problem an, das mit dem traditionellen Familienmodell stärker zusammenhängt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: die stillschweigende Annahme einer allseits zeitlich belastbaren, umfassend verlässlichen und alltagskompetenten Familie. In Anbetracht dieser Ausgangslage wird gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit die Ganztagsschule als die beste Antwort auf die Bildungs- und Betreuungsdefizite der deutschen Halbtagsschule betrachtet. Spätestens mit dieser Entwicklung wurde die Betreuungs- durch die Bildungsdebatte ergänzt, vermengten und überlagerten sich Bildungs- und Betreuungsfragen ebenso wie die lange Zeit altersmäßig getrennten Bereiche der vorschulischen und schulischen Kindheit.
Zwei Leitmotive umschreiben die damit zusammenhängenden Blickrichtungen: "Bildung von Anfang an" wurde zu einem Leitgedanken, mit dem die Bedeutung der Bildungsfrage in den ersten Lebensjahren in den Mittelpunkt gerückt werden sollte; und "Bildung ist mehr als Schule" sollte zum Ausdruck bringen, dass Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen weitaus weniger ortsgebunden sind, als oft unterstellt wird, d.h. dass Lernen diesseits und jenseits der Schule und des Unterrichts stattfindet. Die Frage ist also, wie Bildungsprozesse so gestaltet werden können, damit Kinder und Jugendliche auf ganz unterschiedlichen Wegen und in möglichst breiter Form erreicht werden können.
Der Bericht lässt sich von der Idee leiten, dass öffentliche Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote künftig so organisiert werden müssen, dass dadurch nicht nur ein Aufwachsen in einem neuen Zusammenspiel von privater und öffentlicher Erziehung, von Familie und Kindertagesbetreuung, von Schule und außerschulischen, auch gewerblichen Angeboten ebenso verlässlich wie qualifiziert möglich wird, sondern dass dadurch auch nachhaltige familien- und kindheitspolitische Effekte zu erwarten sind. Infolgedessen steht nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Angebote auf der Agenda politischer Gestaltung.
Mit den in den letzten zehn Jahren angestoßenen Reformen - Kindergartenrechtsanspruch, Tagesbetreuungsausbaugesetz und Ganztagsschulprogramm - wird damit erstmalig in Deutschland ein durchgehendes Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot für Heranwachsende bis zum 14. Lebensjahr denkbar, liegt so etwas wie ein verlässliches und planbares Unterstützungsprojekt für Familien im Bereich des Möglichen, das sowohl familien- und geschlechterpolitische, arbeitsmarkt- wie sozialpolitische, bildungs- sowie kindheits- und jugendpolitische Ziele verfolgt.
Obgleich die Trias von "Bildung, Betreuung und Erziehung" im Rahmen der Kindertagesbetreuung seit langem als Begründung für entsprechende Konzepte herangezogen wird, wurde bislang versäumt, die Besonderheit und den Eigensinn dieses integrierten Konzepts auszuweisen. Dies gilt auch insofern, als in Deutschland innerhalb der Kindertagesbetreuung eine Unterschätzung der Seite der Bildung in dieser Trias ebenso festzustellen ist wie auch umgekehrt die Schule die Themen Betreuung und Erziehung bislang weitgehend vernachlässigt hat. Dabei hat es den Anschein, als würden in Deutschland bislang Betreuung, Erziehung und Bildung doch eher im Nacheinander als eine aufsteigende Abfolge im kindlichen Lebenslauf konzipiert und organisiert als im Nebeneinander gleichzeitig zu bewältigender Aufgaben. In deutlichem Unterschied zu dieser altersmäßigen Anordnung von Betreuung, Erziehung und Bildung plädiert dieser Bericht für eine aufeinander abgestimmte Sichtweise für das gesamte Kindes- und Jugendalter. Infolgedessen muss "Bildung von Anfang an" ebenso zu einem konzeptionellen Anspruch werden wie "Betreuung und Erziehung" zu einem integralen Bestandteil einer auf ganztägige Angebote ausgerichteten (Ganztags-) Schule, so dass am Ende beides stimmt: "Bildung ist mehr als Schule" und "Schule ist mehr als Bildung".
Um diesem Anspruch im Ansatz gerecht werden zu können, werden die drei Begriffe Bildung, Betreuung und Erziehung deutlicher, als dies bislang der Fall war, in ihren Gemeinsamkeiten, ihren Besonderheiten und ihren jeweiligen unterschiedlichen Aspekten ausformuliert. Zugleich wird der Bildungsbegriff in seiner erweiterten Form als Grundbegriff für den Bericht eingeführt, da er am ehesten operationalisierbar erscheint in Anbetracht der ungleichen Möglichkeiten, Bildung, Betreuung und Erziehung zu einem expliziten Thema, zu einem eigenen Gegenstand der Vermittlung zu machen, der planbar, gestaltbar und bearbeitbar ist.
Mit den Konzepten von Bildung und Betreuung im Rahmen von Ganztagsschulen einerseits und dem Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige andererseits sollen nachhaltige Wirkungen erzielt werden. Beide von der Politik aufgegriffenen Problembereiche sind Ausdruck dieses Defizits, wobei es in unterschiedlicher Weise und Konnotation dabei um ein Zusammenspiel der Fragen von Bildung, Betreuung und Erziehung geht. Nur in einer konsequent komplementären Berücksichtigung dieses Dreiklangs kann es gelingen, weiterführende Antworten auf diese grundlegenden Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts für Deutschland zu finden. Jenseits der damit verbundenen finanziellen gesamtstaatlichen Belastungen und der unübersehbar schwierigen fiskalischen Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Ausbau an Ort und Stelle wird es größter Anstrengungen bedürfen, um diese elementare Aufgabe in den nächsten Jahren bedarfs-, fach- und sachgerecht zu bewältigen.
Teil A: Gesellschaftliche Bedingungen und konzeptionelle Grundlagen
1. Rahmenbedingungen des Aufwachsens
Die Unterstützung und Förderung von Bildungsprozessen der jungen Generation muss sich einerseits an gesellschaftlichen Erfordernissen und andererseits an den lebensweltlichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen orientieren. Diese leiten sich aus demografischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialen Entwicklungen ab, die die Lebenssituation und die Lebensführung der jungen Menschen und ihrer Familien beeinflussen. Veränderungen in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihre Auswirkungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen deuten auf die Notwendigkeit einer Um- und Neugestaltung des derzeitigen Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung hin.
In der Familie erfahren heute immer mehr Kinder - im Osten Deutschlands öfter als im Westen - Diskontinuitäten in familiären Konstellationen, sie wachsen häufiger als früher ohne bzw. mit einer geringeren Anzahl an Geschwistern auf, und der Anteil der Kinder, der mit nur einem Elternteil zusammenlebt, hat sich ebenfalls erhöht. Außerdem gibt es mit der wachsenden Erwerbstätigkeit beider Elternteile, mit von "Normalarbeitsverhältnissen" abweichenden Arbeitszeiten und Arbeitszeitlagen sowie mit zunehmenden Anforderungen an Flexibilität und Mobilität im Berufsleben viele Hinweise darauf, dass sich gemeinsame Familienzeiten verringern und die Organisation des Familienalltags erschwert ist.
Neben der Familie haben altersspezifische Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen ein großes Gewicht gewonnen. Sie bieten altersgerechte Aneignungs- und Lernmöglichkeiten, stellen an die jungen Menschen aber auch Anforderungen zur Integration unterschiedlicher Erfahrungswelten und tragen zu deren alters- und generationenspezifischen Separierung bei. Gleichzeitig stehen Heranwachsenden vielfältige Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten offen, die alters- und lebensphasenspezifische Beschränkungen aufheben bzw. minimieren, z.B. durch den Zugang zu Informations- und Unterhaltungsmedien, durch eine Angleichung des Freizeitverhaltens von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen sowie durch frühe Arbeitsmarkterfahrungen. Auch im Bildungsbereich zeigen sich alltags- und lebenslaufspezifische Entgrenzungen, u.a. mit dem Vordringen von Bildungsangeboten in die Freizeitwelt der Heranwachsenden, mit "Kinder-Unis" und "Seniorenstudium".
Eine große Bedeutung für die Lebensführung junger Menschen besitzt die mediale Durchdringung des Alltags. Sie eröffnet neue Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten und verlagert bzw. erweitert die Erfahrungs- und Lernwelten von Kindern und Jugendlichen. Die wachsende Bedeutung digitaler Medien in der Arbeitswelt und im internationalen Austausch beinhaltet darüber hinaus neue, gesellschaftlich immer relevanter werdende Bildungsanforderungen.
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer durch Internationalisierungsprozesse geprägten Welt auf. Dadurch erweitern sich nicht allein ihre Bewegungs- und Informationsräume, sondern ihre Lebenswelten entwickeln sich im Zuge von demografischen Entwicklungen und transnationalen Wanderungsprozessen zunehmend zu interkulturellen Beziehungs- und Wissenswelten. Da davon auszugehen ist, dass sich diese Entwicklung in Zukunft fortsetzt, stehen die Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung vor der Herausforderung, die Heranwachsenden mit den Fähigkeiten und Kompetenzen auszustatten, die es ihnen erlauben, sich in einer internationalisierten Welt und in interkulturellen Sozialräumen zu bewegen und zu bewähren, die Lern- und Bildungschancen zu nutzen, die sich hier bieten und Konfliktpotenziale zu mindern.
Dass Kinder und Jugendliche heute in einer Gesellschaft aufwachsen, die auf dem Weg ist, sich zu einer "alternden Gesellschaft" zu entwickeln, wirft - insbesondere angesichts der zu erwartenden strukturellen Veränderungen - auch für die Organisation des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems neue Fragen auf. Welche Konsequenzen eine Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung für die alltägliche Lebensführung und -gestaltung von Kindern und Jugendlichen haben wird, ist hingegen noch kaum absehbar.
Die vielfältigen Optionen, die sich Kindern und Jugendlichen heute für ihre Lebensgestaltung bieten, beinhalten Chancen für zahlreiche soziale, kulturelle und kognitive Bildungs- und Lernprozesse, bergen jedoch auch Risiken und Konfliktpotentiale und erfordern deswegen vorbereitende und begleitende Unterstützung.
Die optionale Vielfalt der Erfahrungswelten und Bildungsmöglichkeiten steht jedoch nicht allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen offen und bietet nicht allen die gleichen Chancen zur Lebensplanung und Zukunftsgestaltung. Möglichkeiten zur sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe sowie für Aneignungs- und Lernprozesse differieren nach sozialer und ethnischer Herkunft, nach Geschlecht und Region. Hieraus ergeben sich besondere Herausforderungen für die Organisation von Bildung, Betreuung und Erziehung.
Anstrengungen für die Ermöglichung einer gleichberechtigten Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen an Bildungsprozessen sind vor allem erforderlich angesichts
- der erheblichen Anzahl von Kindern, die in Armut leben, insbesondere der Kinder von Alleinerziehenden sowie aus - vor allem süd-/osteuropäischen - Migrantenfamilien. Herauszuheben ist in diesem Kontext der enge Zusammenhang zwischen ökonomisch benachteiligten Lebenslagen von Familien und dem Bildungsniveau der Eltern. Er weist auf den hohen Stellenwert von Bildung für die individuelle Lebensbewältigung hin und wirft die Frage auf, wie derartige "Armuts-Bildungs-Spiralen" durchbrochen werden können;
- der geschlechtsspezifischen Unterschiede in den schulischen Leistungen der Heranwachsenden, den ungleichen Zugangsmöglichkeiten von Frauen und Männern zur Erwerbstätigkeit, zu hohen beruflichen Positionen und Gehaltsklassen sowie der nach wie vor bestehenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Familie. Dabei geht es nicht allein um die Verbesserung individueller, sondern auch gesellschaftlicher Perspektiven, denn die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, dass die wachsende Anzahl hoch qualifizierter Frauen aufgrund von Vereinbarkeitsproblemen von Beruf und Familie auf Kinder verzichtet;
- teilweise erheblicher sozialräumlicher Unterschiede im Zugang zu Bildungsorten und Lernwelten. Benachteiligt sind Kinder und Jugendliche, die in Stadtvierteln mit einer relativ homogenen Bevölkerungszusammensetzung aus niedrigen Sozialschichten - hierzu gehören auch viele Migrantenfamilien - aufwachsen, die in ländlichen Gebieten mit mangelnden Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten leben, sowie Kinder und Jugendliche aus strukturell benachteiligen Gebieten mit einem mangelnden Arbeitsmarktangebot, hohen Abwanderungsquoten und infrastrukturellen Ausdünnungen. Großräumige Disparitäten finden sich sowohl zwischen Ost- und West- sowie Nord- und Süddeutschland als auch zwischen und innerhalb von einzelnen Bundesländern.
Die Veränderungen der privaten Lebenswelten lassen sich in ihren gesellschaftlichen Folgen auch an den Veränderungen des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems ablesen. Dabei deutet sich für diese eine zeitlich-biografische, eine örtlich-institutionelle und eine inhaltlich-thematische Entgrenzung an. Die Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen, einschließlich der Familie, stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor der Aufgabe, sich selbst an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, sich als so zukunftsfähig zu erweisen, dass sie ihrer Kernaufgabe - Kinder auf ihrem Weg des Erwachsenwerdens zu unterstützen - gerecht werden können.
Das neu erwachte öffentliche Interesse an Bildung, Betreuung und Erziehung ist Ausdruck der gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung dieses Bereichs. Dies lässt sich an der Entwicklung der Sozial- und Erziehungsberufe ablesen: Zwischen 1975 und 2003 hat sich die Zahl der Beschäftigten in dieser Branche von rund 900.000 auf zuletzt 2,4 Mio. im Jahre 2003 erhöht. Waren 1950 gerade mal 1,7% aller Beschäftigten in Deutschland dieser Branche zuzuordnen, so ist dieser Anteil bis 2003 auf über 8% angestiegen. Heute ist jeder 12. Arbeitsplatz in Deutschland bzw. jeder 8. Arbeitsplatz von Frauen in den Sozial- und Erziehungsberufen zu finden.
Unter dem Strich macht diese Entwicklung deutlich, dass die gesamte Dynamik und Entwicklung des öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems inzwischen auch eine erhebliche arbeitsmarktpolitische Bedeutung erlangt hat; dass dieses Arbeitsmarktsegment für die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen bis heute ein wesentlicher Motor gewesen ist; dass die Veränderungen von Familie und Lebenswelt zu diesem stetigen und nachhaltigen Ausbau beigetragen haben. Gegenwärtig ergänzen sich die private und öffentliche Verantwortung von Bildung, Betreuung und Erziehung mehr denn je.
Diese Expansion des nichtschulischen Bildungsbereichs zeigt sich auch mit Bezug auf das jährlich für Bildung aufgewendete Finanzvolumen. So ist der im Rahmen der Bildungsfinanzberichterstattung erfasste Anteil für die Ausgaben für Tageseinrichtungen für Kinder sowie für die Jugendarbeit von 8,4% der Bildungsausgaben im Jahre 1975 (0,26% des BIP) auf 13,0% im Jahr 2001 gestiegen (0,52% des BIP), was umgerechnet etwa 11 Mrd. € entsprach. Vergleicht man nun unter Finanzgesichtspunkten den Bereich der Kindertageseinrichtungen mit den Schulstufen, so liegen die öffentlichen Pro-Kopf-Ausgaben im Elementarbereich unterhalb derer im Primar- als auch Sekundarbereich. Bezieht man allerdings die privaten Ausgaben - also die Elternbeiträge und die Ausgaben der Freien Träger - mit ein, zeigt sich, dass pro Kind im Elementarbereich in Deutschland derzeit mehr Geld aufgewendet wird als im Primarbereich.
International vergleichende Befunde der OECD zu den Ausgaben für den Elementar- und den Primarbereich lassen erkennen, dass die Ausgaben für den Elementarbereich in Deutschland kaufkraftbereinigt über dem OECD-Durchschnitt liegen, die Ausgaben für den Primarbereich darunter. Vergleicht man dabei die privaten und öffentlichen Finanzierungsanteile, so spielen in Deutschland - wie auch in Irland, den USA oder Japan - private Bildungsausgaben eine erheblich größere Rolle für die vorschulische Bildung und Betreuung als in den meisten anderen OECD-Staaten.
2. Bildung - ein konzeptioneller Rahmen
(1) Bildung ist ein umfassender Prozess der Entwicklung einer Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umwelt. Das Subjekt bildet sich in einem aktiven Ko-Konstruktions- bzw. Ko-Produktionsprozess, eignet sich die Welt an und ist dabei auf bildende Gelegenheiten, Anregungen und Begegnungen angewiesen, um kulturelle, instrumentelle, soziale und personale Kompetenzen entwickeln und entfalten zu können. Um diesen umfassenden Prozess beschreiben zu können, muss Bildung in einem weiten Sinne gebraucht werden. Dabei geht der Bericht davon aus, dass hierin auch Prozesse der Betreuung und Erziehung eingelagert sind.
Im Bildungsbegriff sind Vorstellungen von der Gesellschaft und deren Entwicklung ebenso aufgehoben wie Vorstellungen von den Individuen und deren persönlicher Entwicklung. Bildung dient in ihrer gesellschaftlichen Funktion der Reproduktion und dem Fortbestand der Gesellschaft, der Sicherung, Weiterentwicklung und Tradierung des kulturellen Erbes, der Herstellung und Gewährleistung der gesellschaftlichen und intergenerativen Ordnung, der sozialen Integration und der Herstellung von Sinn. In das, was als Bildung definiert wird, fließen somit auch Vorstellungen darüber ein, was die Gesellschaft zusammenhält und welche Werte für die Gesellschaft leitend sind.
Aneignung von Welt und Entfaltung eines individuellen Profils der Person ist in einem modernen Konzept von Bildung nicht allein funktional im Sinne einer Einbindung in eine bestehende Gesellschaft, als eindimensionale Instrumentalisierung oder als einseitige Zurichtung der Individuen zu verstehen. Dazu gehört auch der Anspruch von Bildung, die einzelnen Subjekte zu befähigen, sich Zumutungen und Ansprüchen der Gesellschaft, die der individuellen Entfaltung entgegenstehen, zu widersetzen.
Bildung wird in diesem Bericht als sozialwissenschaftlich fundierter Begriff definiert. Damit sind empirische, nicht-normative Aussagen über Bildung in Bezug auf konkrete Lebensbereiche, Entwicklungsanforderungen, Bewältigungsaufgaben, Gesellungsformen und Handlungsoptionen möglich. Deshalb wird Bildung als Aneignung von Welt in vier Bezügen konkretisiert:
- Mit der kulturellen Welt werden vor allem jene Weltbezüge umschrieben, die sich auf das "kulturelle Erbe", auf die gattungsgeschichtlich-symbolischen Errungenschaften und Überlieferungen beziehen.
- Mit der materiell-dinglichen Welt werden vor allem jene Weltbezüge umschrieben, die sich auf die äußere Welt der Natur und der von Menschenhand geschaffenen Dinge, des gesellschaftlich Produzierten, beziehen.
- Mit der sozialen Welt werden vor allem jene Weltbezüge umschrieben, die sich auf die soziale Ordnung der Gesellschaft, also die Regeln des kommunikativen Umgangs, der zwischenmenschlichen Verhältnisse und der politischen Gestaltung des Gemeinwesens, beziehen.
- Mit der subjektiven Welt werden vor allem jene Weltbezüge umschrieben, die sich auf die eigene Person, sowohl auf die eigene "Innenwelt" als auch auf die eigenen "Körperwelten" beziehen.
Bildung in dem hier vorgeschlagenen Sinne ist ein Prozess des Aufbaus und der Vertiefung von Kompetenzen in den dargestellten Dimensionen. Die vier genannten Weltbezüge beziehen sich dabei auf jeweils unterschiedliche basale Kompetenzen:
- kulturelle Kompetenzen im Sinne der sprachlich-symbolischen Fähigkeit, das akkumulierte kulturelle Wissen, das "kulturelle Erbe" anzueignen, die Welt mittels Sprache sinnhaft zu erschließen, zu deuten, zu verstehen, sich in ihr zu bewegen;
- instrumentelle Kompetenzen im Sinne einer objektbezogenen Fähigkeit, die naturwissenschaftlich erschlossene Welt der Natur und der Materie sowie die technisch hergestellte Welt der Waren, Produkte und Werkzeuge in ihren inneren Zusammenhängen zu erklären, mit ihnen umzugehen und sich in der äußeren Welt der Natur und der stofflichen Dinge zu bewegen;
- soziale Kompetenzen im Sinne einer intersubjektiv-kommunikativen Fähigkeit, die soziale Außenwelt wahrzunehmen, sich mit anderen handelnd auseinander zu setzen und an der sozialen Welt teilzuhaben sowie an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzuwirken;
- personale Kompetenzen im Sinne einer ästhetisch-expressiven Fähigkeit, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, sich als Person einzubringen, mit sich und seiner mentalen und emotionalen Innenwelt umzugehen, sich selbst als Eigenheit wahrzunehmen und mit der eigenen Körperlichkeit, Emotionalität und Gedanken- sowie Gefühlswelt klarzukommen.
(2) Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen finden an vielen Orten statt; sie sind nicht an die Grenzen institutioneller Zuständigkeit gebunden. Sie erfolgen in der Schule, der Familie, in Einrichtungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, in der Gleichaltrigen-Gruppe, im Gebrauch und in der Nutzung von Medien, aber auch beim Besuch kommerzieller Freizeitangebote, in Nachhilfeinstituten, bei Auslandsreisen oder beim Jobben.
Von Bildungsorten im engeren Sinne wäre vor allem dann zu sprechen, wenn es sich um lokalisierbare, abgrenzbare und einigermaßen stabile Angebotsstrukturen mit einem expliziten oder zumindest impliziten Bildungsauftrag handelt. Sie sind eigens als zeit-räumliche Angebote geschaffen worden, bei denen infolgedessen der Angebotscharakter überwiegt. Im Unterschied dazu sind Lernwelten weitaus fragiler, nicht an einen geografischen Ort gebunden, sind zeit-räumlich nicht eingrenzbar, weisen einen deutlich geringeren Grad an Standardisierung auf und haben auch keinen Bildungsauftrag. Von ihrer Funktion her handelt es sich bei ihnen eher um institutionelle Ordnungen mit anderen Aufgaben, in denen Bildungsprozesse gewissermaßen nebenher zustande kommen.
Mit Blick auf potenzielle Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen vor, in und neben der Schule wird somit zweierlei angesprochen: die systematische Inblicknahme ganz unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten als möglicher oder faktischer Orte der Bildung einerseits sowie das Verhältnis dieser Bildungsorte und Lernwelten zur Schule andererseits.
(3) Bildungsprozesse können mehr oder weniger formalisiert sein. Neben den formalisierten Prozessen gilt es, den informellen Prozessen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Damit Bildung in diesem umfassenden Sinne beim Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen angemessen zu begreifen ist, muss deshalb das Zusammenspiel der unterschiedlichen Bildungsorte und Lernwelten und der dabei verlaufenden formalen und informellen Bildungsprozesse verstärkt in den Blick genommen werden.
Das Bildungsgeschehen wird traditionell als formalisierter Prozess gedacht, der an eigens dafür eingerichteten Institutionen nach vorgegebenen Regeln und vorgefertigten Plänen arrangiert und curricular gestaltet stattfindet. Seit einigen Jahren steigt allerdings die Aufmerksamkeit für informelle Bildungsprozesse.
Im Unterschied zu formellen und informellen Bildungsprozessen zielt die bereits implizit verwendete Unterscheidung von formalen und non-formalen Bildungssettings auf den Grad der Formalisierung der geplanten Bildungsarrangements. Als formale Bildungsorte gelten insbesondere jene Institutionen, die nicht nur ein dezidiertes Ziel der Bildung ihrer Nutzerinnen und Nutzer verfolgen, sich also ausdrücklich mit Bildungsfragen beschäftigen, sondern die Bildungsprozesse zugleich auch nach definierten Regeln und rechtlichen Vorgaben strukturieren.
(4) In diesem Bericht stehen nicht die Bildungsinstanzen, sondern das Bildungsgeschehen aus dem Blickwinkel des Lebenslaufs von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund. Bildungsprozesse kumulieren im frühen Lebensverlauf, in der Biografie von Kindern und Jugendlichen, nehmen andere Formen an, bauen im günstigen Fall aufeinander auf, verstärken sich untereinander und führen so zu einem höheren Niveau der Verallgemeinerung.
Unstrittig kommt es im Prozess des Aufwachsens zu einer Akkumulation gelingender wie misslingender Bildungsprozesse, also zu einer Verstärkung bereits vorgängig erfolgter Bildungsprozesse. Damit radikalisieren sich die Fragen nach den sozialen, d.h. den nicht-genetischen oder individuellen Ursachen für die Entstehung misslingender Bildungsbiografien. Sollen mithin die Bildungsbiografien, die erfolgreichen wie die risikoreichen Bildungsprozesse verstärkt ins Blickfeld der fachpolitischen Beobachtung gerückt werden, sind die bildungssystemabhängigen Blickrichtungen zu überwinden und die Bildungsprozesse im Lebensverlauf selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
(5) In ökonomischer Perspektive ist Bildung ein Dienstleistungsprodukt, das von unterschiedlichen Produzenten, dem Staat, freien Trägern und privaten Anbietern, zusammen mit den Konsumenten hergestellt werden kann. Auch Bildung muss in einer Welt mit knappen Ressourcen möglichst sparsam produziert werden. Aufgrund von Informationsmängeln, externen Effekten und dem gesellschaftlichen Ziel der Chancengleichheit kommt dem Staat bei der Finanzierung und der Sicherstellung der Qualitätskontrolle eine herausgehobene Bedeutung zu. Durch wen Bildung produziert und auf welche Weise Qualität am besten gesichert wird, muss im Einzelfall unter den gegebenen Randbedingungen und den gesellschaftlichen Zielsetzungen geprüft werden.
Teil B: Bildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter
3. Die ersten Jahre - Bildung vor der Schule
Auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse werden die wesentlichen Merkmale und Erfordernisse von Entwicklungs- und Bildungsprozessen in der Lebensphase von bis zu sechs Jahren dargestellt. Besonderer Wert wird dabei auf die ersten drei Lebensjahre gelegt. Es wird gezeigt, dass die Entwicklung in früher Kindheit von zwei Gegensätzlichkeiten geprägt ist: Zum einen ist die Entwicklung in dieser Lebensphase ausgesprochen robust; Kinder gehen Beziehungen ein, sie lernen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sich ihre Lebenswelt anzueignen. Zum anderen sind sie in dieser frühen Phase jedoch auch im höchsten Maße verletzlich; Entwicklungs- und Bildungsprozesse kleiner Kinder sind in jeder Hinsicht abhängig von der Lebensumwelt, die ihre primären Bezugspersonen und andere Erwachsene ihnen bereitstellen.
Frühe Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern sind insbesondere durch folgende Voraussetzungen und Erfordernisse gekennzeichnet:
- Die Entwicklung wird heute als dynamischer Interaktionsprozess zwischen der genetischen Ausstattung des Menschen und seinen sozialen Erfahrungen, seiner sozialen Interaktion mit der Umwelt verstanden. Die Art des Zusammenspiels von biologischen und lebensweltlichen Bedingungen beeinflusst die Entstehung kindlicher Bildungsprozesse maßgeblich.
- Entwicklung lässt sich als Transaktionsprozess beschreiben. Jedes Kind bringt darin seine individuellen Verhaltensbesonderheiten (u.a. Verhaltensstile, Temperament) ein, nimmt seine Umwelt individuell wahr und "antwortet" entsprechend auf seine Umwelt. Entwicklung unter einem transaktionalen Gesichtspunkt zu verstehen, ermöglicht ein besseres Verständnis sowohl der komplexen Erfordernisse hins ichtlich der körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Entwicklung eines Kindes als auch der Einflüsse, die für seine Entwicklung und Bildung nachteilig sind bzw. zu Beeinträchtigungen und Störungen führen können.
- Selbstregulation muss als entwicklungsnotwendige Aufgabe des Kindes in Alltagserfahrungen in früher Kindheit erworben werden. Stresssituationen, die die Regulationsfähigkeit des Kindes übersteigen, können Fehlanpassungen und Störungen in verschiedener Hinsicht bewirken. Nicht alle Kinder erlernen in gleichem Ausmaß, sich selbst zu regulieren; dies ist sowohl biologisch als auch sozial bedingt. Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten des Kleinkindes hängen immer auch mit Störungen der Erwachsenen-Kind-Beziehung zusammen.
- Der Entwicklungs- und Bildungsverlauf des Kleinkindes ist in hohem Maße von fürsorglichen, pflegenden und betreuenden Beziehungen in verlässlichen, emotional sicheren und beschützenden Settings zu wenigen erwachsenen Bezugspersonen abhängig. Die frühen Bindungsbeziehungen unterscheiden sich von allen späteren Beziehungen.
- Bildung ist als ko-konstruktiver Prozess zu verstehen, an dem das Kind und die erwachsenen Bezugspersonen beteiligt sind. Wenn zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen eine positive Beziehung besteht, die Erwachsenen die Bedürfnisse des Kindes verstehen und unmittelbar beantworten, kann es sich förderlich (im Sinne von umfassendem Wohlergehen) entwickeln und seine kognitiven, sprachlichen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten aufbauen.
- Das Kind bedarf in der frühen Kindheit vielfältiger Anregungen durch seine Umgebung, die es zur Exploration und Auseinandersetzung mit der es umgebenden kulturellen, materiellen und sozialen Welt ermutigen.
- In der Kleinkindphase, spätestens ab dem dritten Lebensjahr, bedürfen Kinder neuer, den familialen Rahmen erweiternde und ergänzende Bildungsgelegenheiten. Die Familie bietet zwar den Boden für elementare Entwicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes, jedoch sind unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ihre Möglichkeiten, Kindern die Teilhabe an der komplexen, pluralistischen und einem schnellen Wandel unterworfenen Gesellschaft zu ermöglichen, eingeschränkt.
- Familie kann nur das weitergeben und beim Kind initiieren, was innerhalb des Rahmens ihrer sozialen und kulturellen Ressourcen liegt. Der Bildungshintergrund der Eltern, die reale Lebenslage und die konkreten Lebensbedingungen haben einen stark modifizierenden Einfluss darauf, welche Chancen der Entwicklung und Bildung Kinder in ihrer familialen Umwelt zur Verfügung stehen. Aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus, verbunden mit sozial benachteiligten und prekären Lebenslagen sowie unter ungünstigen sozio-ökonomischen Bedingungen, gelingt es vielen Familien nicht, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen, ihnen genügend Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen und ihnen anregungsreiche Bedingungen des Aufwachsens zu bieten. Kinder, die unter Armutsbedingungen aufwachsen, einen Migrationshintergrund haben, mit Behinderungen leben müssen oder deren Eltern psychisch beeinträchtigt sind, haben erschwerte Entwicklungs- und Bildungsbedingungen.
Hieraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse und Befunde zu Entwicklungs- und Bildungsprozessen in früher Kindheit sowie den Erfordernissen, die sich aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ergeben, muss die Entwicklung von Kindern mehr denn je sowohl als eine Angelegenheit der Eltern als auch der Gesellschaft insgesamt betrachtet werden. Das angesammelte Wissen über Entwicklungsbedingungen, Entwicklungsbeeinträchtigungen und -risiken von kleinen Kindern macht einen Dialog und eine gemeinsam geteilte Verantwortung für das Aufwachsen der Kinder erforderlich. Die Verantwortung dafür, dass Kinder sich positiv entwickeln, kann nicht einseitig der einzelnen Familie übertragen werden; sie muss im Rahmen eines neuen Verständnisses von öffentlicher Verantwortung gemeinsam übernommen werden. Da die Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder weitgehend von den Umwelten abhängig sind, in die sie hineinwachsen - sei es die Familie, die Tagespflege oder die Kindertagesbetreuung -, ergibt sich als große gesellschaftliche Herausforderung, die Qualität der Bildungswelt der Familie ebenso wie die der Bildungsorte Tagespflege und Kindertageseinrichtungen sowie sonstiger bildungsrelevanter Erfahrungsräume und Lernwelten zu optimieren. Es liegt im öffentlichen Interesse, dass die Kinder sich förderlich und ihre Möglichkeiten ausschöpfend entwickeln können, damit sie an der Gesellschaft umfassend teilhaben können, die ihrer bedarf.
Im Einzelnen ergibt sich Folgendes:
- Die Lebensphase der frühen Kindheit darf nicht nur als Vorbereitungszeit für die Schule gesehen werden, sondern muss als eine eigenständige Phase ausgesprochen vielfältiger Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder verlaufen individuell verschieden. Erwachsene können diesem Faktum nur durch die Anerkennung individueller Entwicklungsgeschwindigkeiten und -verläufe sowie durch eine individuell abgestimmte Förderung gerecht werden.
- Die Familie muss als grundlegender und bedeutsamer Ort der Vermittlung von Bildung anerkannt werden. Sie ist der wichtigste Ort, die Bereitschaft und Fähigkeit zu lebenslangem Lernen bei den Kindern anzulegen, aber auch ein Ort, an dem die lebenslang wirksamen Bildungsdifferenzen entstehen. Damit mehr Chancengleichheit durch individuelle Förderung der Kinder möglich wird, muss die Familie in ihrer Leistungsfähigkeit unterstützt werden. Hierzu bedarf es verstärkter Aufmerksamkeit und verbesserter Bildungs- und Informationsangebote für werdende Mütter und Väter sowie für Eltern von kleinen Kindern. Hierzu ist es erforderlich, das Netz von Multiplikatoren/innen, zu denen u.a. auch Frauen- und Kinderärzte, Hebammen sowie Mitarbeiter/innen von Familienbildungsstätten gehören, weiter auszubauen.
- Kinder brauchen für ihre Entwicklung neben der Bildungswelt der Familie schon frühzeitig weitere Bildungsgelegenheiten. Ihr eigenständiger Wert für die frühen Entwicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes muss in der Öffentlichkeit stärker vermittelt werden. Durch zielgruppenadäquate Angebote sollte die Attraktivität einer Inanspruchnahme für möglichst viele Familien erhöht werden. Hierzu gehören die Förderung und Unterstützung der Akzeptanz von Mutter-Kind-Gruppen und Elterngruppen ebenso wie die der Inanspruchnahme von Angeboten der Kinderbetreuung insbesondere bei bildungsmäßig und sozial benachteiligten Familien mit eingeschränkten sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen.
Kinderbetreuungseinrichtungen müssen vor dem Hintergrund der umfangreichen Erkenntnisse zu den Entwicklungsbedürfnissen und -erfordernissen von kleinen Kindern größtmögliche Qualität bieten, um sowohl stabile Beziehungen als auch eine anregungsreiche Umwelt sicherzustellen. In erster Linie muss es um die Verbesserung der Ausbildung des Personals in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung gehen. Das Wissen von Erzieherinnen und Erziehern über Grundbedürfnisse und Entwicklungserfordernisse in früher Kindheit muss ebenso vergrößert werden wie das Wissen über altersphasentypische Entwicklungsschritte und -merkmale, um auf Entwicklungsverzögerungen und -störungen rechtzeitig und effektiv eingehen zu können. Erzieher und Erzieherinnen müssen insbesondere auch durch ihre Basisqualifikation in die Lage versetzt werden, sich ständig weiterbilden zu können, u.a. damit sie sich mit neuen Forschungserkenntnissen, die für die nächsten Jahre zu erwarten sind, auseinandersetzen können.
4. Bildungsprozesse im Schulalter
Im Mittelpunkt stehen die Bildungsprozesse und der Kompetenzerwerb von Heranwachsenden im Schulalter. Mit dem Eintritt in die Grundschule ändert sich auch der gesellschaftliche Status sowie die Rollenzuschreibung des Kindes: Das Kind wird zum Schüler/zur Schülerin. Neben der nach wie vor wichtigen Bildungswelt der Familie und nach dem Besuch einer Kindertageseinrichtung, die in der Regel der erste öffentliche Bildungsort für das Kind ist, kommt die Schule als neuer Bildungsort hinzu, den anschließend alle Kinder zumindest neun Jahre lang besuchen müssen. Zugleich werden für die meisten Kinder und Jugendlichen auch Gleichaltrigen-Gruppen als neue Lernwelten nach und nach bedeutsamer. Ein nicht zu unterschätzender Teil von ihnen nutzt darüber hinaus die Lernangebote der außerschulischen Jugendarbeit, der Vereine und Verbände sowie der Kulturarbeit. Bildungsprozesse finden in diesem Alter schließlich auch im Rahmen selbst organisierter Freizeitaktivitäten, im Kontext von Gelegenheitsarbeiten zu Hause oder in Gestalt von Schülerjobs statt. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die Medien, die schon ab dem frühen Kindesalter in vielfältigen Formen und als elementare Bestandteile des Aufwachsens als eigene Lernwelten hinzukommen.
Mit dem Bedeutungsgewinn schulischer Abschlüsse, der sich in der Verallgemeinerung und Inflation von schulischen Bildungstiteln zeigt, wird der Erwerb von bildungsrelevanten Ressourcen und Bildungskompetenzen in außerschulischen Bereichen zunehmend wichtiger. Das heißt dass den Angeboten der außerschulischen Bildungsorte in Gestalt der Institutionen der Jugendhilfe, der Kulturarbeit, den so genannten Nebenschulen (z.B. Nachhilfe, Sprachschulen, Musikschulen) oder auch anderen Lernwelten (z.B. Schülerjobs, Medien) eine veränderte und erhöhte Bedeutung zukommt. Aktuelle Zeitbudgetstudien machen deutlich, dass Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 15 Jahren nicht nur rund 27 Stunden pro Woche mit dem Lernen in und für die Schule verbringen, sondern daneben durchschnittlich noch weitere 5 Stunden pro Woche in informellen Kontexten lernen (z.B. in Nebenschulen, in selbst organisierten Gruppen, mit Medien).
Welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche im Rahmen von formellen und informellen Bildungsprozessen im Kontext dieser vielfältigen Bildungs- und Lernwelten im Verlaufe ihrer Bildungsbiografien erwerben, darüber liefern die Ergebnisse der Familien-, Kindheits-, Jugend- und Schulforschung erste, z.T. noch vorläufige Erkenntnisse, die sich zugespitzt wie folgt zusammenfassen lassen:
- Obwohl Heranwachsende sich auf dem Weg von der Kindheit in die Jugendphase ständig weitere Sozialwelten und Bildungsorte erschließen, stellt die Familie auch für Kinder und Jugendliche im Schulalter jene basale Bildungswelt dar, in der grundlegende Kompetenzen für den Umgang mit sich selbst sowie der kulturellen, materiell-dinglichen und sozialen Welt erworben werden. Zumeist ist die Familie auch der "gatekeeper", der den Heranwachsenden Zugänge zu anderen Erfahrungswelten eröffnet, und die Auseinandersetzung mit den angebotenen Orientierungsmustern erfolgt in enger Wechselwirkung mit familialen Aneignungsprozessen. Sowohl die ökonomischen und sozialen als auch die Bildungsressourcen der Familie haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich die schulischen Bildungschancen der Kinder und deren Teilhabe an außerschulischen Bildungs- und Lerngelegenheiten gestalten.
- Ein zweiter zentraler Bildungsort im Alltagsleben der Sechs- bis Sechszehnjährigen ist die Schule, die die Heranwachsenden mit der Erwartung konfrontiert, sich sukzessive systematisches Wissen und grundlegende Kompetenzen in den Bereichen der mathematisch-naturwissenschaftlichen, der sprachlichen, der historisch-politischen sowie der ästhetisch-expressiven Bildung anzueignen. De facto gelingt es dem deutschen Schulsystem jedoch gegenwärtig nicht hinreichend, allen Heranwachsenden eine Grundbildung im Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen sowie der Lesekompetenzen zu vermitteln. Dieses Defizit gilt erst recht für den Bereich der politischen Kompetenzen zur Teilhabe an der demokratischen Gesellschaftsordnung sowie der sozialen bzw. der personalen Kompetenzen zur Lebensbewältigung. Die Schule sortiert zudem einen Teil der Schüler/innen zu früh aus, produziert hohe und pädagogisch wenig sinnvolle Sitzenbleiberquoten sowie zu viele Schüler/innen mit prekären Bildungsbiografien, unter denen Arbeiterkinder und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund überproportional vertreten sind. Zudem hat sie sich bislang nur punktuell gegenüber den kindlichen und jugendlichen Lebenswelten geöffnet und mit den - insgesamt noch zu wenigen - außerunterrichtlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten bislang nur bedingt jene Schüler/innen erreicht, die auf außerunterrichtliche Förderangebote besonders angewiesen wären.
- Während die Grundschule und die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I von allen Heranwachsenden mehr oder weniger erfolgreich besucht werden, nehmen darüber hinaus zwischen einem Fünftel und knapp der Hälfte der Kinder und Jugendlichen Lerngelegenheiten an außerschulischen Bildungsorten wahr. Dabei kann man typologisch zwischen Bildungsorten unterscheiden, die sich zum einen direkt auf die Kompensation und Ergänzung schulischer Leistungen beziehen (z.B. Nachhilfe, Musikschulen, Sprachkurse); zum anderen sind es die Bildungsangebote der Jugendarbeit, Vereine, Verbände und kulturellen Einrichtungen, die im Gegensatz zum Bildungsangebot der Schule ihre Stärken in der Förderung der sozialen und personalen Kompetenzen der Heranwachsenden haben.
- Bildungspotentiale liegen auch in den selbst organisierten kulturellen Freizeitpraxen der Heranwachsenden sowie in den bereits von über einem Drittel der Fünfzehnjährigen ausgeübten Schülerjobs, die nicht nur Erfahrungen im Umgang mit Verantwortung und Geld, sondern auch den Erwerb eines breiten Spektrums an praktisch-technischen, kommunikativen und personalen Kompetenzen ermöglichen.
- Weitere wichtige Lernwelten, die über die gesamte Schulzeit eine zentrale Rolle im Alltags leben der meisten Kinder und Jugendlichen einnehmen, sind die Peers und die Medien. Die Gleichaltrigen-Gruppen stellen einen spezifischen Lern- und Erfahrungsraum für Heranwachsende dar, deren Potentiale vor allem im Bereich der Förderung der sprachlich-kommunikativen, sozialen und Selbstkompetenzen liegen. Im rezeptiven, vor allem aber im aktiven Umgang mit Medien erwerben Heranwachsende beiläufig oder auch gezielt technische Fertigkeiten, kulturelles Wissen sowie Orientierungen zur Entwicklung von Persönlichkeits- und Lebenskonzepten. Beide Lernwelten haben aber auch ihre Schattenseiten (z.B. Mitgliedschaft in aggressiven Straßencliquen, exzessiver Medienkonsum), die sich auf gelingende Bildungsprozesse eher negativ auswirken können.
Stellt sich die Forschungslage zum Bildungs- und Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen in den jeweiligen außerschulischen Bildungsorten insgesamt schon relativ bescheiden dar, so gilt dies erst recht für Untersuchungen, die diese Prozesse des Bildungs- und Kompetenzerwerbs vor dem Hintergrund des Zusammenspiels mehrerer Bildungsorte und Lernwelten analysieren:
- Relativ gut untersucht ist als Teilausschnitt aus diesem Interdependenzzusammenhang nur der Einfluss familialer Lebenslagen auf den schulischen und außerschulischen Bildungserwerb. Dabei zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen (z.B. Arbeiterfamilien, Familien mit Migrationshintergrund, von Armut betroffene Familien) in doppelter Weise benachteiligt sind: Sie haben nicht nur die schlechteren schulischen Bildungschancen, sondern auch weniger Zugänge und Möglichkeiten zum außerschulischen Bildungserwerb in der Welt der Vereine, Jugendverbände und der Kulturarbeit, der kulturellen Freizeitpraxen sowie der Medien.
- Die bislang wenigen Studien, die den Erwerb von mathematischen Kompetenzen, Lesekompetenzen oder politischer Bildung vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von schulischen, familialen und außerschulischen Bedingungsfaktoren untersucht haben, machen deutlich, dass der Prozess des Bildungs- und Kompetenzerwerbs bei Kindern und Jugendlichen nicht nur vom formalen Bildungsort Schule, sondern ganz wesentlich auch von nicht-schulischen Einflüssen abhängig ist.
Für die aktuellen Debatten um den Ausbau ganztägiger Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote sowie um die Neubestimmung des Verhältnisses von Schule und Jugendhilfe haben diese Erkenntnisse zur Konsequenz, dass neben der schulischen Bildung auch den Orten der außerschulischen Bildung ein weitaus größerer Stellenwert zukommt, als er in den bisherigen bildungspolitischen Diskussionen eingeräumt wurde. Zugleich stellt sich im Rahmen neuer vernetzter, ganztägiger Bildungslandschaften vor allem die Herausforderung, kumulative Benachteiligungseffekte in Bildungsprozessen auszugleichen.
Teil C: Bildungsangebote und -leistungen im Kindes- und Jugendalter
5. Bildungsangebote und -leistungen im frühen Kindesalter
Die öffentlichen Leistungen für die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im Alter bis zu sechs Jahren beziehen sich im Wesentlichen auf die für diese Altersgruppe relevanten Bereiche: Familie, Tagespflege und Tageseinrichtungen für Kinder sowie die Verknüpfungen dieser Systeme.
Kinder und Familien brauchen heutzutage ein öffentliches Angebot, das den Erwachsenen Mut macht, sich auf das "Abenteuer Kinder" einzulassen, und das Kindern und Eltern zugleich erweiterte Bildungswelten und Erfahrungsräume zur Verfügung stellt. Dafür braucht es verlässliche Angebote, die sich in einer Vielfalt von organisatorischen Rahmenbedingungen konkretisieren können; leitender Gesichtspunkt hie rfür sind die Bedarfe und Bedürfnisse von Kindern und Familien. Zugleich ist neben einer notwendigen quantitativen Erweiterung bzw. Stabilisierung des Angebots eine Verbesserung auf der qualitativen Ebene unabdingbar, um die positiven Effekte einer frühen Förderung realisieren zu können. Vor diesem Hintergrund sind sowohl die Leistungen als auch die Veränderungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten der frühen Bildungswelten und -orte in den Blick zu nehmen.
(1) Bildungswelt Familie
(a) Leistungen der Familie:
- Familie ist die erste, überdauernde Bildungswelt, in der grundlegende Kompetenzen erworben sowie kulturelles und soziales Kapital weitergegeben werden.
- Merkmale der Familie und das Anregungsniveau im familialen Umfeld haben - unabhängig von den Familienformen - den größten Einfluss auf die kindliche Entwicklung und den Bildungsweg von Kindern.
- Qualitätsbeeinträchtigend für den individuellen Bildungsprozess wirken sich sowohl ökonomisch, zeitlich, sozial und kulturell defizitäre Ressourcen als auch mangelnde Kommunikationsprozesse innerhalb der Familie aus.
- Familien in prekären Lebenslagen bieten nicht automatisch schlechtere Bildungsbedingungen für Kinder; diese hängen von vorhandenen Netzwerken und weiteren Unterstützungssystemen ab.
- Die Betreuung innerhalb der Familien wird zum überwiegenden Teil durch die Eltern (Mutter) geleistet; in den familialen Betreuungsmix (an Wochentagen) sind verschiedene weitere Personen involviert (Großeltern, Geschwister, Nachbarn, bezahlte Helfer), die für Kinder Anregungspotentiale beisteuern können.
- Eltern ermöglichen ihren Kindern Bildungsprozesse auch durch vielfältige Zugänge zu familienunabhängigen Lernwelten.
(b) Leistungen für Familien:
- Monetäre Leistungen für Familien (Erziehungsgeld u.a.) sind unverzichtbar, jedoch alleine nicht ausreichend, um adäquate Bildungsbeteiligung und Bildungserfolge von Kindern zu gewährleisten. Die derzeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheint wenig geeignet, jungen Familien einen Ausgleich gegenüber dem vorgeburtlichen Einkommen zu bieten.
- Die Leistungen für Familie müssen den Auf- und Ausbau einer Infrastruktur für Familien umfassen. Das betrifft z.B. Angebote zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz oder gemeinsame Angebote für Kinder und Eltern, um die soziale Isolierung von Familien zu überwinden.
- Die Angebote der Familien- und Elternbildungsinstitutionen werden von einem großen Teil der Eltern für wichtig befunden, jedoch nur von einer kleinen Gruppe genutzt. Junge Mütter mit kleinen Kindern und Mütter mit mittlerem und hohem Bildungsabschluss stellen die Hauptgruppe der Nutzerinnen dar.
- Programme, die die Selbsthilfe von Familien aktivieren, und Projekte, die Eltern im alltäglichen Kontext der Familie Hilfestellungen geben sowie Förderanregungen vermitteln, erreichen eine breitere Gruppe von Eltern und finden eher Zugang zu sozial benachteiligten Familien.
- Eine Ausweitung des Angebots der Familienbildung sowie eine engere Verknüpfung zwischen Familienbildung und Kindertageseinrichtungen sowie den Eigeninitiativen von Eltern ermöglichen es allen Familien, nach ihren jeweiligen Bedürfnissen diese Form der gesellschaftlichen Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
(2) Bildungsorte in öffentlicher Verantwortung
- Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sind die beiden Orte, an denen Bildung, Betreuung und Erziehung außerhalb der Familie in öffentlicher Verantwortung stattfinden. Im neuen Tagesbetreuungsausbaugesetz vom 1.1.2005 ist der Bildungsauftrag für beide Bereiche deutlich formuliert.
- Die Inanspruchnahme von Plätzen variiert mit dem Alter der Kinder und dem vorhandenen Angebot, das sich in Ost und West quantitativ deutlich unterscheidet. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist in seiner einfachen Form als Halbtagsplatz in allen Bundesländern umgesetzt; in manchen Bundesländern gilt ein erweiterter Rechtsanspruch für andere Altersgruppen. Für die Drei- bis Sechsjährigen fehlen jedoch nach wie vor (regional unterschiedlich) ganztägige Angebote.
- Die Zugangschancen zu einer institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im vorschulischen Alter sind in Deutschland sehr unterschiedlich. Dies gilt insbesondere für die unter dreijährigen Kinder, bei denen in den östlichen Bundesländern und - mit gewissem Abstand - auch in den Stadtstaaten eine um ein Vielfaches höhere Platzchance besteht, wobei sich im Übrigen in den letzten zwölf Jahren kaum eine Veränderung ergeben hat. Ähnliches gilt aber auch für die jüngeren Kinder im Kindergartenalter. Von solchen regionalen Gegebenheiten und dem Alter der Kinder abgesehen sind es zum einen Faktoren der Familiensituation (Erwerbssituation, Alleinerziehendenstatus), die den Einbezug eines Kindes in eine Kindertageseinrichtung beeinflussen, aber auch der Bildungsstatus der Eltern, wobei bei höherem Bildungsstatus bei den Kindern im Kindergartenalter wie auch schon bei den unter Dreijährigen die Beteiligungswahrscheinlichkeit an einer institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehung wächst. Bei den Kindern im Kindergartenalter wirkt sich zusätzlich der Migrationsstatus (Nicht-EU-Ausländer) auf die Kindergartenbeteiligung aus. Da durch die vorliegenden Analysen die Nicht- Teilnahme an der Kindergartenerziehung nur unzureichend geklärt werden kann - es gibt Hinweise, dass hierzu auch immerhin 10% der Kinder der älteren Kindergartenjahrgänge zählen -, bedarf es zukünftig differenzierter Forschungsanstrengungen und mehr noch entsprechender Anstrengungen in der Praxis, um gerade diese, aufgrund der vorliegenden Analysen klar als sozial benachteiligt erkannte Gruppe von Kindern möglichst früh und umfassend zu fördern.
- Der gesetzlich festgelegte bedarfsorientierte Ausbau für die unter Dreijährigen erfordert vor allem im Westen eine weitgehende Neuplanung der Angebotsstruktur. Das politische Ziel, bis 2010 für knapp 20% der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zu schaffen, verlangt eine entschiedene Ausbaupolitik. Wenn Tagespflege im Rahmen des Gesamtangebots 30% des Betreuungsbedarfs für unter Dreijährige abdecken soll, kann dies nur mit einem intensiven Ausbau und Aufbau eines qualitativen Angebots gelingen, auch wenn weiterhin darauf gesetzt wird, dass Eltern Tagespflege privat finanzieren und die öffentliche Hand nur die Vermittlung geeigneter Tagespflegepersonen und Beratungsleistungen übernimmt.
- Die Trägerstrukturen in Ost- und Westdeutschland zeigen nach wie vor Unterschiede: Freie Träger haben im Osten zwar deutlich zugenommen, die Situation ist jedoch nicht mit der Dominanz dieser Trägergruppe im Westen vergleichbar. Weitere Träger (z.B. Elterninitiativen, Betriebe) spielen eine geringe Rolle.
- Bezüglich der Alterszusammensetzung bestehender Institutionen liegen zwar keine empirischen Belege für eine förderliche Zusammensetzung der Kindergruppen vor, dennoch geht der Trend in den Kindertageseinrichtungen in Richtung einer weiteren Flexibilisierung und Öffnung der Einrichtungen.
- Die Vielfältigkeit der bestehenden Formen von Tagespflegeverhältnissen ist ein Resultat der hohen Flexibilität von Tagespflege, die auf die spezifischen Betreuungsbedarfe von Eltern und Kindern eingehen kann. Sie macht es jedoch gleichzeitig schwierig, das System Tagespflege insgesamt zu erfassen und zu steuern.
- Es ist unstrittig, dass die pädagogische Qualität in Tagespflege und Tageseinrichtungen verbessert werden muss, soll das Ziel einer frühen Bildung in institutionellen Kontexten zufriedenstellend umgesetzt werden.
- Die auf Kindertageseinrichtungen wie auch die Tagespflege bezogene Qualitätsdiskussion bei Fachwissenschaft, Fachpolitik und Praxis in Deutschland hat die Vielfalt der Komponenten pädagogischer Qualität wie auch ihre Verwobenheit bislang zu wenig im Zusammenhang gesehen, sondern ihr Augenmerk vorwiegend nur auf einzelne Qualitätsmerkmale gerichtet. Dies gilt auch für die aktuelle Diskussion, in der mit einer verbesserten Erzieherinnenausbildung, mit Curricula und Rahmenplänen, Einrichtungskonzeptionen und Kriterienkatalogen für die pädagogische Arbeit vorwiegend nur Merkmale der Orientierungs- und Strukturqualität thematisiert, Merkmale der Prozessqualität jedoch kaum ins Blickfeld gerückt werden. Auch so genannte "Outcomes" bei Kindern wurden in der Vergangenheit kaum berücksichtigt.
- Die Diskussion um die geeigneten und zielführenden Verfahren in der Qualitätssicherung und -entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen. Noch verharren die unterschiedlichen Akteure in der Ausdifferenzierung ihrer jeweils eigenen Konzepte. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Kontroversen zwischen unterschiedlichen Positionen und um eine unterschiedliche "Qualitätspolitik", sondern es zeigt sich, dass viele Fragen offen sind, die sich sowohl auf die Güte der Instrumente als auch die Gestaltung des Prozesses richten.
- Bei einer frühen Betreuung in einer Kindertageseinrichtung muss mit einem deutlich erhöhten Risiko infektionsbedingter Erkrankungen für die Kinder gerechnet werden. Vieles spricht dafür, dass es sich besonders bei den Atemwegserkrankungen um ein vorgezogenes Erkrankungsgeschehen handelt, so dass sich zu Beginn des Schulalters kaum mehr Differenzen in Abhängigkeit der institutionellen Betreuung ausmachen lassen. Mit erhöhten Krankheitsraten ist besonders im ersten halben Jahr nach Beginn der institutionellen Betreuung zu rechnen; dies gilt für Vorschulkinder aller Altersstufen. Bei jungen Kindern, besonders im ersten Lebensjahr, ist dieses Geschehen jedoch besonders ausgeprägt. Im Hinblick auf allergische Erkrankungen hat meist eine frühe institutionelle Betreuung einen protektiven Effekt (Training des Immunsystems). Durch räumliche Gestaltung, gute Belüftung und überlegte Hygienemaßnahmen lassen sich Infektionsrisiken in Kindertageseinrichtungen reduzieren. Ein zentraler Risikofaktor ist die Betreuung von Kindern auf engstem Raum (crowding). Vor diesem Hintergrund dürfte bei sehr jungen und krankheitsanfälligen Kindern eine Tagespflegebetreuung alleine oder in einer Kleingruppe eine Alternative darstellen.
- Das Fehlen von empirischen Studien sowohl für die Tagespflege als auch die Tageseinrichtungen ist eklatant und gibt einen Hinweis auf das halbherzige öffentliche und wissenschaftliche Interesse an der Kinderbetreuung.
- Die Beachtung von Übergängen zwischen den unterschiedlichen Bildungsorten und Lernwelten ist ein vergleichsweise neues Thema für den frühkindlichen Bereich. Bei einer Zunahme der Orte und zuständigen Personen werden Übergänge einerseits selbstverständlicher, bergen andererseits jedoch sowohl Chancen als auch Risiken für den individuellen Bildungs- und Lebensverlauf, die der aufmerksamen Begleitung durch Erwachsene bedürfen.
6. Bildungsangebote im Schulalter
Mit Blick auf die Bildungsprozesse im Schulalter wird eine Vielfalt und Vielzahl von Bildungsorten und Lernwelten sichtbar, die allerdings nicht von allen gleichermaßen genutzt werden. Diese Vielfalt an Gelegenheiten wirft in Bezug auf Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen Fragen nach den Wechselwirkungen in der Wahrnehmung und Nutzung dieser Angebote auf. In Bezug auf deren Organisation stellen sich Fragen nach dem Zusammenspiel der institutionalisierten Bildungsangebote.
Dieses Zusammenspiel für die Bildung aller Kinder und Jugendlichen fruchtbar zu machen und in einer produktiven Weise zu gestalten, kommt wesentlich der Schule sowie der Kinder- und Jugendhilfe zu. Die Kooperation zwischen diesen beiden Institutionen wird so zu einer bildungsrelevanten Aufgabe. An Aktualität gewinnen das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und die Gestaltung eines aufeinander abgestimmten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung durch den Aus- und Aufbau ganztägiger Angebote für Heranwachsende im Schulalter. Dieser Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigen Angeboten markiert einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel in Deutschland mit weitreichenden Implikationen für Schule und Jugendhilfe und wird deshalb als "Projekt Ganztagsschule" bezeichnet. Es stellt in doppelter Weise eine Herausforderung für die Schule und für die Kinder- und Jugendhilfe dar, da ein zügiger quantitativer Ausbau mit der Entwicklung qualitativer Standards in Einklang gebracht werden muss.
Als bildungsbedeutsame und -relevante institutionelle Orte und Angebote werden ausgewählte Leistungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule sowie der sonstigen Lernwelten von Kindern und Jugendlichen im Schulalter in den Blick genommen. In diesem Rahmen geht es darum, das gesamte Spektrum vorhandener Bildungsangebote - auch kommerzielle Angebote und Leistungen - in eine Diskussion um die Weiterentwicklung und Reform öffentlicher Bildung, Betreuung und Erziehung einzubeziehen.
Mit der Jugendarbeit wird ein Bereich der Kinder- und Jugendhilfe thematisiert, der eine explizite, auch gesetzlich verankerte, Bildungsaufgabe hat. Bildungsangebote und -leistungen der Jugendarbeit weisen, im Gegensatz zu vielen formalen Bildungsinstitutionen, einen hohen Grad an Selbstorganisation durch Jugendliche auf. Sie sind durch eine Aneignungs- und Vermittlungsstruktur gekennzeichnet, in der lebensweltliche und sozialräumliche Bedingungen und Gegebenheiten zum unverzichtbaren Bestandteil gehören.
Der Hort als ein weiterer Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe bietet ein erweitertes Bildungsangebot für Kinder im (Grund-)Schulalter, in dem soziales Lernen und Eigenaktivitäten der Kinder eine große Rolle spielen. Er definiert sich dabei als eine Institution, die Defizite schulischer Betreuung und Förderung kompensiert und sich infolgedessen von der Schule konzeptionell abgrenzt. Der Hort versteht sich gleichzeitig aber auch als Ergänzung zur Schule und offeriert Betreuungs- und Förderangebote, die von der Schule selbst nicht bereitgestellt werden.
In der schulbezogenen Jugendsozialarbeit werden explizite Bildungsangebote sowie kompensatorische Leistungen für schulpflichtige Kinder und Jugendliche erbracht, um diese im Fall von Lern- und Schulschwierigkeiten zu unterstützen. Schulbezogene Jugendsozialarbeit hat deshalb den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen in benachteiligten und erschwerten Lebenslagen als Maßstab und Kriterium ihrer Bildungsangebote und -leistungen. Ein weiterer Bezugspunkt ist der erfolgreiche Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeit.
Schule als formaler Bildungsort wird in diesem Kapitel ebenfalls in Bezug auf ihre Struktur und ihre Leistungen dargestellt. In ihrer allgemeinbildenden Form hat sie den Anspruch, Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu vermitteln. Dennoch bestehen im deutschen Schulsystem erhebliche Unterschiede in der Förderung von Heranwachsenden unterschiedlicher sozialer Herkunft. So ist das Prinzip der Chancengleichheit in der Schule noch längst nicht verwirklicht; im Gegenteil, herkunftsbedingte Benachteiligungen werden vom deutschen Schulsystem durch Benachteiligungen in der Bildungslaufbahn noch verschärft.
Neben der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule sind für die Bildung von Kindern und Jugendlichen im Schulalter auch andere Lernorte von Bedeutung, denen bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, sei es, weil sie übersehen oder als irrelevant betrachtet wurden, sei es, weil sie als privatgewerblich organisierte in ihrer möglichen Wirkung unterschätzt wurden. Als Lernorte und -gelegenheiten werden exemplarisch u.a. Fitnessstudios, Schülerjobs und Auslandsaufenthalte in den Blick genommen, da nicht die Rechtsform darüber entscheidet, ob und inwieweit Lernorte für Kinder und Jugendliche relevant sind.
Schule und Jugendhilfe repräsentieren unterschiedliche Formen von Bildungsangeboten und Bildungsleistungen. In der Jugendhilfe selbst betonen Jugendarbeit, Hort und schulbezogene Jugendarbeit unterschiedliche Akzente und Schwerpunktsetzungen. Damit ist zwar einerseits eine Vielfalt von öffentlichen Bildungsangeboten gegeben, sie stellt jedoch auch hohe Anforderungen an eine Organisation des Zusammenspiels. Hinzu kommt, dass Schule und Jugendhilfe über völlig ungleiche personelle und finanzielle Ressourcen verfügen. Bildungspolitische Vorstellungen, wie ein konsistentes System von Bildung, Betreuung und Erziehung aufgebaut werden kann, haben ihre Plausibilität im Hinblick auf diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu erweisen.
Das Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten muss angesichts der Pluralität und Heterogenität von Lebenslagen so beschaffen sein, dass unterschiedliche Bildungsangebote und Lernformen mit ihrem jeweiligen Eigensinn allen Kindern und Jugendlichen Differenzerfahrungen ermöglichen. Dies erfordert Zugänge zur Welt durch unterrichtliche Repräsentation ebenso wie in der direkten Begegnung, Auseinandersetzung und Einmischung. Das Zusammenspiel von Bildungsangeboten und Lernwelten ist deshalb darauf anzulegen, Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Kulturen, Weltdeutungen, Traditionen, Einstellungen und Orientierungen nahe zu bringen und ihnen zu ermöglichen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Erforderlich sind Anregungen und Gelegenheiten, in diesen Begegnungen neue Perspektiven übernehmen, Haltungen ausprobieren und Differenzen und Unterschiede aushalten zu können.
Ein produktives Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten ist nur möglich, wenn es vor Ort in erreichbarer Nähe ein differenziertes, quantitativ gut ausgebautes und qualitativ anspruchsvolles Angebot gibt, das eine Grundversorgung für alle gewährleistet. Für diese Leistungen sind an erster Stelle öffentliche Institutionen zuständig. Bund und Länder haben dabei die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, um regionale Disparitäten auszugleichen. Den Kommunen kommt indes eine organisierende und gestaltende Funktion bei der Schaffung eines differenzierten Angebots in einer pluralen lokalen Bildungslandschaft zu. Schule und Jugendhilfe müssen diese Grundversorgung gewährleisten können und andere Anbieter als Akteure in das Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten einbeziehen.
Kooperation bedeutet dann, in einem gemeinsamen Prozess bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln, d.h. Bildungsangebote im Sinne einer professionellen Dienstleistung zu erbringen, die alle Kinder und Jugendliche, gleich welcher Herkunft und sozialen Lage, als Ko-Produzenten ihrer Bildungsprozesse einbezieht. In diesen Prozess können und müssen vom Grundsatz her alle Aufgabenbereiche und Handlungsfelder von Jugendhilfe und Schule einbezogen werden. Damit Kooperation nicht mehr nur in den Randbereichen der Institutionen, sondern in ihrem Zentrum erfolgt, sind durch Schule und Jugendhilfe geeignete Strukturen zu schaffen. Es bedarf einer kommunalen Bildungsplanung, in deren Rahmen Leitvorstellungen in einem offenen Diskussionsprozess erarbeitet werden, Maßnahmen und Verfahren zur Erreichung der Ziele etabliert werden sowie regelmäßige und datenbasierte Formen der Überprüfung und Veränderung der gewählten Strategien durchgeführt werden. Planung kann sich nicht nur auf Strukturplanung beschränken, sie muss als ressortübergreifende Bildungsplanung auch fachlich-inhaltliche Fragen in den Bereichen von Schule und Jugendhilfe umfassen.
Die Gestaltung von Angeboten durch die Schule sowie durch die Kinder- und Jugendhilfe erfolgt in dem Projekt Ganztagsschule unter besonderen Voraussetzungen und unter spezifischen Rahmenbedingungen. Mit dem Investitionsprogramm des Bundes und den Programmen der Länder ist ein starker Anstieg von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigen Angeboten zu verzeichnen, und es ist eine Bewegung entstanden, die Chancen für weitreichende bildungspolitische Reformen eröffnet.
Bei den neuen Ganztagsschulen überwiegen offene Formen, in denen die Teilnahme für die Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb freiwillig, nach der Anmeldung durch die Eltern allerdings in der Regel für ein Jahr verpflichtend ist. Diese Konstruktion führt dazu, dass Schulen mit ganztägigen Angeboten bisher häufig in einer additiven Form organisiert sind, bei dem der Vormittag und die Organisation der Lehrerarbeit weitgehend unberührt bleiben und lediglich für einen Teil der Schülerschaft um ein zusätzliches Angebot am Nachmittag ergänzt werden. Verstärkt wird diese Zweiteilung, wenn der Nachmittagsbereich von einem außerschulischen Träger organisiert wird, Kooperationen zwischen Schule und Träger lediglich auf formale Absprachen und Organisationsfragen beschränkt sind und pädagogische Fragen und Themen nicht in einem kontinuierlichen fachlichen Austausch erörtert werden.
Auch wenn die Kinder- und Jugendhilfe im Vergleich zur Schule über deutlich weniger Ressourcen verfügt, kann sie doch wichtige Akzente bei der Gestaltung von Ganztagsschulen bzw. von Schulen mit ganztägigen Angeboten setzen. Sie sollte sich deshalb offensiv in diesen Prozess einbringen. Dazu muss sie klären, in welcher Form, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen dies möglich ist und wo ihre Grenzen liegen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Ausgangsbedingungen in den jeweiligen Leistungsbereichen der Jugendhilfe sehr unterschiedlich darstellen.
Der Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigen Angeboten in Kooperation von Schule und außerschulischen Trägern bietet die Chance, nicht nur eine neue pädagogische Kultur an der Schule zu entwickeln, sondern generell zu einem neuen System von Bildung, Betreuung und Erziehung beizutragen. Dabei ist insbesondere das Zusammenwirken von Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe geeignet, starre Strukturen, überkommene Traditionen und nicht mehr zeitgemäße Konzepte und Organisationsformen zu überwinden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Unterschiede und Differenzen bezogen auf den Auftrag, das Selbstverständnis sowie die Arbeits- und Organisationsformen zwischen Schule und Jugendhilfe nicht zum Anlass genommen werden, sich voneinander abzugrenzen. Vielmehr muss es als Herausforderung begriffen werden, in der Unterschiedlichkeit die jeweiligen Stärken und Zuständigkeiten zu akzeptieren und gemeinsam an der Entwicklung einer neuen pädagogischen Kultur mitzuwirken.
Teil D: Zukunftsperspektiven für ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung
7. Auf dem Weg zu einem abgestimmten System von Bildung, Betreuung und Erziehung. Quantitative und qualitative Perspektiven
Im Lichte des hier vorgelegten Berichts werden abschließend seine konzeptionellen Grundlagen zusammengefasst sowie einige wesentliche Eckwerte bilanziert. Hierauf aufbauend werden zukunftsweisende Rahmenüberlegungen mit Blick auf den anstehenden politischen Gestaltungsbedarf entwickelt. Dabei werden zukunftsfähige Ziele jenseits der tagesaktuellen Machbarkeit markiert, die von Politik und Öffentlichkeit im Auge behalten werden sollten.
(a) Konzeptionelle Grundlagen erschließen sich anhand von fünf Leitlinien, die sich aus dem vorliegenden Bericht ergeben und das Konzept einer umfassenden öffentlichen Unterstützung und Ergänzung von Familien in ihren Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsleistungen skizzieren.
- Im Mittelpunkt stehen der Lebenslauf und die Bildungsbiografie der Kinder. Nicht die Erfordernisse und Interessen der einzelnen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssysteme sind zentrale Ausgangspunkte bei den Überlegungen zu einer Um- und Neugestaltung des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems, sondern die Wirkungen, die sie unter der Zielsetzung erreichen, die Heranwachsenden bei der Entwicklung zu handlungsfähigen, kompetenten, sozialen und verantwortlichen Personen zu unterstützen.
- Ausgangspunkt ist die Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung. Da in der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen Bildung, Betreuung und Erziehung miteinander verwoben sind, ist das zukünftige Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot aufeinander abzustimmen, so dass die Dimensionen "Bildung", "Betreuung" und "Erziehung" zu systematischen Bestandteilen von pädagogischen Konzepten und praktischem Handeln werden.
- Grundlegend ist ein erweitertes Bildungsverständnis mit einer Vielfalt von Orten, Gelegenheiten und Inhalten. In Anbetracht der Relevanz sowohl eines lebensweltlichen als auch eines organisierten Lernens sind möglichst umfassend alle Orte einzubeziehen, in denen sich faktisch Bildungs- und Lernprozesse vollziehen.
- Es besteht eine öffentliche Gesamtverantwortung für eine "Bildung für alle". Zu verankern ist der Anspruch auf Chancengerechtigkeit und ein partizipatives Bildungsverständnis. Die Bedeutung von Bildung als Gemeinschaftsaufgabe ergibt sich vor dem Hintergrund, alle Kinder und Jugendlichen den Herausforderungen der Zukunft entsprechend zu qualifizieren, herkunftsbedingte ungleiche Ausgangsbedingungen auszugleichen und die junge Generation zu befähigen, dass sie am gesellschaftlichen Geschehen möglichst eigenständig teilnehmen und verantwortlich mitwirken kann. Erforderlich ist ein partizipatives und ein individuell orientiertes Bildungskonzept.
- Anzustreben sind tragfähige Zukunftskonzepte von Bildung, Betreuung und Erziehung in einem verbesserten Zusammenspiel sowie einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft aller bildungs- und lernrelevanten Akteure. Erforderlich sind aufeinander abgestimmte, ergänzende Angebote sowie ein ganztägiges, verlässliches Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot, in das Eltern als kompetente Partner akzeptiert und die jungen Menschen als Mitgestaltende und Mitverantwortliche einbezogen werden. Hierzu bedarf es der Anstrengung auf allen föderalen Ebenen und unter Einbeziehung aller wichtigen gesellschaftlichen Akteure.
(b) Vor dem Hintergrund der Leitlinien ergeben sich Eckwerte für den Ausbau und für Reformen von Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der Zielvorstellung, dass ein konsistentes und qualitativ hochwertiges System ganztägiger Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote für Kinder und Jugendliche erforderlich ist. Sie beziehen sich auf die Relevanz der Familie als Bildungswelt - insbesondere in den ersten Lebensjahren -, auf die Erweiterung der Erfahrungs- und Sozialwelten von Kindern bereits ab dem zweiten Lebensjahr sowie auf die Gestaltung der Orte und Gelegenheiten für Bildung und Lernen für Kinder und Jugendliche im Schulalter. Deutlich wird, dass eine Beschränkung des Ausbaus von Angeboten auf bestimmte Altersgruppen, soziale Statusgruppen, Regionen oder Bildungsgänge nicht plausibel begründet werden kann, dass aber die Förderung von Lern- und Bildungsprozessen heißt, derartige Besonderheiten und Differenzen durch institutionelle Gestaltung zu berücksichtigen. Die Erreichung sowohl quantitativer als auch qualitativer Aus- bzw. Umbauziele wird nicht ohne Veränderungen der Schule sowie der Kinder- und Jugendhilfe möglich sein. Deswegen sind - auch mit dem Wissen, dass derartige Prozesse Zeit brauchen - frühzeitig Akzente zu setzen, damit in diesen beiden Systemen innere und äußere Reformen eingeleitet werden können.
(c) Die Beschreibung der Eckwerte im Bereich der Kindertagesbetreuung und der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule mündet in die Formulierung von Empfehlungen. Sie bündeln zentrale, politikrelevante Entwicklungserfordernisse, ohne Anspruch auf eine vollständige Auflistung aller im Bericht erwähnten Einzelempfehlungen zu erheben.
Empfehlungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit
1. Die Möglichkeiten zu Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder im ersten Lebensjahr innerhalb der Familie müssen öffentlich unterstützt werden. Ziel ist es, unzumutbare Einbrüche im Haushaltsnettoeinkommen zu vermeiden und die Erziehungskompetenz der Familie zu stärken. Aufzubauen und weiter zu entwickeln sind Netzwerke zur Elternbildung und zur Unterstützung von Familien.
2. Der Rechtsanspruch auf eine öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung sollte auf Kinder unter drei Jahren erweitert werden. Dies gilt sowohl für die Kindertagesbetreuung als auch die Tagespflege. Für Kinder ab dem vollendeten zweiten Lebensjahr sollte Bildung, Betreuung und Erziehung vorwiegend in Gruppen erfolgen. Zur Realisierung des Rechtsanspruchs wird vorgeschlagen, bis zum Jahr 2008 alle zweijährigen Kinder in den erweiterten Rechtsanspruch einzubeziehen und diesen bis spätestens 2010 auf alle unter dreijährigen Kinder auszuweiten.
3. Der Rechtsanspruch auf ein Platzangebot in Kindertagesbetreuung ist auf Ganztagsplätze auszuweiten. Dabei sollte die tägliche Betreuungszeit für bis sechsjährige Kinder fünf zusammenhängende Stunden nicht unterschreiten und entsprechend dem elterlichen Bedarf ein ganztägiges Angebot gewährleistet werden.
4. Der Bildungsanspruch muss in allen öffentlich verantworteten Formen der Kindertagesbetreuung für Kinder aller Altersgruppen beachtet werden. Alle Kinder haben Anspruch auf individuelle Förderung in allen Bildungsbereichen entsprechend den Rahmenplänen der Länder. Der Bildungsanspruch ist - auch für unter drei Jahre alte Kinder in Tageseinrichtungen und in Tagespflege - weiter zu entwickeln und entwicklungsgemäß umzusetzen.
5. Frühe Bildungsförderung muss für Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihrer Lebenslage realisiert werden. Der frühe Zugang zu öffentlich geförderten Angeboten ist über Beratungs- und Unterstützungssysteme explizit auch für Kinder mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Schichten zu erleichtern.
6. Qualitätssicherung ist eine zentrale Aufgabe in allen Formen öffentlich verantworteter Kindertagesbetreuung. Erforderlich ist eine Qualitätssteuerung, die sowohl ein internes Qualitätsmanagement der Träger als auch ein externes, von Trägern und Finanzgebern unabhängiges, nach bundeseinheitlichen Kriterien arbeitendes Qualitätssicherungssystem beinhaltet.
7. Es ist ein öffentlich verantwortetes Bildungs- und Qualitätsmonitoring im Vorschulalter einzuführen. Bildungsstandsmessungen beim Übergang in die Grundschule sowie individuelle Bildungs- und Entwicklungsdiagnosen bei Drei- bis Vierjährigen sollen ermöglichen, dass allen Kindern, insbesondere aber den von Benachteiligung bedrohten sowie jenen mit besonderen Begabungen, individuelle Förderung angeboten werden kann. Das Qualitätsmonitoring beinhaltet eine regelmäßige Berichterstattung über Qualitätsindikatoren in verschiedenen Bereichen und deren Veränderung.
8. Das durchschnittliche Schuleintrittsalter von gegenwärtig über 6,5 Jahren ist auf 6,0 Jahre abzusenken. Vorzusehen ist eine Ausweitung des Früherziehungssystems auf jüngere Altersjahrgänge und eine stärkere Bildungsorientierung der Kindertageseinrichtungen in Verbindung mit einer flexiblen Einschulung. Anzustreben ist eine moderate Vorverlegung des Schuleintrittsalters bis 2010 um bis zu sechs Monate.
9. Öffentlich verantwortete Kindertagesbetreuung muss kostenfrei werden. Beiträge der Eltern sind mit Blick auf den Bildungsauftrag abzulehnen.
Empfehlungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung im Schulalter
1. Die Realisierung eines umfassenden Bildungskonzepts setzt eine grundlegende Veränderung der Schule sowie ein Zusammenspiel von Schule und anderen Bildungsorten und Lernwelten voraus. Schule muss zu einem Ort umfassender Gelegenheiten und vielfältiger Anregungen für Bildung werden. Dazu sind am Ort Schule lebenslagen- und altersspezifische Leistungen und Angebote der Jugendhilfe und anderer Bildungsträger einzurichten und vorzuhalten.
2. Der umfassende gesellschaftliche Anspruch auf Bildung erfordert ganztägige Angebote für Kinder und Jugendliche im Schulalter. Sie sind schnellstmöglich und bestmöglich auf- und auszubauen. Ziele sind ein flächen- und bedarfsdeckendes Angebot sowie eine grundlegende pädagogische Reform der Schule mit einer Rhythmisierung des Tagesablaufs und der Einbeziehung alternativer Lernformen. Für ihre Entwicklung kommen der Schule sowie der Kinder- und Jugendhilfe verantwortliche und strukturierende Funktionen zu.
3. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten muss zu einer erweiterten Kompetenzentwicklung beitragen. Schwerpunkt muss die Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten sein. Lebensweltbezogene Leistungen und selbst organisierte Formen der Jugendhilfe sind unabhängig von Schule in ihrem Eigensinn zu erhalten, und professionelle Dienstleistungen, Beratungs- und Unterstützungsangebote der Jugendhilfe sind stärker auf das System ganztägiger Bildung, Betreuung und Erziehung zu beziehen.
4. Maßstab des Aus - und Umbaus ganztägiger Angebote muss die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen sein. Anstelle von Klassenwiederholungen und schulischer Selektion bei Leistungsunterschieden ist eine alters-, entwicklungs-, geschlechts- und lebenslagengerechte individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen erforderlich. Zu überdenken ist, ob der grundständige gemeinsame Schulbesuch von Schülern und Schülerinnen verlängert werden sollte.
5. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten muss strukturell und personell gesichert werden. Sowohl auf Seiten der Schule als auch der Jugendhilfe sind organisatorische und strukturelle Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit zu schaffen. Darüber hinaus sind weitere außerschulische Akteure, wie z.B. Vereine und Verbände sowie Institutionen der Kultur und die Wirtschaft als Kooperationspartner einzubeziehen. In jedem kommunalen Jugendamt sollte ein eigener Arbeitsbereich "Jugendhilfe und Schule" eingerichtet werden, der die Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers in diesem Feld angemessen wahrnimmt.
6. Ganztagsschulen und ganztägige Angebote sollten von multiprofessionellen Teams mit einem aufgabenangemessenen Qualifikationsprofil aufgebaut und verantwortet werden. Erforderlich ist eine neue Form der Kooperation von Lehrpersonal und sozialpädagogischen Fachkräften. Dazu gehören ein neues Verständnis von Lehrerarbeit im Verhältnis von Unterricht und anderen Aufgaben, längere Präsenzzeiten in der Schule sowie die Einrichtung individualisierter Lehrerarbeitsplätze in der Schule. Im Rahmen der Ausbildung ist bei den Lehrkräften auf die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe, bei den sozialpädagogischen Fachkräften intensiver auf Bildungsaufgaben im Rahmen ganztägiger Angebote vorzubereiten.
7. Die Entwicklung von Ganztagsschulen erfordert eine größere Selbständigkeit der Einzelschule und eine stärkere Vernetzung im Sozialraum. Der Aufbau ganztägiger Bildungsangebote setzt eine größere Autonomie der Einzelschule voraus. Zudem muss Schulentwicklung zu einer Entwicklung der Schullandschaft im kommunalen Raum zum Zweck der Einbindung von Schulen in sozialräumliche Netzwerke beitragen.
Empfehlungen im Lichte der Herausforderungen für ein neues System von Bildung, Betreuung und Erziehung
Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf das Kindes- und Jugendalter insgesamt.
1. Das Zusammenspiel und die Abstimmung der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote für Kinder und Jugendliche sind zu verbessern. Mehr vernetzte Angebote für Kinder und Eltern aus einer Hand, "Häuser für Kinder" bzw. "Häuser für Familien", eine wechselseitige Anbindung von Kindergarten und Schule sowie aufeinander abgestimmte schulische und nicht-schulische Angebote können dazu beitragen, dass die unterschiedlichen Lebens- und Lernwelten der Kinder enger verzahnt werden. Damit Stabilität und Verlässlichkeit in einem solchen System gesichert und die bestmögliche Förderung von Kindern erreicht wird, ist eine Entscheidungskompetenz vor Ort von maßgeblicher Bedeutung.
2. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsakteure und -gelegenheiten ist sozialräumlich auszugestalten und in kommunaler Verantwortung zu organisieren. Ziel ist der Aufbau einer kommunalen Bildungslandschaft als Infrastruktur für Kinder und Jugendliche, die getragen wird von Leistungen und Einrichtungen der Schule, der Kinder- und Jugendhilfe, von kulturellen Einrichtungen, Verbänden und Vereinen, Institutionen der Gesundheitsförderung sowie von privaten und gewerblichen Akteuren vor Ort. Ein vernetztes und verbindliches Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsakteure erfordert größere Selbständigkeit und mehr Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Institutionen, insbesondere auch der Einzelschule.
3. Kommunale Bildungsplanung ist als integrierte Fachplanung aufzubauen. Verengungen und Begrenzungen der Teilsysteme Kinder- und Jugendhilfe sowie Schule sind zugunsten eines konsistenten kommunalen Gesamtsystems für Bildung, Betreuung und Erziehung zu überwinden. Dazu sind kommunale Jugendhilfeplanung und Schulentwicklungsplanung zu integrieren sowie mit der Sozialplanung und der Stadtentwicklungsplanung abzustimmen. Zentraler Akteur einer solchen Bildungsplanung muss die Kommune sein. Zu prüfen ist, inwieweit sich - gegebenenfalls noch weiter zu entwickelnde - partizipative Modelle der Jugendhilfeplanung auf integrierte Formen der Planung - unter Beteiligung auch privater Anbieter - übertragen lassen.
4. Kommunale Bildungslandschaften erfordern eine neue Abstimmung und eine neue Justierung der rechtlichen Regelungen. Kommunen müssen als zentrale Akteure kommunale r Bildungsplanung stärker bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Schulen beteiligt werden. Auf Länder- und Bundesebene ist eine intensivere Kooperation zwischen Bildungs- und Jugendministerien erforderlich.
5. Der Ausbau ganztägiger Angebote erfordert zusätzliche finanzielle Anstrengungen und eine Anpassung der Finanzierungsstrukturen. Der Ausbau von Ganztagsplätzen in der Kindertagesbetreuung sowie von Ganztagsschulen erfordert höhere Personalkosten und zusätzliche Mittel für Infrastrukturmaßnahmen. Die höheren Kosten für ganztägige Angebote im Schulalter können durch die Einbeziehung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nur bedingt kompensiert werden und auch Elternbeiträge stellen keinen akzeptablen Finanzierungsweg dar. Angesichts der prekären Finanzlage vieler Kommunen sind Möglichkeiten des finanziellen Ausgleichs zu schaffen. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sind als Teil einer kommunalen Bildungslandschaft stärker einzubeziehen und unter Beteiligung der Länder sowie, wo dies verfassungsrechtlich möglich ist, des Bundes zu finanzieren.
6. Die Aus - und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte muss reformiert werden. Die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern ist auf Hochschulniveau anzuheben. In der Aus- und Weiterbildung von Sozialpädagogen bzw. Sozialpädagoginnen und Lehrkräften an Hochschulen ist der Bildungsbezug generell zu stärken, auf die Kooperation mit anderen Berufsgruppen vorzubereiten, und interdisziplinäre und institutionenübergreifende Perspektiven sind zu integrieren. Erforderlich sind gemeinsame Studienanteile für das Lehramts- und das Sozialpädagogikstudium.
7. Planung und Steuerung muss auf der Basis gesicherten Wissens erfolgen. Angestrebt werden muss ein systematischer Auf- und Ausbau eines Systems zur Qualitätsentwicklung und -steuerung aller Angebote unter Beachtung der im vorliegenden Bericht entwickelten Kriterien. Notwendig sind als Grundlagen zur Bewertung und zur Verbesserung des angestrebten integrierten Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungskonzepts zudem eine Systematisierung und Qualifizierung von Daten und Instrumenten einer bildungsbezogenen Sozialberichterstattung bei Bund, Ländern und Gemeinden.
8. Die empirische Bildungsforschung ist auf vor- und außerschulische Bereiche auszuweiten. Die Kinder- und Jugendhilfestatistik ist über Einrichtungen hinausgehend auf Personen auszuweiten. Zusätzlich zur statistischen Routineberichterstattung besteht Forschungsbedarf hinsichtlich unabhängiger quantitativer Evaluationsstudien, qualitativer Fallstudien zu Best-Practice-Modellen, vergleichender experimenteller Interventionsstudien zu den Effekten ganztägiger Bildung, Betreuung und Erziehung sowie hinsichtlich einer verstärkten, einem breiten Bildungsbegriff verpflichteten empirischen Bildungsforschung. Zusätzlich sind Modellversuche einzurichten und unabhängig zu evaluieren, um eine umfassende flächendeckende Einführung ganztägiger Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote vorzubereiten. Die einschlägigen öffentlich erhobenen Daten sind der Re-Analyse von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in datenschutzrechtlich einwandfreier Weise zur Verfügung zu stellen.
Quelle
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/ Pdf-Anlagen/zwoelfter-kjb,property=pdf.pdf