Zitiervorschlag

Montessori-Pädagogik und die Diagnostik besonderer kindlicher Bedürfnisse

Ingeborg-Becker-Textor


Beginnen möchte ich mit einem Zitat Maria Montessoris, aus einem Vortrag 1946 in London: "Es gibt viele Fehler im Benehmen der Kinder, welche die Leute korrigieren wollen. Dieses besondere moralische Benehmen nennt man bei all den kleinen Kindern "Unartigkeit". Diese Unartigkeit ist aber nicht eine wirkliche sittliche Frage. Heutzutage nennen wir diese Kinder nicht "böse", sondern "schwierig". Es handelt sich um ein modernes Problem. Dieses Problem der schwierigen Kinder ist fast unlösbar. Der gute Wille der Eltern und der Lehrer berührt die Unartigkeit dieser schwierigen Kinder nicht. So hat sich eine andere Gruppe von Leuten erhoben, um eine Antwort auf diese praktische Schwierigkeit in der modernen Gesellschaft zu geben: Da gibt es Psychologen. Diese Psychologen haben besondere Institute gegründet, die man Child Guidance Clinics (vergleichbar mit Erziehungsberatungsstellen) nennt. Die neue Idee ist Führung, nicht Zwang... Diese unverbesserlichen Unarten sind wie Krankheiten. Die Eltern und der Lehrer können nichts tun und auch der Arzt nicht, denn die schwierigen Kinder werden immer zahlreicher. In den alten Tagen war die Frage nicht so wichtig, weil die Kinder durch Strafen unterdrückt wurden; aber heutzutage ist es wie eine Überschwemmung. Es ist als ob die Themse, dieser schöne Fluss, über die Ufer trägt. Das würde ein Unglück sein. Die Zahl ungezogener, unverbesserlicher Kinder vermehrt sich in unserer heutigen Welt, und die Erwachsenen beginnen, hilflos zu werden. Jedermann versucht, den Grund für diese Schlechtigkeit in den Kindern zu finden. Wir dürfen aber nicht denken, dass 1946 die Kinder plötzlich schlimmer sind. Es handelt sich nicht um ein Ergebnis der Evolution. Die Kinder dürften ungefähr die gleichen sein, wie sie immer gewesen sind. Es handelt sich also nicht um den Fehler der Kinder. Es handelt sich nicht um eine Frage, die nur die Kinder betrifft. Die Lebensbedingungen der Kinder scheinen heutzutage besser zu sein denn je ...

Die Ursache muss im Mangel eines wesentlichen Elements des Lebens liegen. Wir müssen versuchen, dieses fehlende Element zu finden. Das ist die Forschung, die heute notwendig ist, um jedem helfen zu können. Dieses fehlende Element muss etwas Psychologisches sein, das man entweder nicht weiß oder das man nicht beachtet...

Es muss so sein, dass in der Behandlung von Kindern überall und in bezug auf jedes Alter etwas fehlt. Wir müssen ein neues Element in Betracht ziehen. Vielleicht hat sich das Verhältnis des Menschen in dieser komplizierten Welt geändert, vielleicht lässt er etwas Fundamentales außer Acht, das Familienleben ist anders geworden, und die Kinder sind die ersten Opfer dieser Nichtbeachtung. Wir müssen Kinder einmal von diesem Gesichtspunkt aus betrachten...

Der Fortschritt und das Wachstum des Individuums sind sehr wichtig. Fortschritt liegt in der Fürsorge für die Psyche des Individuums in seiner Beziehung zur Umgebung. Es handelt sich nicht darum, zuerst etwas für das Individuum zu tun und dann etwas für die Gesellschaft; denn die Wurzeln liegen in der Gesellschaft. Wir müssen das Individuum an seinen Platz in der Gesellschaft sehen, denn kein Individuum kann sich ohne den Einfluss der Gesellschaft entwickeln...

Wenn ich sehe, wie die Zahl von unartigen und schwierigen Kindern sich heutzutage vermehrt, so erkenne ich, dass es sich nicht um eine Frage der Moral der Kinder handelt, um etwas schlechtes im Innern individueller Kinder. Es handelt sich um eine Frage, wie die Welt um die Kinder herum sie beeinflusst. Es handelt sich mehr um einen Mangel bei den Eltern als bei den Kindern, und man sollte mehr Aufmerksamkeit auf sie verwenden als auf die kleinen Kinder. Wenn wir bessere Bedingungen für die Kinder herstellen wollen, so müssen wir an die Eltern denken. Es handelt sich um drei Dinge: Zunächst darum, dass man diese Erwachsenen ändert, die so darum besorgt sind, kleinen Kindern eine moralische Erziehung zu geben. Die Erwachsenen selbst müssen sich den Notwendigkeiten der Zeit anpassen. Der zentrale Punkt für die kleinen Kinder ist ihr Bedürfnis, in einer bestimmten Hinsicht auf die Erwachsenen zuzugehen. Erwachsene sind unwissend und sehen die Kinder nur von einem Gesichtspunkt aus. Sie sehen nur die Unartigkeit der Kinder. Der Schluss daraus ist also, dass, wenn wir eine bessere Menschheit haben wollen, die Erwachsenen besser sein müssen. Sie müssen weniger stolz sein, weniger an sich selbst denken, weniger diktatorisch sein. Die Erwachsenen müssen auf sich selbst sehen und sagen: "Ja, ich verstehe dieses Problem" (Maria Montessori "Spannungsfeld Kind - Gesellschaft - Welt, Herder Verlag Freiburg 1979).

Mit diesem Text fordert Maria Montessori uns auf, die Kinder besser zu beobachten, aber gleichzeitig auch die Erwachsenen, hier insbesondere die Eltern, zu unterstützen und ihnen notwendige Hilfen zu geben, damit sie ihren Erziehungsauftrag erfüllen können.

Kinder sind nicht von Geburt an unartig oder auffällig. Schädliche Einflüsse, gesellschaftliche Zwänge, überforderte Eltern ungeeignete Erziehungsstile usw. lassen Kinder zu Störenfrieden werden.

In ihrer Pädagogik legt Maria Montessori besonderen Schwerpunkt auf folgende Kernpunkte, die sich wie ein roter Faden durch ihre Gedanken ziehen. Ich stelle hier nur die vor, die für die Diagnostik und Behandlung auffälliger Kinder von Bedeutung sind:

Soweit einige ausgewählte Grundprinzipien.

Montessori setzt ihre Schwerpunkte auf die Vorbereitung der Umgebung durch den Erwachsenen, die Beobachtung des kindlichen Verhaltens und seiner Lernschritte sowie auf den neuen Lehrer, die neue Lehrerin oder gar den neuen Erwachsenen. Damit gibt sie uns Anregungen für die Gestaltung des Lernumfeldes, aber auch zur Wahrnehmung und zur Diagnostik. Was wir durch Wahrnehmung erkennen, lassen wir wieder einfließen in die vorbereitete Umgebung. In der Praxis bedeutet dies, dass wir, wenn wir beispielsweise feststellen, dass ein Kind mit einem Material nicht zurecht kommt oder die Stufe des Materials noch zu schwierig ist, dieses durch eine leichtere Stufe ersetzen.

Für die Einführung und Anwendung ihrer Materialen entwickelte Montessori ihre 3-Stufen-Lektion:

  1. Das Wahrnehmen: Das Kind soll mit den Sinnen das Material wahrnehmen und seine Sinneseindrücke beschreiben. Die Erzieherin macht zu dem jeweiligen Gegenstand nur eine relativ kurze Aussage. (Das ist...)
  2. Verbindung von Gegenstand und Namen: Das Kind erkennt das Material wieder, es hat das Wahrgenommene also wirklich erfasst. (Gib mir)
  3. Sicherer Gebrauch des Materials: Auf die Frage der Erzieherin hin kann das Kind das Material beschreiben und selbstständig damit arbeiten. (Was ist das?).

Ein wichtiges Prinzip der Montessori-Pädagogik ist ihr Ansatz, dass das Kind in Freiheit und unabhängig vom Erwachsenen selbstständig lernen kann, in dem es fordert: "Hilf mir, es selbst zu tun". Und damit ist gemeint, dass das Kind fordert, dass der Erwachsene ihm zwar zeigt wie es geht, aber die Aufgabe oder das Problem nicht für das Kind löst. Vielmehr will das Kind es selbst tun. Dazu bedarf es neben genauer Beobachtung durch den Erwachsenen auch Geduld. Denn die Wege des Kindes sind oft verschlungen, sind Umwege und dauern wesentlich länger. Durch die Ungeduld des Erwachsenen und die Zielgerichtetheit seines Denkens möchte er das Kind vor Fehlern bewahren. Aber jedes Material zeigt den fehlerhaften Umgang dem Kind selbst auf. Das Kind setzt sich eigenständig damit auseinander und sucht seine Lösung.

Maria Montessori ist der Auffassung, dass wir Erwachsenen die häufigsten Verursacher kindlichen Fehlverhaltens sind. Meist ist unsere Ungeduld daran schuld, aber auch das mangelnde Verständnis für all das, was im Kind vorgeht. Dies lässt sich aufzeigen an ihren Gedanken zum Laufen und Erforschen:

"Betrachten wir das zweijährige Kind und sein Bedürfnis zu laufen. Es ist natürlich, dass es die Neigung zum Laufen zeigt. In ihm bereitet sich der Mensch vor, und es müssen sich alle wesentlichen und menschlichen Fähigkeiten herausbilden. Ein zweijähriges Kind ist in der Lage, zwei oder drei Kilometer zu laufen und, wenn es ihm gefällt, zu klettern. Die Schwierigkeiten, die es auf seiner Wanderung antrifft, sind das Interessante für das Kind. Man muss sich darüber klar werden, dass das Laufen für das Kind eine ganz andere Bedeutung hat als für uns. Die Vorstellung, dass das Kind keinen langen Weg zurücklegen kann, beruht darauf, dass wir verlangen, das Kind soll so schnell laufen wie wir. Das ist aber genauso sinnlos, als wollten wir zum Beispiel im gleichen Tempo mit einem Pferd laufen, bis wir atemlos sind, und dies dann zu uns sagt: "Das nützt nichts, steig auf, wir laufen zusammen weiter bis dorthin". Aber das Kind möchte gar nicht bis dorthin, es möchte einfach laufen; und da seine Beine in keinem Verhältnis zu den unseren stehen, darf nicht das Kind uns, sondern müssen wir ihm folgen. Die Notwendigkeit, dem Kind zu folgen, scheint in diesem Fall klar zu sein. Man darf aber nicht vergessen, dass dies Regel für die Erziehung kleiner Kinder auf jedem Gebiet ist. Das Kind hat seine Entwicklungsgesetze und wollen wir ihm bei seinem Wachstum helfen, dürfen wir uns ihm nicht aufdrängen, sondern müssen ihm folgen. Es läuft nicht mit den Beinen, sondern auch mit den Augen. Es wird durch die interessanten Dinge, die es umgeben, vorwärts getrieben. Es läuft, sieht ein Lamm weiden, setzt sich daneben und beobachtet es, dann steht es auf und geht ein Stückchen weiter... sieht eine Blume und riecht daran ... dann sieht es einen Baum, gelangt bis zu ihm, läuft vier- fünfmal um ihn herum, setzt sich hin und beschaut ihn. Auf diese Weise kann es ganze Kilometer hinter sich bringen. Diese Spaziergänge sind durch Ruhepausen unterbrochen und gleichzeitig voller interessanter Entdeckungen; trifft das Kind unterwegs irgendein Hindernis an, wie zum Beispiel einen Steinblock, dann ist das Glück vollständig. Auch Wasser zieht es besonders an. Es wird sich an einem Bach setzen und ganz zufrieden ausrufen: "Wasser!" Der Erwachsene, der es begleitet und so schnell wie möglich an einen bestimmten Ort gelangen möchte, versteht unter Lauf etwas ganz anderes... Die Erziehung muss das laufende Kind als einen Forscher betrachten. Das Prinzip des Erforschens, das heute zur Zerstreuung und Erholung vom Studium dient, müsste hingegen in die Erziehung einbegriffen werden und so früh wie möglich beginnen. Alle Kinder müssten so laufen, geführt von dem, was sie anzieht...

Je mehr es lernt, umso mehr wird es laufen. Um zu erforschen, muss das Kind von einem geistigen Interesse angeleitet sein, das wir ihm geben müssen. Das Laufen an sich ist eine vollständige Übung und verlangt keine weitere Gymnastik. Beim Laufen atmet der Mensch, verdaut besser und genießt all die Vorteile, die wir beim Sport suchen. Es handelt sich um eine Übung, die die Schönheit des Körpers herausbildet. Findet sich während der Wanderung etwas Interessantes zum Aufheben und näheren Betrachten oder ein Graben, der übersprungen werden muss, oder Feuerholz zum Aufsammeln, so begleiten wir die Wanderung mit diesen Handlungen - und durch das Strecken der Arme und Biegen des Körpers wird die Übung vollständig. In gleichem Maße, wie der Mensch in seinen Studien fortschreitet, wächst sein geistiges Interesse und mit ihm die Aktivität des Körpers. Der Weg der Erziehung muss dem Weg der Entwicklung folgen: Laufen und immer weiter vorausblickend, damit das Leben des Kindes immer reicher werde.

Dieses Prinzip müsste vor allem heute in die Erziehung einbezogen werden, da die Menschen zu wenig laufen, sondern sich von vielerlei Fahrzeugen transportieren lassen. Es ist nicht gut, das Leben in zwei Teile zu teilen, in dem man die Glieder mit dem Sport und den Kopf mit dem Lesen eines Buches beschäftigt. Das Leben muss ein einziges sein, vor allem in den ersten Jahren, wenn das Kind sich selbst nach dem Plan und den Gesetzen seine Entwicklung schaffen muss" (Aus Montessori, "Das kreative Kind", Herder Verlag Freiburg).

Es ist erstaunlich, dass sich seit der Zeit Maria Montessoris wenig geändert hat. Ihre Pädagogik ist moderner denn je. Kinder und Eltern sind gesellschaftlichen Bedingungen ausgeliefert. Wir wünschen uns das selbstständige Kind. Doch wenn es etwas in seinem eigenen Tempo erledigen will, dann treiben wir es an, wir bestimmen seine Ziele, wir verhindern seinen Forscherdrang.

Würden wir das Kind genau beobachten, ohne einzugreifen, könnten wir eine hervorragende Diagnose über sein Verhalten stellen und die Umgebung seinen Bedürfnissen entsprechend gestalten bzw. vorbereiten.

Bei ihren Beobachtungen registriert Montessori nicht das negative Verhalten des Kindes, wie wir es häufig von psychologischer Beobachtung gewohnt sind, sondern sie beschäftigt sich vielmehr mit den positiven Verhaltensweisen und den Fähigkeiten des Kindes. Dadurch, dass sie registriert, was das Kind tut, kann, welche Ziele es erreicht hat, stellt sie fest, wo auch gewisse "Defizite" oder Entwicklungsverzögerungen vorliegen. Durch das Instrument der vorbereiteten Umgebung und das Verhalten der neuen Lehrerin kann man hier steuernd eingreifen.

Der Pädagoge tritt bei Maria Montessori in den Hintergrund. Er steht nicht über, sondern neben dem Kind, ist gleichberechtigt und nicht derjenige, der den Ton angibt und dem Kind die Richtung weist.

Eltern sind erziehungsberechtigt. Sie haben damit das Recht, die Aufgabe und die Pflicht, Kinder zu erziehen. Das Kind aber hat ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung, sein Wohl muss gesichert werden. Was das Wohl des Kindes bedeutet, wird jedoch wiederum von Erwachsenen definiert. Kinder signalisieren, wenn in und mit ihrer Umwelt etwas nicht stimmt. Durch ihre Auffälligkeiten machen sie auf sich aufmerksam. Sie sagen uns z.B. indirekt: "Ich brauche mehr Zuneigung, warum hast Du nicht mehr Zeit für mich? Ich brauch Dich, hilf mir! Es geht mir nicht gut, ich leide unter der Trennung..." Leider aber verstehen viele Erwachsene die Hilferufe der Kinder nicht. Sie interpretieren sie vielmehr als Aggression, als Starrköpfigkeit, als Auffälligkeit und damit therapiebedürftig.

Häufig hören wir die Bemerkung: "Wo kämen wir denn hin, wenn das Kind nach seinem eigenen Willen entscheiden dürfte? Es muss lernen, wo es lang geht!" Es wird schwierig sein, im Erziehungsalltag immer den goldenen Mittelweg zu finden.

Das Kind entdecken ist ein Auftrag, den Maria Montessori uns für den Alltag gibt.

Wir müssen entdecken, was im Kind alles steckt, seine Ressourcen offen legen. Wir werden das Kind verstehen lernen und seine Entwicklung unterstützen. Wir müssen Kinder gut beobachten und gleichzeitig festhalten, wo ihre Interessen liegen und erkennen, was sie bereits selbstständig können. So wird in Montessori-Einrichtungen eine Art Beobachtungsbogen eingesetzt, der nicht Defizite oder Auffälligkeiten von Kindern dokumentieren soll, sondern der, wie schon erwähnt, festhält, was in den Kindern steckt, wie sie mit den verschiedenen Materialien selbständig umgehen. So werden auch bestimmte Leistungen für z.B. ein vierjähriges Kind nicht vorausgesetzt und damit normiert, sondern einfach sein Entwicklungsstand festgehalten. Zum Erstaunen der Erwachsenen weicht der Ist-Stand häufig sehr stark von dem ab, was vom Kind erwartet wurde. In Teilbereichen sind Kinder vielleicht schon viel weiter oder aber auch hinter den Erwartungen zurück. Der "Beobachtungsbogen" orientiert sich an den Materialien, die in einer Montessori-Einrichtung vorhanden sind. Alle Fähigkeiten, die wir ankreuzen können, hat das Kind im Umgang mit dem Material durch selbstständige Übung und Eigenaktivität erworben. Manches Material hat es viel früher ausgewählt, als üblicherweise erwartet. Konzentriert und selbstständig arbeitet es damit. Das Material selbst zeigt dem Kind, wo es sich korrigieren muss. Es braucht also nicht den Erwachsenen, der alles besser weiß und ihm sagt, dass es etwas falsch gemacht habe.

Ich zitiere hierzu Maria Montessori: "Was auch immer in der Schule von Lehrern, Kindern oder anderen getan wird, immer treten Fehler auf. Im Leben der Schule muss das Prinzip eingeführt werden, dass nicht das Korrigieren, sondern die individuelle Kontrolle des Fehlers von Bedeutung ist, die uns darauf hinweist, ob wir recht haben oder nicht. Ich muss wissen, ob ich gut gearbeitet habe oder schlecht, und wenn ich vorher den Fehler leicht genommen habe, wird er jetzt interessant für mich. In den normalen Schulen macht ein Schüler Fehler, ohne es zu wissen, unbewusst und mit Gleichgültigkeit, denn er muss ja nicht seine eigenen Fehler korrigieren, sondern das ist die Aufgabe des Lehrers. Wieweit ist dieses Vorgehen vom Bereich der Freiheit entfernt? Wenn ich nicht die Fähigkeit habe, meine Fehler zu kontrollieren, muss ich mich an jemand anderes wenden, der es möglicherweise nicht besser kann als ich. Viel wichtiger ist es, seine Fehler zu kennen und sie zu kontrollieren. Die Erkenntnis, dass wir einen Fehler begehen und ihn ohne Hilfe sehen und kontrollieren können, ist eine der größten Errungenschaften der psychischen Freiheit. Wenn es etwas gibt, das den Charakter unentschossen macht, dann ist es die Tatsache, etwas nicht ohne fremde Hilfe kontrollieren zu können. Daraus entspringt ein Minderwertigkeitsgefühl, das sich in einem Mangel an Selbstvertrauen auswirkt. Die Kontrolle des Fehlers wird zur Richtschnur... Wenn es uns gelingt, in der Schule und im praktischen Leben diesem Prinzip zu folgen, kommt es nicht darauf an, ob der Lehrer oder die Mutter vollkommen sind oder nicht. Die von den Erwachsenen begangenen Fehler haben etwas Interessantes an sich, und die Kinder nehmen daran Anteil, aber mit Abstand. Es wird für sie ein Aspekt der Natur, und die Tatsache, dass sich alle irren könnten, erweckt in ihrem Herzen eine große Zuneigung. Es ist eine neue Sache für die Einheit zwischen Mutter und Kind. Die Fehler bringen uns näher und machen uns zu Freunden. Die Brüderlichkeit entsteht eher auf dem Weg der Fehler als auf dem der Perfektion. Wenn jemand perfekt ist, kann er sich nicht mehr ändern. Wenn zwei perfekte Personen zusammen sind, streiten sie sich meistens, weil es keine Möglichkeit mehr gibt, sich zu ändern und sich zu verstehen... Unser Material hat die Besonderheit, eine sichtbare und greifbare Fehlerkontrolle zu bieten; ein zweijähriges Kind kann es benutzen, sich Kenntnisse über die Fehlerkontrolle aneignen und die Vervollkommnung anstreben. Aufgrund der täglichen Erfahrung durch solche Übungen eignete es sich die Möglichkeit an, seine Fehler zu korrigieren und seiner selbst sicher zu werden. Das bedeutet nicht Vollkommenheit, sondern das Abschätzen der eigenen Möglichkeiten. Dadurch wird es fähig, etwas zu leisten. ... Darin liegen Klugheit, Sicherheit und Erfahrung, sichere Hilfsmittel in Richtung auf die Vollkommenheit. Diese Sicherheit zu erreichen ist nicht so einfach, wie es man sich vorstellen könnte. Noch ist es leicht, den Weg der Vervollkommnung zu beschreiten. Jemanden zu erklären, er sei albern, mutig, gut oder schlecht, ist eine Art von Verrat. Das Kind muss sich selbst darüber klar werden, was es tut; und es ist nötig, ihm mit der Möglichkeit sich zu entwickeln, auch an die Hand zu geben, die eigenen Fehler zu kontrollieren" (Maria Montessori "Das kreative Kind", Herder Verlag Freiburg).

Werfen wir noch gemeinsam einen Blick auf den "Beobachtungsbogen", wie ihn Maria Montessori einsetzt. Sie beschreibt dabei die einzelnen Materialien mit all ihren Möglichkeiten. Der wahrnehmende und beobachtende Lehrer stellt nun fest, wie das Kind mit diesem Material umgeht bzw. welche Aufgaben es unter Nutzung der Fehlerkontrolle selbst lösen kann.

Zum Beispiel:

Soweit nur einige Beispiele aus dem Bereich der Sinnesmaterialien. Das gleiche System wird auch angewandt z.B. beim

usw. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, wie hier die positiven Seiten des Kindes herausgestellt werden können. Für Verhaltensbeobachtungen hat uns Maria Montessori kein derartiges beschriebenes Beobachtungsschema überlassen, da sie davon ausgeht, dass Störbilder beim Kind letztlich zurückzuführen sind auf die Umwelt bzw. die Einflüsse aus der Erwachsenenwelt.

Aus meinen eigenen Erfahrungen bei Hospitationen in Montessori-Einrichtungen in den Niederlanden kann ich berichten, dass mir nirgendwo sonst Kinder begegnet sind, die in dieser Ruhe, Konzentration, Intensität und nahezu ohne Konflikte miteinander arbeiten und lernen. Sie schöpfen ihre Kraft aus dem eigenen Erfolg und vor allen Dingen aus der Freiheit, mit der sie ihre Lernprozesse selbst steuern können.

Gerade in der Arbeit mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen oder Lernauffälligkeiten, bietet sich die Arbeit nach Montessori an.

Ich darf aber an dieser Stelle davor warnen, dass der alleinige Einsatz von Montessori Material zum Erfolg führen wird. Wichtig und grundlegend ist die Sichtweise vom Kind. Und hier können wir gerade in der heutigen Zeit weltweit von Maria Montessori sehr viel lernen.

Sie geht davon aus, dass das Kind der Baumeister seines Selbst ist. Das Kind steuert seine eigene Entwicklung und diese vollzieht sich dann zufriedenstellend, wenn die Rahmenbedingungen in seiner Umgebung an seinen individuellen Bedürfnissen ausgerichtet sind.

Maria Montessori formuliert das in ihrem Buch "Die Entdeckung des Kindes" und hiermit möchte ich meinen Vortrag abschließen:

"Die neue Erziehungsmethode besteht nicht darin, die Mittel für die Entwicklung der einzelnen Handlungen zu geben, sondern auch darin, dem Kind die Freiheit zu lassen, darüber zu bestimmen. Und dies verwandelt das Kind in den kleinen denkenden und eifrigen Menschen, der in seinem tiefsten Inneren Entscheidungen und eine Wahl trifft, die ganz anders sind als wir angenommen hätten, oder der mit einem großzügigen Impuls oder mit taktvoller Zuneigung Dinge tut, die ihm sein Innerstes gerade eingeben. Auch hierin, ja ganz besonders hierin übt es sich. So beschreitet es mit erstaunlicher Sicherheit die Wege seines eigenen Bewusstseins. Die innerliche Arbeit des Kindes ist von einer gewissen keuschen Sensibilität. Sie zeigt sich nur, wenn der Erwachsene nicht mit seinen Anweisungen eingreift, die aus Überprüfen, Ratschlägen und Ermahnungen bestehen. Lassen wir das Kind seine Geschicklichkeit ungehindert anwenden, wird es sich als empfänglich für die größeren Errungenschaften erweisen, die es nach und nach erreicht. Es verhält sich peinlichst gewissenhaft, wenn es jeder Tätigkeit den ihr gebührenden Platz zuweist, genau wie das jüngere, etwa zweijährige Kind voller Stolz empfindet, dass es die Dinge an ihrem Platz einzuordnen versteht".

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogische-ansaetze/klassische-paedagogische-ansaetze-allgemeines/10/