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Zitiervorschlag

Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik

Philipp Berg

 

Die Psychoanalytische Pädagogik ist ein Strömung, die im Rahmen einer Ausweitung und Ausdifferenzierung psychoanalytischer Inhalte auf andere Felder - in diesem Fall vor allem der Pädagogik, aber auch der Gesellschaftstheorie - entstanden ist. Sie hat ihre Anfänge etwa in den 1920er Jahren und geht hauptsächlich auf die Namen Alfred Adler, Siegfried Bernfeld und Nelly Wolffheim zurück. Letztere eröffnete 1914 einen Privatkindergarten und führte ihn acht Jahre später nach den Ideen der Psychoanalytischen Pädagogik. Die Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik waren meist jüdischen Hintergrunds und sozialistischen Positionen zugeneigt. Ziel war es, zu einer gerechten, friedlichen Gesellschaft und zur Neurosenprophylaxe beizutragen. Allerdings entstand erst in den 1970er Jahren eine aufsteigende Psychoanalytische Pädagogik, als eine von mehreren Schulen und Anwendungen der Psychoanalyse, und nahm in ihr Konzept die materialistische Sozialisationstheorie Alfred Lorenzers und Impulse kritischer Gesellschaftstheorie mit auf. Insbesondere Lorenzer, einer der ersten deutschen Psychoanalytiker, der sich mit den Folgen des Holocaust beschäftigte, vertrat die Position, dass "nur in der Öffnung der Psychoanalyse zur Kritischen Theorie ... die Lösung" (Lorenzer 1986, S. 53) gefunden werden konnte, um das Rätsel der neurotischen Traumen in der Psychoanalyse zu lösen. Der Ansatz der avancierten Psychoanalytischen Pädagogik ist insbesondere mit den Namen Alois Leber und Hans-Georg Trescher verbunden.

In diesem Text wird die Psychoanalytische Pädagogik als Konzept für Kindertageseinrichtungen dargestellt.

Die Psychoanalytische Pädagogik als Paradigma

Die Psychoanalytische Pädagogik richtet ihr Interesse auf die "langfristige Entwicklung der Kinder und richtet ihren Fokus auf psychische Gesundheit. Überdies eröffnet sie der Arbeit in Kindertageseinrichtungen einen Zugang zum Verständnis kindlicher Entwicklungsprozesse, ohne diese aus ihrem Kontext von Interaktion, Institution und Gesellschaft herauszulösen" (Naumann 2008, S. 17). An dieser Aussage wird der Anspruch der Psychoanalytischen Pädagogik, Sozialisation, Bildung, Gesundheit und Entwicklung von Kindern in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext und auf verschiedenen Ebenen (kritisch) zu betrachten, unverkennbar klar.

Auch wird deutlich, dass ein Kind "als Subjekt und nicht als passives Objekt professionellen Tuns" (Trescher 1993, S. 168) verstanden wird. Die Konsequenz, die daraus folgt, ist, dass in der Therapie der Therapeut und in der Pädagogik der Pädagoge abhängig vom Klienten bzw. vom Kind ist. "Damit wurde ein zentraler - an die Hilfe gekoppelter - Herrschaftsanspruch in professionell helfenden Beziehungen aufgelöst, weil Freud und mit ihm die psychoanalytische Praxis von der Mitarbeit der Klienten abhängig wurde" (vgl. Erdheim 1982, S. 107, zit. n. Trescher 1993, S. 168). Im Umkehrschluss lässt sich aufgrund dessen sagen, dass wenn der Professionelle das Subjekt nicht methodisch für die Erkenntnisgewinnung (vgl. Trescher 1993, S. 168) einbezieht, jegliche Grundlage und jeglicher Ausgangspunkt der Psychoanalytischen Pädagogik entzogen sind.

Da in der Psychoanalytischen Pädagogik ein potentiell herrschaftsfreies Verhältnis zwischen Pädagogen/in und Kind die Grundlage ist, ist dies jedoch nicht damit gleichzusetzen, dass sich der Dialog auch konfliktfrei gestaltet. Dynamiken der gemeinsamen Beziehungen entfalten sich in Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung, projektiver und Übertragungsidentifizierung. Instrumente, diese Dynamiken, die sich im gemeinsamen Dialog vollziehen, wahrzunehmen und für den pädagogischen Prozess nutzbar zu machen, sind Selbstreflexion, Reflexion und Metakommunikation und die teilnehmende Beobachtung. Aufgrund des Freudschen Junktims "Heilen und Forschen" lässt sich für die Pädagogik das Junktim "Fördern und Forschen" oder "Erziehen und Forschen" ableiten, denn gerade im Sinne von pädagogischem Handeln wird die Veränderung von Bewusstsein und Lebenspraxis deutlich (vgl. ebd., S. 168 ff.). So wird auch die immerwährende Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Forschung und Veränderung im Sinne der Pädagogik klar.

"Angemessene Förderung setzt angemessenes, nämlich psychoanalytisches Verstehen der Interaktion, des Erziehungsgeschehens voraus. Psychoanalytisches Verstehen eröffnet qualitativ neue entwicklungsfördernde und konfliktverarbeitende Handlungs- und Gestaltungsspielräume pädagogischen Handelns, weil es unbewusste Motive und Sinnzusammenhänge insbesondere in konflikthaften und belastenden Interaktionsverläufen erschließen kann" (Muck 1993, zit. n. Trescher 1993, S. 170).

Wie schon zum Eingang angedeutet, löst die Psychoanalytische Pädagogik das Subjekt in ihrer Erforschung und pädagogischen Beziehung nicht aus seinen Lebens- und Situationsentwürfen ihrer psychosozialen Situation, sprich aus institutionelle und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, heraus sondern misst dem Sachverhalt große Aufmerksamkeit zu. Hier kommt dem Begriff des "sozialen Ortes"1 (Bernfeld) eine große Bedeutung zu. "Bernfeld diskutiert unter dem Begriff des sozialen Ortes (der Neurose) das, was man in der Psychoanalyse 'Realitätsprinzip' nennt, nämlich die Frage nach dem historischen Aspekt und nach der Milieuprägung eines seelischen Vorgangs (1929, 210). Im Blickfeld ist dabei allerdings nicht die Struktur seelischer Vorgänge selbst (als Wechselspiel von Triebimpulsen und Realitätsorientierung), sondern das Verständnis zwischen der jeweiligen sozialen Umwelt und den inneren Entwürfen, den 'Ich-Leistungen', die das Handeln steuern. ...Wichtig für das Verständnis psychoanalytischer Pädagogik ist dabei, zu beachten, dass der Gesichtspunkt des sozialen Ortes bei Bernfeld nicht so zu verstehen ist, als sei die Interpretation eines Konfliktes als 'neurotisch' bzw. 'seelisch' bedingt überhaupt nicht mehr als objektiver Befund, sondern nur noch als eines von vielen kulturellen Deutungsmustern denkbar. Bernfeld mischt auch nicht psychoanalytische und soziale Betrachtungsweisen im Sinne einer Theorie des 'Sozialcharakters', sondern stellt beide Perspektiven nebeneinander. Er ist, wie Gottschalch (1992, 102) zurecht meinte, der Vorläufer der komplementaristischen Methode eines G. Devereux (vgl. 1984, 11 ff.). Dessen kulturvergleichende Studien zeigen, dass psychische Störungen von unterschiedlichen Kulturen nicht nur unterschiedlich toleriert werden, sondern selbst sozial gestaltet sind und sogar (etwa im Schamanismus) wichtige prosoziale Funktionen bekommen können, ohne doch den Charakter der klinischen diagnostizierbaren Störung zu verlieren; genau wie umgekehrt gesellschaftliche Normen selbst krankhaften Charakter haben können, so dass soziale Abweichung geradezu zum Kennzeichen seelischer Gesundheit wird" (vgl. Devereux 1982 bes. S. 52 ff., zit. n. Müller 1993).

Dies hat natürlich unmittelbare Konsequenzen für die Praxis Psychoanalytischer Pädagogik. "Mit dem immer besseren Verständnis dieser Lebens- und Situationsentwürfe der Klienten und des sich entfaltenden Interaktionsnetzwerkes zwischen Klient und Pädagoge in der pädagogischen Situation (und Institution) werden Förderungs- potentiale und Verarbeitungsmöglichkeiten von Entwicklungskrisen und Beziehungsproblemen sichtbar, auch wenn deren volle Verwirklichung - aufgrund von sozialen, institutionellen und individuellen Grenzen - nicht immer erreicht werden kann" (Trescher 1993, S. 170 ff.).

Hieraus und auch aus dem Zitat von Naumann (vgl. Naumann 2008, S. 17) zu Beginn dieses Kapitel geht hervor, dass die Psychoanalytische Pädagogik eine parteiliche für den Klienten ist, da sie in ihrem "Beziehungsmodell reale Herrschaftsansprüche verwirft und sie deshalb zwangsläufig kritisieren muss" (vgl. Habermas 1968, Lorenzer 1970, 1974, Müller 1989, 1991a, Füchtner ..., zit. n. Trescher 1993, S. 171). Die logische Folge dessen ist, dass die Psychoanalytische Pädagogik in einer heterogenen Gesellschaft gegenüber gesellschaftlichen Wertevorstellungen nicht neutral bleiben kann.

Handlungstheoretische Aspekte

Um die Psychoanalyse im Sinne einer Pädagogik in die Praxis umsetzen zu können, muss die Prämisse gesetzt werden, dass die psychoanalytischen Grundlagen nicht als ein bloßes Formelwissen verstanden werden. Um die Psychoanalytische Pädagogik ihrem Anspruch gerecht umzusetzen, sind "zunächst sozialisationstheoretische und zeitdiagnostische Kenntnisse nötig, um im Wissen um die Wechselwirkung von Gesellschaft, Institution, Interaktion und Subjekt sowie deren aktueller Erscheinungsformen vorschnelle infantilistische, familialistische oder pädagogische Verkürzungen zu vermeiden" (vgl. Lorenzer 1980, S. 320, zit. n. Naumann 2008, S. 18). Somit verlangt die Psychoanalytische Pädagogik interdisziplinäre Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen zu ihrer anspruchsgerechten Umsetzung.

Um aber auch einem Bildungsanspruch im Sinne der Selbstbildung gerecht zu werden, "sind bildungstheoretische Kenntnisse erforderlich, die das Zusammenspiel von Selbstbildung und Verständigung berücksichtigen. Dadurch wird die fachlich begründete Widerständigkeit gegen Instruktionslernen und verhaltensorientierte Trainingsprogramme in der pädagogischen Praxis gestützt" (Naumann 2008, S. 18).

Das Wissen, z.B. über Psychoanalytische Entwicklungstheorien (z.B. Ansätze von Freud, Mahler oder Kohut), Selbstpsychologie und Narzissmustheorie (Heinz Kohut), Objektbeziehungstheorie (Melanie Klein), intersubjektive Theorie (Jessica Benjamin) und Bindungstheorien (John Bowlby, Mary Aintsworth), ist deshalb von sehr großer Wichtigkeit, weil es "für die Themen, Phasen und etwaigen Schwierigkeiten kindlicher Entwicklung, insbesondere im Gruppenkontext" (ebd.) sensibilisiert.

Somit ist die Psychoanalytische Pädagogik als ein Prozess anzusehen. "Ziel dieses Prozesses, der psychoanalytischen Haltung, des Verstehens und daraus ableitbarer pädagogischer Handlungsprozesse und absichtsvoller Situationsgestaltungen ist die möglichst optimale Förderung der Klienten im sozialen und institutionellen Beziehungskontext. Dies kann Klienten (mit Blick auf die Objektbeziehung) als Ausdifferenzierung und Korrektur von Selbst- und Objektrepräsentanz beschrieben (vgl. Datler 1985, 1988 und in diesem Band) und strukturell i.S. der klassischen Psychoanalytischen Pädagogik als Ich-Stärkung (vgl. im Überblick Trescher 1985a, 12 ff.) und Überich-Bildung gefasst werden" (Trescher 1993, S. 180).

"Als Leitbegriff der Psychoanalytischen Pädagogik können Arbeitsbündnis, Optimalstrukturierung und Szenisches Verstehen gelten" (Trescher 2001, zit. n. Naumann 2008, S. 17). In diesem drei Kernkomponenten ist das Junktim der Psychoanalytischen Pädagogik "Fördern und Forschen" oder "Erziehen und Forschen", sprich die praxis- und erkenntnisleitende psychoanalytische Theoriebildung, die dialogisch-methodische Selbstreflexion und das Beziehungsmodell der Psychoanalytische Pädagogik verhaftet.

Das Arbeitsbündnis

"Das Arbeitsbündnis eröffnet im Wissen um entwicklungspsychologische Erkenntnisse und Übertragungsvorgänge die Möglichkeit, Bündnisse, Themen und Konflikte der Kinder wahrzunehmen, um sich so in der pädagogischen Beziehung als 'Hilfs-Ich' zur Verfügung zu stellen und eine nachholende Entwicklung in Gang zu setzen. Im fördernden Dialog, im Containen und Symbolisieren der kindlichen Themen, im Ermöglichen von Regression im Dienste des Ich oder durch milde Traumatisierung kann das Kind die verlässliche Interaktion mit dem Hilfs-Ich verinnerlichen" (Naumann 2008, S. 17). Das Arbeitsbündnis erörtert somit die "Binnenstruktur" der pädagogische Beziehung (Muck). Es soll ein bestimmtes Ziel erreicht werden, nämlich die möglicht optimale Förderung der Klienten im sozialen und institutionelle Kontext.

Durch die Arbeit, z.B. in einer Kita, ist ein Arbeitsbündnis zwischen Pädagog/in und Kind/ern bereits formell durch den Bestand der Institution formuliert. "Die Aufgabe des Pädagogen ist es, das institutionell vorformulierte Bündnis zur Wirkung, zur besonderen Entfaltung zu bringen. ... Ein echtes Arbeits- oder besser: Entwicklungsbündnis kommt im wesentlichen zustande aufgrund von Identifizierung des Klienten mit den - über die Haltung und die Person des Pädagogen vermittelten - Arbeitszielen der Institution" (Trescher 1993, S. 184).

Eine Identifizierung mit dem/der Pädagogen/in, als Voraussetzung zur Entfaltung eines Arbeits- bzw. Entwicklungsbündnisses findet unter bestimmten Bedingungen statt. Als wichtigste Komponente lässt sich hier die Konstanz formulieren, da sie in der Regel die Grundbedingung und Voraussetzung zur Entfaltung und Gestaltung von Beziehungen und Bündnissen ist. "Konstanz muss um so mehr gegeben sein, je jünger (oder je 'gestörter') die Klienten sind. Ein wirkliches Entwicklungsbündnis entfaltet sich nur dann, wenn sich die Anforderungen der Institution und der Entwicklungsstand, die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Klienten entsprechen und in der Beziehung zum Pädagogen und der Peer-Group entsprechende Identifizierungsmöglichkeiten verfügbar sind (Konstanz als wesentliches Merkmal des Settings)" (ebd., S. 185).

Dem gilt es noch hinzuzufügen, dass Kinder dies nur umfassend für sich nutzbar machen können, "wenn sie ihre Kindergruppe und Bezugsperson über Jahre als solche erleben, die ihrerseits von der Einrichtung gehalten werden, ihre Gefühle und Bedürfnisse äußern und die Entwicklung der gemeinsamen Institution mitbestimmen können (Naumann 2008, S. 19) ... Wesentlich ist hier die Haltefunktion von verlässlichen, empathischen und zugewandten Bezugspersonen, die den Klienten die Sicherheit und Geborgenheit erlebbar machen, von der aus die Kinder erst die Nachentwicklung ihrer inneren Regulationssysteme sowie die Exploration ihrer Welt wagen können" (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2006, S. 243, zit. n. Naumann 2008, S. 19).

Die Optimalstrukturierung

Einen entscheidenden Beitrag zur Entfaltung des Arbeits- bzw. Entwicklungsbündnisses leistet die "Optimalstrukturierung": "Die Optimalstrukturierung zielt auf die Überprüfung bzw. Veränderung des pädagogischen Settings im Hinblick auf Konzept, Personal, Raum, Ausstattung etc. bis hin zur gesellschaftlichen Funktion der Kindertageseinrichtung. Erkenntnisleitende Frage ist hier, ob die Institution ein tragfähiges Arbeitsbündnis begünstigt oder Re-Traumatisierung verursacht bzw. institutionell begründete Konflikte bei den Kindern resp. in der Gruppe heraufbeschwört" (Naumann 2008, S. 17).

Die Optimierungsbedingungen von pädagogischen Einrichtungen resultieren heute aktuell aus sich rapide verändernden Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche und auch aus zunehmenden Ökonomisierungstendenzen im Bereich der Sozialen Arbeit. Die Sozialisationsbedingungen für Kinder wandeln sich heute unter dem Diktat von "Individualisierungsprozessen", "Wertepluralität" und "Enttraditionalisierung", was sowohl als Chancen als auch Gefahren für das Individuum mit sich bringt.

"Eine der zentralen Fragen dieser soziokulturellen Veränderung in der 'Moderne' ist der damit einhergehende, tendenzielle Funktionsverlust der Familie als traditioneller Sozialisationsagentur, der z.B. in steigenden Scheidungsraten, Ein-Eltern-Familien etc. einen symptomatischen Ausdruck findet (vgl. Stat. Bundesamt 1990). Dies führt dazu, dass der weitreichende Verlust der Sozialisationsfunktionen der Familie die vermehrte Übernahme von primären Sozialisationsfunktionen durch öffentliche Erziehung erforderlich macht. Dies nun nicht mehr einfach im traditionellen Sinne der Erweiterung von Sozialisationsfeldern für das Kind, die ihm dazu verhelfen, die familiäre Enge zu verlassen, sondern im Sinne der Kompensation einer traditionellen Sozialisationsagentur Familie zunehmend abhanden kommenden Fähigkeiten zur Herstellung stabiler und belastbarer innerer Strukturen der nachfolgenden Generation im Verlauf der Sozialisation" (Trescher 1993, S. 185 ff.).

Die Scheidungsrate steigt in der Bundesrepublik Deutschland laut Statistischem Bundesamt seit 1970 kontinuierlich, was, im Hinblick auf den immer öfter eintreffenden Verlust der Familie als primäre Sozialisationsinstanz und die dadurch vermehrte Übernahme primärer Sozialisationsfunktionen durch die öffentliche Erziehung, eine besorgniserregende Entwicklung darstellt. "Im Jahr 2004 belief sich ihre Zahl (Ehescheidungen, d.Verf.) auf 214.000. Damit kamen auf 10.000 bestehende Ehen etwa 115 Ehescheidungen. Berücksichtigt man die Dauer der geschiedenen Ehen, so wäre bei einem Anhalten der derzeitigen Scheidungshäufigkeit damit zu rechnen, dass etwa 42% der Ehen im Laufe der Zeit wieder geschieden würden. ... 107.000 und damit die Hälfte der 214.000 geschiedenen Ehepaare hatten Kinder unter 18 Jahren. Insgesamt erlebten 169.000 minderjährige Kinder im Jahr 2004 die Scheidung ihrer Eltern" (Statistisches Bundesamt 2006).

Ist eine Einrichtung, unter dem Gesichtspunkt dieses qualitativen Funktionswandels, den an sie gestellten Anforderungen nicht gewachsen bzw. ist sie darauf nicht vorbereitet, ist die logische Folge eine Überforderung. Unter der Komponente der "Optimalstrukturierung" ergeben sich daraus verschiedene notwendige Konsequenzen. Zu nennen sind hier insbesondere:

  • die zunehmende Entfaltung heilpädagogischer Kompetenzen und Konzeptionen mit dem Ziel, korrigierende Erfahrungen und Möglichkeiten der 'Nachreifung' zu schaffen, um pädagogische Institutionen zu kompensatorischen und korrigierenden primären Sozialisationsfunktionen zu befähigen.
  • ein stabiles und gesichertes Setting mit Haltefunktion im Binnenraum zur Förderung strukturbildender Verinnerlichungsprozesse im Rahmen eines "fördernden Dialogs", d.h. unter Beachtung der Fähigkeit und des Entwicklungsstandes der Klienten, um primäre Sozialisationsfunktionen übernehmen zu können.
  • die Bereitstellung einer haltenden Umwelt für die Mitarbeiter, die es ihnen ermöglicht, die Reinszenierung traumatischer Erfahrungen und deren gescheiterte Verarbeitungsversuche zu "überleben", z.B. in Form eines angemessenen Personalschlüssels, Supervision usw.
  • die Festlegung eines strukturierten, überschaubaren und transparenten Settings im Sinne des Konstanzprinzips.
  • die Minimierung und Antizipation szenischer Auslöserreize zur neuerlichen Traumatisierung sowie konstante pädagogische Beziehungen (vgl. Trescher 1993, S. 186 ff.).

Sind diese Anforderungen in pädagogischen Institutionen erfüllt, kann man von einer "Optimalstrukturierung" sprechen. Allerdings ist aktuell zu beobachten, dass zunehmende Ökonomisierungstendenzen pädagogischer und psychosozialer Einrichtungen die Anforderungen zur Gestaltung der Optimalstruktur in einem globalen Zusammenhang nochmals erschweren: "So wird die Soziale Arbeit in Kindertageseinrichtungen betriebswirtschaftlichen Modellen 'Neuer Steuerungen' unterworfen, die auf die ökonomische Effektivität humaner Dienstleistungen zielt (z.B. Esch et al. 2006), ohne zu reflektieren, dass Kindertageseinrichtungen und Grundschulen, jene Bildungsorte also, die am wenigsten selektieren, ohnehin die geringsten finanziellen Mittel erhalten, und das jahrelange Empathie und dialogische Beziehungen sich weder messen noch kaufen lassen" (Textor 2006, S. 86, zit. n. Naumann 2008, S. 9). Solche aktuellen Tendenzen gestalten die Erfüllung der Komponente "Optimalstrukturierung" in Kindertagesstätten um einiges schwerer, teilweise sogar als nicht mehr erfüllbar.

Das Szenische Verstehen

"Das Szenische Verstehen (Lorenzer) schließlich ist die Methode, um Arbeitsbündnis und Optimalstrukturierung zu verwirklichen. Einerseits können die real in Szene gesetzten pädagogischen Situationen und Beziehungen, also auch die Reinszenierung früher Konflikte, durch die Wahrnehmung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen verstanden werden. Andererseits ermöglicht das Szenische Verstehen Erkenntnisse über institutionelle und gesellschaftliche Faktoren, die die Szene mit konstellieren" (Naumann 2008, S. 17 ff.).

Das Szenische Verstehen ist somit als eine besondere Haltung des Pädagogen im pädagogischen Alltag und im Interaktionsgeschehen anzusehen, was Muck als "wesentlichen Teil der notwendigen Basisqualifikation, um psychoanalytisch in den Praxisfeldern der Pädagogik arbeiten zu können, und als [d. Verf.] ... eine notwendige Bedingung, um den 'fördernden Dialog' (vgl. Leber 1988) führen zu können" (Trescher 1993, S. 172), bezeichnet. Es wird ebenfalls deutlich, dass dies ein prozesshaftes Modell ist und kein punktueller Vorgang.

Das Hauptaugenmark - was auch unverkennbar deutlich wird - liegt auf den sich gestaltenden Interaktionen und Beziehungen und auf dem sich bewusst oder unbewusst gestaltenden Beziehungsprozess der daran beteiligten Subjekte, ohne die Einflüsse, welche Institutionen und gesellschaftliche Zusammenhänge darauf haben, aus den Augen zu verlieren.

Im Sinne von Übertragung, Gegenübertragung, Übertragungsidentifizierung und projektiven Identifizierung im konkreten pädagogischen Vollzug (welche in diesem Text weiter unten diskutiert werden), in dem der/die Pädagoge/in als Lernender gesehen wird, bedarf es einer außerordentlichen Professionalität. In Beziehungsgefügen des pädagogischen Alltags, die von der psychoanalytischen "Tiefenhermeneutik" zur Erkenntnisgewinnung genutzt werden, auch durch affektive Beteiligung, "geht es aber natürlich nicht nur um die bloße affektive Teilhabe; diese ergibt sich - ob bewusst wahrgenommen oder nicht - in jeder Interaktion zwingend. Vielmehr bedarf Professionalität im Sinne der Psychoanalytischen Pädagogik gleichzeitig der Fähigkeit zur optimalen Distanz von den Konflikt- und Belastungspotentialen des Beziehungsfeldes mittels kontinuierlicher Reflexion und Teilhabe. Nur dann kann erfasst werden, welche Erwartungen, Verführungsversuche, Funktionen oder Rollen dem Pädagogen unbewusst zugedacht werden" (Trescher 1993, S. 172).

Um die enge Verzahnung zwischen Theorie und Praxis im konkreten pädagogischen Vollzug zu gewährleisten, bedarf es ständiger Reflexion des pädagogischen Geschehens, was "konstitutiv für die psychoanalytische Methode, was somit immer auch Forschungsmethode ist" (Trescher 1993, S. 173).

Exemplarisch für die Verankerung des "szenischen Verstehens" gilt bei Figdor der Umgang mit Trennung. Er differenziert drei Schwerpunkte:

"1. Die Kindertageseinrichtung kann durch einen interessierten, vorbereiteten und vor allem freundlichen Empfang neuer Kinder in der Gruppe sowie durch einen 'Mentor' das Bedrohlich-Fremde genommen werden
2. Die Verlustängste der morgendlichen Trennung können durch konkrete Bilder zum Tagesablauf von Kind und primärer Bezugsperson sowie die Vorstellung der Wiedervereinigung und gemeinsamer nachmittäglicher Unternehmung gemildert werden
3. Die Konstanz der guten Objekte kann aufrechterhalten werden, wenn die primäre Bezugsperson den Tag und die Trennung in Form symbolischer Repräsentation 'überlebt'. Diese symbolische Präsenz erleichtert den Kindern die innere und äußere Triangulierung von Objektbeziehungen hin zu neuen Arten des Selbsterlebens und Welterforschens" (Figdor 2006a, S. 109, zit. n. Naumann 2008, S. 19).

Um dem Anspruch der Partizipation der Lebens- und Selbstentwürfe des Individuums im gesamtgesellschaftlichen und institutionellen Kontext in Bezug auf langjährige Entwicklung und Gesundheit gerecht zu werden, "sollte die Kindertageseinrichtung Räume und Zeiten bereitstellen, in denen die Kinder nicht nur die üblicherweise geschätzten prosozialen, sondern alle ihre Emotionen und Bedürfnisse verbal und szenisch zum Ausdruck bringen und mit anderen kommunizieren können (Figdor 2006a, S. 114 f.) - hier könnten, neben Stuhlkreisen, Zeichnen und Theater, besonders eine sinnverstehende Psychomotorik ihre Potentiale entfalten. ... Schließlich sollte die Kindertageseinrichtung allen Kindern Interaktionserfahrungen mit Männern und Frauen, mit Menschen, Materialien und Symbolen eröffnen, die die Repräsentation und Bearbeitung ihrer lebensweltlichen bedeutsamen Themen sexueller, sozialer und kultureller Identität ermöglichen" (vgl. Figdor 2006a, S. 117, zit. n. Naumann 2008, S. 19 ff.).

Damit in Kindertagesstätten Selbstbildungsprozesse entfacht und entstehen können, ist in der Gruppenarbeit mit Kindern eine gruppenanalytische Haltung2 hilfreich, "die ihre Aufgabe nicht in der direktiven Steuerung von Gruppenprozessen, sondern in der Förderung von Interaktion und Kommunikation zwischen den Kindern, in der Ausgestaltung und Integration von Heterogenität im gemeinsamen Gruppenzusammenhang erblickt" (Brandes 2007, S. 12, zit. n. Naumann 2008, S. 20). Gerade in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, persönliche Dramen und familiale Konstellationen bietet eine Kindergruppe einen Übergangs- bzw. intermediären Raum, in dem bedeutsame Situationen und Erlebnisse in Szene gesetzt werden und somit zu einem neuen Erkenntnisgewinn und neuen Handlungsperspektiven führen können.

Eine entscheidende und nicht wegzudenkende Komponente, um eine gesunde langjährige Entwicklung von Kindern zu gewährleisten, bzw. zur Bearbeitung von Konflikten und Bedürfnissen, eigentlich eine pragmatische Grundlage zur Umsetzung der Psychoanalytischen Pädagogik von der Theorie in die konkrete Praxis, ist die Elternarbeit: "In der Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Bezugsperson können letztere wichtige Informationen über die Familienkultur und Lebenswelt der Kinder erhalten. Umgekehrt kann die Kindertageseinrichtung die Eltern zur Partizipation einladen und ihnen ihre pädagogischen Kenntnisse etwa im Zusammenhang von Bildung und Bedürfnis nahe bringen. In der Vernetzung mit Frühförderstellen, Kinderärztinnen und Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeuten, die freilich anschlussfähige Vorstellungen kindlicher Entwicklung aufweisen müssen, vermag die Kindertageseinrichtung überdies den Kontakt der Eltern zu Institutionen tertiärer Prävention herzustellen. Diese Aufgaben und Potentiale der Elternarbeit verdichten sich in einer gelingenden Elternberatung. Diese gedeiht nur, wenn sie einerseits ressourcenorientiert auf die Erweiterung alltäglicher Gestaltungsspielräume zielt, andererseits aber auch Beziehungs- und Erziehungsfragen thematisiert. Häufig wird jedoch in der Beratung Widerstand der Eltern ausgelöst, weil die Elternschaft frühe Konflikte aktualisiert und nicht selten von mehr oder minder unbewusster Aggression dem Kind gegenüber unterlegt ist (Figdor 2006b, S. 143 f.). Erst wenn den Bezugspersonen die Identifikation mit dem Kind und den Eltern gelingt, wenn also auch die Konflikte und Nöte der Eltern in die Wahrnehmung rücken dürfen, kann eine moralisierende Zurückweisung oder auftrumpfende Beschämung der Eltern vermieden werden und stattdessen die 'helfende, unterstützende und daher stärkende' Seite pädagogischer Autorität hervortreten und angenommen werden (ebd., S. 144 ff.). Auch die Elternarbeit kann ihre salutogenetische Wirkung nur in dialogischen, prozess- und lebensweltorientierten Beziehungen entfalten" (Naumann 2008, S. 21 f.).

Übertragung, Gegenübertragung und Übertragungsidentifizierung

Übertragung meint, dass "unverarbeitete, nicht angeeignete Erfahrungen der Vergangenheit ... mit Stellvertreterinnen und Stellvertretern im Hier und Jetzt unbewusst neu belebt wird [d. Verf.]" (Trescher 1993, S. 173 f.). Somit handelt es sich hierbei um Einschränkungen und Verzerrungen der aktuellen Realität, was zur Konsequenz haben kann, "dass PädagogInnen so erlebt werden, als ob sie z.B. unzuverlässiger Eltern, verführende Väter, kontrollierende Mütter, rivalisierende Geschwister etc. wären" (ebd., S. 174). Pädagogen und Pädagoginnen werden in solchen Interaktionsmustern (intrapsychisch) mit wichtigen Personen verwechselt. Eine Übertragung führt im Sinne einer "Antwort" in aller Regel meist zu einer ergänzenden Gegenübertragung.

Für pädagogisches Handeln im Sinne der Psychoanalyse bestehen hier sowohl Chancen als auch Gefahren. Positiv zu handhaben ist dies, "sofern es sich um relativ konfliktfreie Übertragungsreaktionen handelt: z.B. erhalten wir häufig einen Vertrauensvorschuss von Kindern und Jugendlichen, der sich (zumindest zu Beginn) keinesfalls aus der pädagogischen Beziehung heraus begründen lässt, sondern Ergebnis von sogenannten positiven Übertragungsreaktionen ist. Sofern es sich jedoch bei Übertragungsreaktionen um die Wiederbelebung konflikthafter Erfahrungen mit einem primären Objekt handelt, liegt im Sinne des Wiederholungszwangs, d.h. der Tendenz zur Reinszenierung traumatischer Erfahrungen, die Gefahr nahe, dass nicht nur die pädagogische Beziehung scheitert, sondern dass der Klient erneut traumatisiert wird" (ebd., S. 174 f.).

Übertragungsreaktionen äußern sich unbewusst in konkreten, meist verschlüsselten Interaktionsformen und Beziehungsangeboten. In solchen Interaktionsformen versucht der Klient oder das Kind, meist den Pädagogen zu einer bestimmten Rollenübernahme zu drängen, um seine unbewussten Bedürfnisse zu befriedigen, was zwangläufig das Erleben und Verhalten des Pädagogen erheblich beeinflusst. "Dieses dynamische Wechselspiel von Übertragung und (komplementärer) Gegenübertragung bildet eine für die Arbeit mit dem jeweiligen Klienten konflikt- und/oder belastungstypische Szene" (ebd. S. 175).

Entscheidend ist nun, wie der Pädagoge mit konflikthaften Übertragungsreaktionen umgeht. Eine große Gefahr besteht darin, dass sich konflikthafte Interaktionsmuster, in denen der Pädagoge die Rolle des primären Objekts übernimmt und sich damit identifiziert, chronifizieren. "Ist ein solches Wechselspiel in der pädagogischen Interaktion fest installiert, ist es zu einer Chronifizierung auch im erlebnis- und handlungsleitenden Bereich des Pädagogen i.S. der Rollenübernahme gekommen, finden wir eine verschlüsselte Reproduktion der ursprünglich stark belastenden Beziehungssituation. Kennzeichen dieser Form der Wiederinszenierung, die unter dem Diktat des Wiederholungszwangs steht, ist die unbewusste Identifizierung des Pädagogen mit der Übertragungsfigur" (ebd., S. 175 f.). Die unbewusste Identifizierung mit der Rolle eines primären Objekts bezeichnen Finger-Trescher als "Übertragungsidentifizierung".

An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wie der Pädagoge eine solche Situation lösen kann und welche Konsequenzen im Falle einer nicht adäquaten Lösung folgen. "Gelingt es dem professionell Beteiligten spätestens an dieser Stelle nicht, über Selbstreflexion und Metakommunikation sich dem Reinszenierungsdruck seines Klienten durch Bewusstwerdung zu entziehen, indem er die Zuschreibung seines Klienten als Übertragungsreaktion und seine Reaktion als i.S. des Wiederholungszwangs angemessene Antwort zu verstehen sucht, scheitert die pädagogische Beziehung - zumindest in diesem Bereich - zwangsläufig" (ebd., S. 176).

Projektion und projektive Identifikation

Bei der projektiven Identifizierung "handelt es sich hier ebenfalls nicht nur um einen bloß intrapsychisches Geschehen wie bei der 'einfachen' Projektion, in der der andere durch die projektive Überlagerung abgewehrter Selbstanteile gleichsam nur verzerrt wahrgenommen wird. Im Gegensatz zur Übertragungsidentifizierung werden hier jedoch nicht die Objekt-, sondern die Selbstanteile der ursprünglich traumatischen Situation (einschließlich der Abwehrbewegungen) beim Pädagogen mobilisiert" (Trescher 1993, S. 176).

Die projektive Identifikation ist somit auch ein Prozess, der sich immer in einer realen Interaktion entfaltet, im pädagogischen Bezug zwischen Kind/ern und Pädagoge/in. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn ein Kind " versucht, der drohenden traumatisierenden Situation dadurch zu entgehen, dass er den Pädagogen in die Rolle des traumatisierten Kindes zu drängen versucht" (ebd.).

Somit handelt es sich bei der projektiven Identifikation um einen Rollentausch, den "häufig sogenannte hochaggressiv Kinder inszenieren [d.Verf.], wenn sie andere hemmungslos schlagen und die Pädagogen in einen scheinbar ohnmächtigen, hilfslosen Zustand versetzen, weil sie scheinbar nicht zu 'bändigen' sind" (vgl. Ahrbeck 1992, zit. n. Trescher 1993, S. 176). So lässt sich der Interaktionsverlauf als Rache verstehen. Es muss aber gesehen werden, dass es sich um einen Versuch psychischen Überlebens und Entlastens handelt, indem die traumatische Erfahrung bei anderen Wirklichkeit wird, dass er/sie sie stellvertretend erleben und beim Kind oder Klienten es als solche nicht erfahren wird (vgl. Trescher 1993, S. 176 ff.).

An dieser Stelle stellt sich wieder die Frage nach dem professionellen pädagogischen Handeln in solch konflikthaften Situationen. Entscheidend für die Lösung und Durchbrechung solcher Beziehungsverläufe ist die Reaktion des/der Pädagogen/in. Der Pädagoge, der dabei selbst in den Zustand von Ohnmacht, Wut, Selbstzweifel usw. kommen kann, hat die Möglichkeit, diese Empfindungen abzuwehren, z.B. in Form von verstärkter Zuwendung, depressiver Rückzug usw. (vgl. ebd., S. 178).

"Das Kind hofft aber gleichzeitig, einen Interaktionspartner zu finden (und dies wäre eine Aufgabe professioneller Pädagogik), der sich aus der traumatischen Situation befreien kann, der den fatalen Teufelskreis durchbrechen und das Trauma stellvertretend bearbeiten kann. Im Sinne eines professionellen Umgangs müsste der Pädagoge seine Gegenübertragungsreaktion, seine emotionale Verstrickung reflektieren, die in ihm mobilisierten Gefühle und Phantasien zunächst einmal ertragen ('Containing-Funktion'), eigene unbewusste Anteile von denen des Kindes zu unterscheiden suchen (hier wäre z.B. Supervision hilfreich), um dann einen geeigneten, professionellen Umgang damit zu finden. ... Er wird so vielleicht verstehen, dass sein Bemühen nur z.T. diesem Kind gilt, zum anderen Teil aber seiner eigenen narzisstischen Befriedigung. Hieraus kann eine realistische Wahrnehmung des Kindes resultieren und eine Anerkennung der eigenen Grenzen. ... Es dient ihm als Modell, mit dem es sich identifizieren und das es strukturbildend verinnerlichen kann" (ebd.).

Die Abstinenz

Eine nicht wegzudenkende Basis zur professionellen Umsetzung der Psychoanalytischen Psychotherapie und Pädagogik ist die "Abstinenz". Mit seinem Diktum, dass die "Kur in der Abstinenz" vollzogen werden soll, wollte Freud sicherstellen, "dass Patienten vor Missbrauch geschützt werden" (Trescher 1993, S. 181). Der Missbrauch in der Psychotherapie oder Pädagogik kann bei Klienten oder Kindern schwere Reinszenierungen traumatischer Erlebnisse verursachen, was sowohl aus psychoanalytischer und pädagogischer als auch aus ethischer Sicht unvereinbar ist, "weil sich damit die parteiliche Haltung für den Pädagogen wandelt - unter Außerkraftsetzung der Beachtung der Rechte und der Interessen des Klienten" (ebd.).

Das Gebot der Abstinenz soll und kann so auch, in unserem Fall den/die Pädagogen/in, vor Verstrickungen in Konflikte im Rahmen von Übertragung und Gegenübertragungsprozessen schützen. Außerdem soll sichergestellt werden, "dass er nicht in reale, d.h. unbearbeitbare Abhängigkeit gerät, die seine Arbeit, seine Fähigkeit zur Reflexion und Selbstreflexion zunichte machen würden" (ebd.).

Diese Basis psychoanalytischen Handelns stellt große Anforderungen an den/die Pädagogen/in und verlangt nach ständiger "(Selbst-) Reflexion und Metakommunikation, die [d. Verf.] immer wieder neu erarbeitet werden muss. Sie darf ihrerseits nicht missbräuchlich gehandhabt werden im Sinne affektiver Kälte, oder in den Dienst unangemessener strenger Überich-Anforderungen gestellt werden" (ebd.).

Übertragung und Gegenübertragung, Projektion und projektive Identifikation sind sowohl in der Psychoanalytischen Psychotherapie als auch in der Psychoanalytischen Pädagogik ganz entscheidende und nicht wegzudenkende Instrumente methodischen und diagnostischen Handelns. Insofern stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie zwischen den methodischen und diagnostischen Instrumenten psychoanalytischen Handelns auf der einen Seite und dem Gebot der Abstinenz auf der anderen Seite ein Weg professionellen Handelns aussehen sollte. "Denn natürlich müssen Verführungen, Rollenzuschreibungen etc. auch zugelassen werden, nicht nur damit sie wahrgenommen werden können, sondern darüber hinaus, dass sie in der aktuellen Beziehung be- und verarbeitet werden können (vgl. Körner 1992). Allerdings muss die Grenze zum Agieren der eigenen Übertragungsneigung und der Gegenübertragungsverstrickung jeweils da gezogen werden, wo die Klienten schaden nehmen könnten und/oder die Arbeitsfähigkeit des Pädagogen nicht mehr gewährleistet ist" (ebd., S. 181 f.).

Aufgrund dessen lässt sich feststellen, dass die Abstinenzregel eine Maßstab des Interaktionsverlaufs darstellt und auch als eine prinzipielle Grundhaltung pädagogischen Handelns anzusehen ist. "Weil aber die so verstandene Abstinenz nicht völlig einzulösen ist, bedarf es des professionellen Misstrauens gegenüber den eigenen Empfindungen, Wertungen und Einschätzungen, also der Selbstreflexion. In diesem Sinne ist die psychoanalytische Pädagogik grundsätzlich eine sich selbst gegenüber misstrauische" (ebd., S. 182 f.).

Resümee

Einer der großen Vorteile Psychoanalytischer Pädagogik im Vergleich zu anderen Konzepten der Arbeit in Kindertageseinrichtungen liegt darin, dass sie entwicklungspsychologisch sehr fundiert ist. Somit herrscht in der Psychoanalyse bzw. in der Psychoanalytischen Pädagogik in der Regel auch ein klares Bild vom Kind und seinen entwicklungsbedingten Bedürfnisse und Fragestellungen. Entwicklungspsychologische Ansätze bieten sich hier mehrfach, z.B. im Rahmen der psychosexuellen Entwicklung, der psychosozialen Entwicklung oder neuerer Perspektiven, die insbesondere bei Martin Dornes diskutiert werden, an. So kann mit fundiertem Hintergrundwissen auf verschiedene Entwicklungsbedürfnisse eingegangen und reagiert werden, so dass diese zur Grundlage pädagogischen Handelns werden. In vielen Konzepten zur Arbeit in Kindertageseinrichtungen ist genau dies, nämlich die entwicklungspsychologische Fundierung, eine große Lücke, wie z.B. auch im Situationsansatz, nach dem rein formell der Großteil aller Kitas in Deutschland arbeitet.

Eine weitere Stärke der Psychoanalytischen Pädagogik liegt darin, dass Kinder immer vor dem Hintergrund ihres sozialen, gesellschaftlichen und institutionellen Kontexts gesehen werden. Diese Komponente ist bei der Psychoanalytischen Pädagogik immer miteinbezogen, um vorschnelle familialistische, infantilistische oder pädagogische Verkürzungen zu vermeiden. Bildung, Bedürfnis und Gesundheit des Kindes werden immer in diesem Zusammenhang gesehen, womit auch aktuelle Tendenzen zur bloßen "Verhaltenssteuerung" antizipiert werden können, was auch als eine Folge aktueller ökonomischer Entwicklungen bezeichnet werden kann.

Zunehmende Ökonomisierungstendenzen und die Umsetzung betriebswirtschaftlicher Modelle "Neuer Steuerungen", woraus sich z.B. Erwartungen wie Qualitätsmanagement an Kitas ergeben, setzen diese zusätzlich unter Druck, ohne die ohnehin schon vorherrschende unzureichende und mangelhafte materielle und personelle Ausstattung vieler Kitas zu beachten.

Realistisch betrachtet unterliegen diesem ökonomischen und politischen Zwang auch Kindertagesstätten, die nach der Konzeption der Psychoanalytischen Pädagogik arbeiten, jedoch ergibt sich im Rahmen der "Optimalstrukturierung" die Möglichkeit, diese Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren, in Bezug auf ihre Auswirkungen in der pädagogischen Arbeit. Weiter bietet sich dann zumindest die Möglichkeit an, den Versuch zu unternehmen, Räume zu schaffen, um sich ein Stück weit von dem fast schon ideologisch wirkenden Druck, welcher negative Auswirkungen auf das konkrete pädagogischen Geschehen hat, zu emanzipieren.

Jedoch ist der Begriff der "Bildung" in der Psychoanalytischen Pädagogik kaum institutionalisiert und wurde bisher auch kaum diskutiert3. "Sieht man die psychoanalytisch-pädagogische Literatur durch, so fällt zum anderen auf, dass man kaum Beiträge findet, in denen die Frage nach dem Begriff von Bildung oder gar die Frage nach einem etwaigen psychoanalytisch-pädagogischen Bildungsbegriff ausdrücklich gestellt wird" (Datler 1993, S. 109).

Da die Psychoanalytischen Pädagogik somit eine inhaltlich wichtige Komponente nicht ausreichend erfüllt und diesbezüglich eine Lücke aufweist, bedarf es hier dem Anschluss an Konzepte zur Arbeit in Kindertageseinrichtungen, die diese Lücke füllen. Hier bietet sich insbesondere der Situationsansatz an, dessen entwicklungspsychologische Lücken im Gegenzug die Psychoanalytische Pädagogik schließen könnte4. Allerdings schafft die Psychoanalyse eine Basis zur gelingenden Bildung im Sinne empathischer und dialogischer Bildungsprozesse.

Nach Adorno können Bildung und eine Erziehung zur Mündigkeit nur gelingen, wenn "die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist" (Adorno 1971, S. 145). Indem die Psychoanalytische Pädagogik darauf hinarbeitet, unbewusste, nicht verarbeitete und verdrängte Konflikte und Traumen, die aus verschiedenen konflikthaften und angstbesetzten Beziehungen sowie traumatisierenden institutionellen und sozialen Zusammenhängen resultieren, bewusst zu machen und diese konstruktiv zu leiten, kann hier durch wichtige Selbstexplorationswerte eine Fähigkeit im Sinne Adornos Erziehung zum Widerspruch und Widerstand gegen beschädigende Lebensumstände und Situationen entstehen.

Die Selbsterfahrung bzw. Selbstexploration spielt in Adornos Vorstellungen zur gesunden und mündigen Erziehung und Bildung eine fundamental wichtige Rolle: "Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als eine Gesellschaft von Mündigen vorstellen. ... Die Herstellung von Erfahrungsfähigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewusstmachen und damit im Abbau dieser Verdrängungsmechanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungsfähigkeit verkrüppeln. ... Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit, so, wie wir versucht haben es auszuführen, miteinander identisch" (Adorno 1971, S. 107 ff.). Aufgrund dessen muss man sagen, dass die Psychoanalytische Pädagogik inhaltlich wichtige Beiträge zum Abbau von Verdrängung und somit zur Erziehung zur Müdigkeit liefert, welche nach Adorno eine Demokratie verlangt, wenn sie ihrem Begriff gemäß arbeiten soll.

Die Psychoanalytische Pädagogik fördert aber auch die Resilienzfähigkeit von Kindern und die Prävention vor beschädigenden Lebensumständen, indem sie zur Erziehung zum Widerspruch und Widerstand gegen beschädigende Lebensumstände befähigt.

Genannt werden muss hier auch, dass die Psychoanalytische Pädagogik die Aufarbeitung einer beschädigend wirkenden Vergangenheit leisten kann, worauf neue produktive, gesunde Bildung aufbauen kann. Die Bewusstmachung und Aufarbeitung beschädigend wirkender Vergangenheit spielt für Adorno sowohl in gelingender, gesunder, empathischer und dialogischer Bildung und Erziehung eine fundamental nicht wegzudenkende Rolle als auch in der Konstellation einer Demokratie gerecht werdenden Gesellschaft: "Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen ward sein Bann bis heute nicht gebrochen" (Adorno 1971, S. 28).

Anmerkungen

1Zur expliziten Erörterung der Begrifflichkeit des "Sozialen Ortes" für die Psychoanalytische Pädagogik siehe Müller, Burkhard: Gesellschaft und soziale Bedingungen: Die Bedeutung des "sozialen Ortes" für die Psychoanalytische Pädagogik. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993

2Zur ausführlichen Darstellung der Gruppenanalyse, ihrer verschiedenen Schulen und Entwicklungen siehe Finger-Trescher, Urte: Grundlage der Arbeit mit Gruppen - Methodisches Arbeiten im Netzwerk der Gruppe, S. 205-236. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik, Mainz 1993. Als Begründer der Gruppenanalyse gilt Foulkes, dessen Konzept auch bis heute den größten Raum in der analytischen Gruppenforschung einnimmt.

3Zum Begriff von Bildung in der Psychoanalytische Pädagogik siehe Datler, Wilfried: Zur Frage nach dem Bildungsbegriff (in) der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 100-130.

4Zur Psychoanalytischen Pädagogik im Situationsansatz siehe Naumann, Thilo: Prävention in der Kindertageseinrichtung. Psychosozial 111/2008

Literatur

Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1971

Datler, Wilfried: Zur Frage nach dem Bildungsbegriff (in) der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 100-129

Finger-Trescher, Urte: Grundlagen der Arbeit mit Gruppen - Methodisches Arbeiten im Netzwerk der Gruppen. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 205-236

Lorenzer, Alfred: Mitten in der Auseinandersetzung. In: Materialien aus dem Sigmund-Freud-Institut Frankfurt, No. 2, Sozialforschung und Psychoanalyse als repolitisierende Praxis. Klaus Horn zum Gedenken. Hg.: H.-J. Busch u. H. Deserno. Frankfurt am Main 1986

Müller, Burkhard: Gesellschaftliche und soziale Bedingungen: die Bedeutung des "sozialen Ortes" für die psychoanalytische Pädagogik. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg, Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 130-147

Naumann, Thilo: Prävention in der Kindertageseinrichtung. Psychosozial 111/2008

Statistisches Bundesamt: Datenreport 2006

Trescher, Hans-Georg: Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario/Trescher, Hans-Georg: Grundlagen Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 167-204

Autor

Philipp Berg
Hochschule Darmstadt
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
Studiengang: BA Soziale Arbeit
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