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Zitiervorschlag

Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen von Kindern in der Kita[1]

Catrin Heite, Franziska Schlattmeier

 

 

Einführung

Der Kitaalltag besteht aus vielen unterschiedlichen und sehr komplexen Situationen. Darin sind sowohl Fachkräfte als auch Kinder beteiligt. Mit der Perspektive auf die Handlungsfähigkeit und das Handlungsvermögen von Kindern wird zunächst einmal die Frage aufgeworfen, was genau unter «Kindern» zu verstehen ist. Das Konzept Kinder als Akteure, welches die aktuelle sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung (vgl. z.B. Bamler et al. 2010; Heinzel et al. 2012; Heite/Magyar-Haas 2023) sowie zahlreiche professionelle Handlungsfelder prägt, richtet den Fokus auf Fragen wie: Was tun die Kinder und Fachkräfte in den Situationen genau? Was zeigt sich in der Situation? Was lässt sich über das Handeln von Kindern und Fachkräften aussagen?

Doch was ist mit dem Konzept «Kinder als Akteure» konkret gemeint?

Kinder werden in zahlreichen Forschungen und im pädagogischen Alltag häufig als Entwicklungswesen – als unvollständig, noch nicht autonom handlungsfähig – gesehen und adressiert. Wenn sie zum Beispiel aus einer Bildungsperspektive angesprochen werden, dann sollen sie etwas lernen, um sich weiterzuentwickeln und einen weiteren Schritt Richtung Erwachsene zu gehen. Fachkräfte in der Kita sind dazu aufgefordert, wie es zum Beispiel im Orientierungsrahmen in der Schweiz steht, Bildungsprozesse anzuregen und Lernumgebungen zu gestalten (vgl. Wustmann Seiler/Simoni 2016). Sie erhalten damit den Auftrag, Kinder als Entwicklungswesen zu adressieren.

Im Gegensatz zu dieser Perspektive auf Kinder als Entwicklungswesen bedeutet das Konzept «Kinder als Akteure» jedoch etwas anderes: Sie werden als handlungsfähige Akteure angeschaut, die im Hier und Jetzt leben (vgl. Korczak 1967/1919) und ihren Alltag in diesem Hier und Jetzt durchaus ohne Zukunftsbezug gestalten. Sie sind Zeitgenossen (vgl. Hengst 2005) und eine eigene Sozialgruppe mit Gegenwartsbezug. Als solche gestalten und bestimmen sie auch ihren Kitaalltag mit. Kinder erlangen durch ihr Tun, durch ihr Kinderleben und ihre kindlichen Aktivitäten Bedeutung und werden darin ernst genommen. Kindheit wird in sozialer Praxis hergestellt und gemacht, auch von den Kindern selbst (vgl. z.B. Bühler-Niederberger 2020; James/Prout 1990; Kelle 2009).

Der Fokus der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung liegt im dargestellten Sinne nicht auf den körperlichen und psychischen Zuständen oder den Reifungs- und Wachstumsprozessen der Kinder, sondern die Aufmerksamkeit gilt dem, was die Kinder in den jeweiligen Situationen tun und wie sie damit die Situationen mitherstellen, gestalten oder umnutzen. Kinder sind so also handlungsfähige Akteure. In dieser Perspektive wird es interessant zu untersuchen, was die Kinder genau in den Kita-Situationen tun.

Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen von Kindern

Dieses Tun lässt sich mit den Begriffen Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen genauer beschreiben. Unter Handlungsfähigkeit lässt sich das verstehen, was die Kinder tun können. Also zu was sind sie – alters- und entwicklungsbedingt – fähig?

Mit dem Begriff des Handlungsvermögens steht nicht nur das Kind als Individuum im Fokus, also nicht seine altersgemässen Eigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen. Sondern es geht um den Kontext, in dem das Kind positioniert ist: Wie ist eine Situation strukturiert? Ist es darin möglich oder nicht möglich, dass das Kind etwas tut (das es im Sinne von Handlungsfähigkeit könnte)? Mit dieser Fragerichtung wird der Blick auf die gesamte Situation gerichtet: Welche Personen sind beteiligt? In welchem Raum spielt die Situation? Welche Dinge spielen eine Rolle? (vgl. z. B. Betz/Eßer 2016; Menzel 2021; Schlattmeier 2021; Schlattmeier 2022).

Beobachtungsbeispiel

An dem folgenden Beobachtungsbeispiel (direkt zitiert aus Menzel 2021, S. 103) lässt sich die Unterscheidung zwischen Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen verdeutlichen.

Nicole (5 Jahre) und ihre Mutter haben die Vorschulkinder, die zu einem Ausflug auf ein Erdbeerfeld aufgebrochen sind, an diesem Morgen verpasst. Nicoles Mutter ist wütend darüber, denn sie hätte von dem Ausflug nichts gewusst und beschwert sich nun bei der anwesenden Fachkraft. Nicole und ihre Mutter stehen dabei im Türrahmen, während die Fachkraft direkt bei ihnen im Gruppenraum steht. Die Fachkraft weist die Mutter sehr leise sprechend darauf hin, dass sie dies mit den Gruppenerzieherinnen Katharina und Sandra besprechen müsse. Die Fachkraft wendet sich dann an Nicole und fragt: „Nicole, hat dir Katharina nichts gesagt?“ Nicole sieht sie erst an und dann weg, ohne eine Antwort zu geben. Die Mutter antwortet nun, dass Nicole schon etwas von Erdbeeren erzählt habe, aber nicht wusste, wann der Ausflug wäre. Dann erklärt sie, dass sie die ganze Woche Spätdienst gehabt habe und sagt zu der Fachkraft, dass es blöd sei, weil sich Nicole schon darauf gefreut habe. Sie fragt, was sie nun machen können. Die Fachkraft sagt, dass Nicole gerne bleiben könne und fragt nun Nicole: „Möchtest du hier bleiben?“. Nicole nickt leicht.

Die Handlungsfähigkeit wäre hier darin zu suchen, ob Nicole grundsätzlich in der Lage ist, die Frage der Fachkraft kognitiv zu verstehen und diese dementsprechend zu beantworten. Aufgrund ihres Alters und da im Feldaufenthalt keine Beeinträchtigungen aufgefallen sind, ist davon auszugehen, dass sie dazu in der Lage ist und somit Handlungsfähigkeit gegeben ist. Hinsichtlich des Handlungsvermögens ist es demgegenüber nicht die Frage nach den Kompetenzen des individuellen Kindes, hier Nicole, und die Frage, was sie kann und (noch) nicht kann. Stattdessen steht die gesamte Situation im Fokus hinsichtlich der Frage, ob es dem Kind in dieser Situation möglich ist, aktiv zu werden: In der oben dargestellten Beobachtungssequenz gerät Nicole in eine Auseinandersetzung zwischen zwei Erwachsenen.

Im Verlaufe dieser Auseinandersetzung zwischen der Fachkraft und Nicoles Mutter wird zunächst über Nicole gesprochen. Daraufhin wird sie direkt angesprochen mit der Frage, ob sie von dem Ausflug gewusst habe. Implizit wird damit angesprochen, dass Nicole «Schuld» ist an der Situation oder sie doch eine gewisse Mitverantwortung an dem Missverständnis trage. Im Anschluss daran ist zu sehen, dass Nicole sich einer Antwort entziehen möchte, indem sie wegschaut. Hier kann man überlegen: Wie hätte sie sonst handeln können? Inwieweit handelt sie als «Kind» zwischen Erwachsenen? Wie könnte die Situation anders gestaltet werden, dass Nicole vielleicht weniger in Bedrängnis gerät? Zugleich wird Nicole im weiteren Verlaufe gefragt, ob sie an dem Ausflug teilnehmen möchte und damit wird ihr von der Fachkraft ein Handlungs- und Entscheidungsraum zugestanden, der nicht von den Erwachsenen geschlossen wird.

Beobachtungsbeispiele: Handlungsvermögen von Kindern erkennen

Die Konzepte (also Kinder als Akteure, Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen) werden im Folgenden nun weiter durch Beispiele[2] veranschaulicht. Dabei wird den zu Beginn dieses Artikels genannten Fragen nachgegangen: Was tun die Kinder und Fachkräfte in den Situationen genau? Was zeigt sich in der Situation? Was lässt sich über das Handeln von Kindern und Fachkräften aussagen?

 

Beispiel 1: Wie entziehen sich Kinder in Situationen in der Kita?

Die hier folgende Beobachtungssequenz (vgl. Schlattmeier im Erscheinen) findet in einem Singkreis im Garten statt. Im Singkreis würfeln die Kinder mit einem Farbwürfel und je nach gewürfelter Farbe ziehen sie von dem jeweiligen Farbstapel eine Singkarte, woraufhin alle gemeinsam das gezogene Lied singen. In der Regel gibt es noch einen „Kartenchef“: Dieses Kind darf die Karten nach dem Singen wieder in die Schatztruhe verstauen. Die beiden Kinder Ella und Daniel besprechen, wer von ihnen beiden der „Kartenchef“ sein soll. Ellas Redefluss zu Daniel wird von dem Zivildienstleistenden Tom, der den Singkreis leitet, unterbrochen, indem er darauf hinweist, alle anderen Kinder würden warten, dass Ella und Daniel endlich zu einem Ergebnis kommen und sie können es ja erstmal so ausprobieren, wie Daniel vorgeschlagen habe. Der Singkreis geht daraufhin unter der Leitung von Tom weiter, es wird gewürfelt, Lieder werden gesungen und die Karten in die Box verstaut.

Ich sehe im rechten Augenwinkel, dass Ella rückwärts aus dem Kreis rutscht. Sie hat die Arme vor ihrem Bauch verschränkt bzw. den rechten Arm, der linke ist noch immer in der Schlinge. (Er ist gebrochen.) Sie bleibt ein paar Meter entfernt sitzen und schaut auf ihre Füsse. Dann fängt sie an, an ihrem Zeh zu knibbeln. Ich schaue Tom und Natascha an, aber diese reagieren nicht auf Ellas Wegrutschen. Der Singkreis geht weiter. (…) Ella schaut nun ihre Beine entlang und dann an ihren Armen. Als die Karte mit dem Pflaumenvers dem Kartenchef übergeben werden soll, sagt Tom: „Ella, willst du mit uns in den Kreis kommen? Du bist so da draussen. Bist du der Bodyguard, der schaut, dass keiner reinkommt?“ Ella schaut weiterhin auf den Boden und macht auf mich den Eindruck, als würde sie schmollen, da sie die Mundwinkel nach unten zieht und die Lippen aufeinanderdrückt. Tom: „Ok, du bist jederzeit willkommen, du darfst jederzeit kommen, musst aber nicht.“ Natascha beugt sich nach vorne und fragt Ella, ob sie etwas verpasst haben. Ella murmelt etwas, was ich nicht verstehe. Natascha: „Wie?“ Ella: „Sag ich nicht.“ Während der Singkreis weitergeht, steht Ella auf und setzt sich auf eine Holzplanke, die schräg ans Klettergerüst gelehnt ist. (…) Sie steht auf und geht hinter mir her. Sie setzt sich links von mir in einem ungefähren zwei Meter Abstand hin, hebt ihren Blick und steht wieder auf. Sie geht unter das Sonnensegel, welches noch weiter links aufgespannt ist und setzt sich noch weiter entfernt auf den Boden. Während im Kreis ein weiteres Lied gesungen wird, zupft Ella mit ihrer rechten Hand am Gras und schaut immer wieder hinüber zum Kreis. Sie hat eine Schirmmütze auf und schielt darunter durch, dass ich kaum ihre Augen sehen kann. Ihr Kopf ist weiterhin gesenkt.

In dieser Beobachtungssequenz ist sehr gut zu sehen, wie Ella sich der Singkreissituation entziehen will. Dieses Entziehen beginnt sie, indem sie zunächst langsam nach rückwärts rutscht. Von ihrer Körperhaltung her bleibt sie in der Rückwärtsbewegung jedoch dem Kreis und so der Gruppe zugewandt und hält so die Verbindung zur Gruppe aufrecht. Dennoch signalisieren die vor dem Körper verschränkten Arme eine tendenzielle Abweisung und ihre Aufmerksamkeit geht entlang ihrer Blickrichtung nicht zur Gruppe, sondern auf sich selbst, indem sie auf ihre Füsse schaut, dort am Zeh knibbelt und sie ihren Beinen und Armen entlangschaut. Ella geht aus dem Blickkontakt mit den anderen Gruppenmitgliedern und vergrössert die räumliche Distanz durch wiederholtes Aufstehen und wieder Hinsetzen stetig.

Mit den nonverbalen Ausdrucksformen wie verschränkten Armen, nach unten gezogenen Mundwinkeln, Abwenden des Blickes und die Herstellung räumlicher Distanz entzieht sich Ella der Situation. Gleichzeitig macht sie durch dieses Sich-Entziehen deutlich auf sich aufmerksam. Es liegt die Vermutung nahe, dass Ella unzufrieden ist mit der Situation und sie sich daher entziehen möchte. Je weiter sie sich räumlich entfernt, desto mehr nimmt sie Blickkontakt auf, schaut aus der hergestellten Distanz immer wieder hinüber zum Kreis. Möchte Ella dadurch die Aufmerksamkeit der anderen erlangen? Möchte sie, dass jemand ihre Unzufriedenheit bemerkt und nachfragt, was bei ihr los ist? Diese Fragen drängen sich auf, da Ella in ihrem Sich-Entziehen ihre Mütze nutzt, um sich vor den Blicken der anderen Personen zu schützen, wobei sie dabei gleichzeitig unbemerkt die Gruppe beobachten kann (für vertieftere und weitere Analysen siehe Schlattmeier im Erscheinen). 

Dies ist ein typisches Beispiel, wie Kinder sich in der Kita aktiv entziehen und es lässt sich überlegen, welche weiteren Situationen im Kitaalltag auftauchen und wie daran die Handlungsfähigkeit und das Handlungsvermögen der Kinder analysiert werden kann.

 

Beispiel 2: Was kann Schweigen von Kindern bedeuten?

Die nächste Situation (vgl. Schlattmeier 2022, S. 327-328) spielt sehr früh am Morgen in der Kita, als es Frühstück gibt.

Florine, die Fachkraft sagt zu Bianca: «Bist du noch müde? Jetzt gibt’s Frühstück. Habt ihr Hunger?» Bianca nickt leicht und geht aus dem Zimmer hinüber ins Esszimmer. Sie trägt ihren Bären auf dem Arm. Ich folge ihnen. Florine knipst die Deckenbeleuchtung an. Es wird sehr hell, aber es ist ein gemütliches Licht. Auf einem Tisch, der an der Fensterfront steht, steht ein Tablett mit einer Dose mit Cornflakes, ein Marmeladenglas, eine Milchpackung und ein Brotlaib. Die Trinkflaschen der Kinder, welche Florine vorher mit Wasser gefüllt hat, stehen auf dem vorderen Tisch, links. Florine fragt: «Wollen wir mal an den Tisch gehen?» Bianca nickt und setzt sich an den hinteren Tisch auf die Bank ans Fenster. Sie legt ihren Bären neben sich auf die Bank. Sie wirkt auf mich sehr ruhig. Sie sitzt da und schaut in den Raum. Florine geht in die Küche.

Ich sitze am anderen Ende der Bank, da ich mich dort gut hinsetzen kann und ich alles im Raum überblicke. Ich schaue Bianca von der Seite an und frage: «Hast du gut geschlafen?» Bianca nickt, schaut mich aber nicht an. Ich frage: «Bist du noch müde?» Sie nickt wieder. Florine kommt wieder ins Zimmer und steht vor dem Tisch und schaut Bianca an: «Was möchtest du gerne essen?» Bianca leise: «Brot.» Florine: «Brot?» Tülay, eine andere Fachkraft, kommt ins Zimmer: «Guten Morgen, Bianca. Geht‘s gut?» Bianca nickt. Florine stellt einen Teller vor Bianca: «Was möchtest du gerne aufs Brot?» Bianca: «Honig.» Florine: «Mit Honig. Dann hast du hier noch ein Messer.» Sie gibt Bianca ein kleines Messer über den Tisch. Bianca nimmt es entgegen. Florine: «Streich mal selber.» Bianca bestreicht ihre Brotscheibe mit Butter. Bianca redet nicht, während sie ihr Frühstück isst, sie bewegt sich nicht viel und schaut vor allem vor ihr auf die Tischplatte.

Hier im Beispiel reagiert Bianca auf die zahlreichen Fragen einsilbig und mit leiser Stimme, mit nonverbalen Reaktionen (Kopfschütteln, Kopfnicken) oder mit einem Sich-physisch-Entziehen (schaut weg). Was könnte das bedeuten? Vielleicht möchte Bianca nicht auffallen, sie fühlt sich nicht wohl, sie kann müde sein oder sie möchte in Ruhe essen. Schweigen kann unterschiedlichste Bedeutungen sowie Ursachen und Gründe haben (für eine vertieftere Analyse siehe Schlattmeier 2022, S. 327-329). Diese herauszufinden und pädagogisch angemessen zu deuten, kann sehr herausfordernd sein. In dem Moment nachzufragen, was das Kind gerade für Bedürfnisse und Wünsche hat, kann eine Möglichkeit sein. Wenn das Kind jedoch weiter schweigt, braucht es die genaue Beobachtungsgabe und professionelle Deutungskompetenz der Fachkräfte. Und im Rahmen pädagogischer Professionalität sind hier auch Geduld und Akzeptanz gefragt, dass das Kind in diesem Moment nicht sprechen möchte.   

 

Beispiel 3: Wie sind Kinder widerständig?

Ich komme mitten in der Mittagspause in die Kita. Ich gehe in das Gruppenzimmer. Dort liegt Mael auf der Bank auf der rechten Seite von mir, neben ihm sein Teddybär, und hat einen Nuggi im Mund. Seine Augen sind geschlossen. Ruth, die Fachkraft, ist anscheinend dabei, ihn aufzuwecken. Sie geht zu ihm und spricht ihn an. Dann rüttelt sie ihn leicht an der Schulter und setzt sich neben ihn. Mael zeigt keine Reaktion und hat weiterhin seine Augen geschlossen. Ruth sagt: «Komm mal auf meinen Schoß. Du musst langsam aufwachen, sonst bist du den ganzen Nachmittag müde.» Sie nimmt Mael an den Armen hoch und setzt ihn auf ihren Schoss. Mael hängt schlaff runter und hält weiterhin die Augen geschlossen. Ruth versucht nun, Mael zum Trinken zu bewegen, indem sie ihm seine Trinkflasche vor den Mund hält und sagt: «Nimm mal einen Schluck.» Mael reagiert darauf nicht.

Mael sackt immer wieder zusammen und scheint weiterhin zu schlafen. Ruth sagt: «Guten Morgen. Guten Mittag.» Sie lacht und stupst ihn mit den Fingern an die Arme: «Gehen wir später raus, spielen? Bist du dabei?» Ruth stupst weiter und sagt: «Hallo.» Mael zeigt keine Reaktion. Mael reibt sich die Augen. Ruth sagt: «Werden wir wach? Juhu.»

Mael steigt von Ruths Schoss, die Augen noch fast zu und legt sich neben sie auf die Bank. Ruth: «Nein, nein, nein, komm wieder zu mir.» Ruth beugt sich zu Mael runter, setzt sich neben ihn und will ihn wieder auf den Arm nehmen. Mael wehrt sich, indem er Ruth mit den Armen wegstösst und seinen Körper steif macht. Ruth steht mit ihm auf dem Arm auf. Nun tritt Mael sie mit beiden Beinen. Ruth legt Mael wieder zurück auf die Bank und kniet sich vor ihn: «Hör mal zu. Schau, wenn du jetzt wieder schläfst, dann schläfst du am Abend nicht.»

Diese Situation (vgl. Schlattmeier 2021, S. 231ff)  kann so gelesen werden, dass der Junge Mael, der schläft, nicht aufwachen möchte. Die Fachkraft versucht, ihn zu wecken und gibt Gründe an, warum sie das tut. Es lässt sich z. B. vermuten, dass sie den Auftrag der Eltern bekommen hat, Mael nach einer bestimmten Zeit zu wecken, damit er dann abends müde wird. An diesem Beispiel zeigt Mael unterschiedliche Widerstandsweisen. Zum einen sind es passive Widerstandsweisen. Das wären Verhaltensweisen wie die Augen geschlossen zu halten, den Körper schlaff herunterhängen zu lassen oder keine Reaktion auf die Trinkaufforderung zu zeigen. Zum anderen folgen dann später eher aktive Widerstandsweisen, wie zum Beispiel die Fachkraft mit den Armen wegzustossen, den Körper steif zu machen, zu treten etc. Mael zeigt hier also in klaren Eskalationsstufen eine deutliche Widerständigkeit gegen die Aufweckbemühungen der Fachkraft (mehr dazu siehe Schlattmeier 2021).

Anhand dieser Beispielsituationen und dem Konzept Kinder als Akteure ist weiter zu überlegen, wie Kinder in der Kita in ihrem Handlungsvermögen gestärkt werden können und welche Herausforderungen dabei im Kitaalltag bestehen, wie zum Beispiel jedem Kind gerecht zu werden.

Folgerungen für den Kitaalltag

Anhand der oben dargestellten Situationen konnte aufgezeigt werden, wie sich Handlungsfähigkeit und Handlungsvermögen von Kindern in der Kita zeigt. Was kann daraus für den Kitaalltag folgen? Was bedeutet es für die tägliche Praxis der Fachkräfte? Wie können Kinder in ihrem Handlungsvermögen gestärkt bzw. unterstützt werden?

Diese Fragen sind bedeutsam, weil die Kita ein wichtiger Alltags- und Bildungsort ist, an dem die Kinder lernen und unterschiedliche Entwicklungsphasen durchlaufen. Trotz dieser Zukunftsperspektive auf Bildung und Entwicklung ist es wichtig, Kinder auch im Hier und Jetzt zu sehen und ihren Alltag nicht nur auf zukünftige Verwertbarkeiten von wichtigen Bildungs- und Entwicklungsschritten hin zu gestalten. Mit den Worten von Janusz Korczak: Sie haben das Recht auf den heutigen Tag.

Mit diesem Ausgangspunkt des Rechts des Kindes auf den heutigen Tag, auf den Alltag im Hier und Jetzt, können Fachkräfte die Perspektive Kinder als Akteure einnehmen und daraus folgernd verstärkt das Handlungsvermögen von Kindern fokussieren. So kommen Situationen im Gesamten und in ihrer oben dargestellten Komplexität in den Blick. Damit geht es zum einen dann nicht nur um die Kinder als Einzelne. Darüber hinaus sehen und berücksichtigen die Fachkräfte weitere relevante Aspekte der Situation wie Dinge, den Raum, weitere Personen etc. Zudem rücken damit Ausdrucksweisen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die vor allem bei Kindern in Erscheinung treten: Da sich junge Kinder in der Regel weniger verbal, sondern mehr durch körperliche Kommunikation ausdrücken, wie auch oben in den Beispielen deutlich wird, kann dann ein genaues und differenziertes Hinschauen der Fachkräfte auf die gesamte Situation helfen, Kinder in ihrem Handeln, ihren Ausdrucksweisen, ihren Wünschen und Bedürfnissen besser zu verstehen. Sie werden so sichtbarer gemacht, sie werden gestärkt und auch mehr geschützt.

Wenn Kinder auf diese Weise als Akteure und (Mit-)Gestaltende von Alltagssituationen wahrgenommen und ernst genommen werden, werden die Kinderrechte im Kitaalltag systematischer berücksichtigt. Denn die Kinderrechte werden in politischen, gesellschaftlichen, fachlichen und rechtlichen Diskursen und somit auch in der Kita immer relevanter. In der Perspektive, Kinder als handlungsfähige und handlungsmächtige Akteuere zu sehen, erscheinen sie konzeptuell als partizipationsfähige Akteure.

Kindern in der Kita Partizipationsmöglichkeiten anzubieten, entspricht Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention[3], in dem es um die Berücksichtigung des Kindeswillens geht. Der Artikel sieht vor, dass Kinder ihre Meinung in all ihren Angelegenheiten frei äussern dürfen und dass diese Meinung angemessen und entsprechend ihrem Alter Berücksichtigung finden soll. Dies impliziert etwa, dass Kinder in ihrem Kitaalltag in allen Aspekten mitbestimmen, die sie betreffen und dass die Kita und der Kinderalltag in der Kita grundlegend demokratisch zu gestalten ist.

Endnoten

[1] Die folgenden Darstellungen basieren im Wesentlichen auf der Forschung von Franziska Schlattmeier im Kontext ihrer Dissertation mit dem Titel Facetten kindlicher Agency in der Kita – ethnographische Beobachtungen (https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/234899/).

[2] Die Beobachtungen stammen aus dem ethnograpischen Forschungsprojekt „Facetten kindlicher Agency in der Kita“, welches in einer Schweizer Kita durchgeführt wurde.

[3] Artikel 12, Absatz 1: «Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.» (https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention)

Literatur

Bamler, V./ Werner, J. & Wustmann, C. (Hrsg.): Studium Elementarpädagogik. Lehrbuch Kindheitsforschung: Grundlagen, Zugänge und Methoden. Juventa, 2010.

Betz, T./Eßer, F.: Kinder als Akteure – Forschungsbezogene Implikationen des erfolgreichen Agency-Konzepts. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2016, 3, 301–314.

Bühler-Niederberger, D.: Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa, 2020.

Heinzel, F./Kränzl-Nagl, R./Mierendorff, J.: Sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung – Annäherungen an einen komplexen Forschungsbereich. Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik, 2012, 11, (1), 9–37.

Heite, C./Magyar-Haas, V.: Kindheit(en) im Blick zeitgenössicher Forschungen. Springer VS, 2023.

Hengst, H.: Kindheitsforschung, sozialer Wandel, Zeitgenossenschaft. Hengst, H./Zeiher, H. (Hrsg.): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005,
245–265.

James, A./ Prout, A. (Hrsg.): Constructing and Reconstructing Childhood. Contemporary Issues in the Sociological Study of Childhood. London: Routledge, 1990.

Kelle, H.: Kindheit. Andresen, S. et al. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 2009, 464–477.

Korczak, J.: Wie man ein Kind lieben soll (poln. Erstausgabe: Prawo dziecka do szacunku 1919). In: Sämtliche Werke, Bd. 4. Gütersloh, 1967/1919, 7–315.

Menzel, B.: Die Akteurschaft von Kindern in Tür-und Angelgesprächen. Ergebnisse einer ethnographischen Studie im frühpädagogischen Setting. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2021, 1, 95–111.

Schlattmeier, F. (im Erscheinen): Raus aus der Gruppe – wie sich Kinder in der Kindertagesstätte entziehen. In: Diskurs Kindheits-und Jugendforschung.

Schlattmeier, F.: Handlungsräume in Essenssituationen – zur Agency von Kindern in Kindertagesstätten. In: Soziale Passagen, 2022, 2, 321–338. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s12592-022-00436-2

Schlattmeier, F.: Das schlafende Kind – Handlungs(ohn)mächtigkeit von Kindern in der Kita. In: Neue Praxis, 2021, 3, 227–239.

Wustmann Seiler, C./Simoni, H.: Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz. 3. erw. Auflage. Erarbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind, erstellt im Auftrag der Schweizerischen UNESCO-Kommission und des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz. Zürich, 2016. Verfügbar unter: https://www.netzwerk-kinderbetreuung.ch/de/innovation/orientierungsrahmen/ (Zugriff: 23. Januar 2024)

Autorin

Prof. Dr. Catrin Heite ist Inhaberin des Lehrstuhls Sozialpädagogik an der Universität Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, gesellschaftlicher Transformationsprozesse und Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie Kindheitsforschung.

Dr. Franziska Schlattmeier ist Postdoktorandin am Lehrstuhl Sozialpädagogik an der Universität Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kindheit, Professionstheorie, Soziale Ungleichheit sowie Methoden qualitativer Sozialforschung.